| # taz.de -- Marina Weisband über Freiheit und AfD: „Ich habe Schiss vor Chem… | |
| > Sie war Geschäftsführerin der Piratenpartei. Vielen galt Marina Weisband | |
| > als großes politisches Talent. Nun ist sie bei den Grünen eingetreten. | |
| Bild: Will sich politisch wieder einmischen: Marina Weisband | |
| taz: Frau Weisband, Sie waren mal die [1][prominenteste Piratin | |
| Deutschlands]. Jetzt sind Sie vor zwei Wochen bei den Grünen eingetreten. | |
| Wie ist es dazu gekommen? | |
| Marina Weisband: Die Grünen sind die Partei, die mir politisch am nächsten | |
| steht. Sie haben sich jung und offen aufgestellt, sie vertreten progressive | |
| Positionen, und sie sind der Gegenpol zur AfD. Die Diskussion über das neue | |
| Grundsatzprogramm, die im Moment läuft, öffnet außerdem Raum für Visionen. | |
| Da ist was im Werden. | |
| Also wahre Liebe? | |
| Das wäre zu viel. Ich passe am besten in diese Nische aus sozial und | |
| liberal, die in Deutschland nicht wirklich besetzt ist. Die Grünen | |
| tendieren am ehesten in diese Richtung. Und ja: Ich möchte dem Aufstieg der | |
| Rechten und dem allgemeinen Irrsinn nicht tatenlos zusehen und mich wieder | |
| einmischen. | |
| Sind die Grünen auf Sie zugekommen – oder war es umgekehrt? | |
| Ich hänge einfach sehr viel mit politisch denkenden Menschen herum. Viele | |
| Piraten sind ja in andere Parteien gewechselt. | |
| Es war also ein Prozess. Man redete unter Freunden, war sich sympathisch … | |
| … und es gab einen sehr penetranten Bundesgeschäftsführer namens Michael | |
| Kellner. | |
| Ihr Eintritt ist für die Grünen ein gelungener PR-Coup. Streben Sie ein Amt | |
| oder Mandat an? | |
| Nö. Ich bin einfaches Mitglied und glücklich damit. Ich schließe das | |
| natürlich nicht prinzipiell aus. | |
| Sie sagen, Liberalismus sei Ihnen wichtig. Für wie liberal halten Sie die | |
| Grünen? | |
| Die Grünen haben keine ganz eindeutige Linie. Wenn es um die Pluralität von | |
| Lebensentwürfen geht, also um gesellschaftspolitische Liberalität, sind sie | |
| ganz weit vorn. Bei der Abwägung von Sicherheit versus Freiheit wird es | |
| ambivalenter. Da nehme ich bei manchen Grünen schon die Sehnsucht nach | |
| einem starken Sicherheitsapparat wahr. Jene ist mir eher fremd. | |
| Die Forderungen nach mehr Polizei gehören bei den Grünen doch inzwischen | |
| längst schon zum guten Ton dazu. | |
| Sagen wir es so: Mir ist ein [2][Konstantin von Notz] in digitalen und | |
| Sicherheitsfragen näher als ein [3][Winfried Kretschmann], um mich hier mal | |
| total radikal zu positionieren. Eine strikte, demokratische Kontrolle des | |
| Sicherheitsapparats ist mir sehr wichtig. Ich möchte nicht eines Tages in | |
| einem Staat leben, den die AfD regiert und der den Staatstrojaner nutzt, um | |
| seine BürgerInnen auszuspähen. | |
| Sie denken bei Gesetzen darüber nach, wie Rechtsextreme sie missbrauchen | |
| könnten? | |
| Na klar. Diese Option habe ich immer im Hinterkopf. Wir müssen uns bei | |
| allen staatlichen Mechanismen, die wir aufbauen, eines vergegenwärtigen: | |
| Was passiert, wenn sie nicht in der Hand unserer zivilisierten | |
| Bundeskanzlerin liegen – sondern in der Hand von Rechtsradikalen? | |
| Ist Liberalismus für Sie ein taugliches Fundament für Politik? | |
| Freiheit ist erst mal ein völlig leerer Begriff. Jeder, der Freiheit sagt, | |
| muss dazu sagen: Wessen Freiheit ist gemeint, Freiheit wovon und wofür? | |
| Freiheit braucht Begrenzung. Sonst überrollt die Freiheit des einen die des | |
| anderen. Ein radikal marktliberales System würde Menschen ebenso an ihrer | |
| freien Entfaltung hindern wie ein autoritäres System. | |
| Hui, das klingt jetzt fast zu kapitalismuskritisch für eine Grüne. | |
| Echt? Eine Gesellschaft, die sich vollkommen den Gesetzen des Kapitalismus | |
| fügt, gedacht mit den heutigen technischen Möglichkeiten, wäre eine | |
| dystopische und schreckliche. Davon bin ich überzeugt. Wir müssen eine gute | |
| Balance finden. Zu meiner Vorstellung einer guten Gesellschaft gehört, das | |
| Kapital zu kontrollieren, mächtige Menschen in Verantwortung zu nehmen und | |
| allen die Möglichkeit zu geben, sich frei zu entfalten. | |
| Haben die Grünen eine gute Balance gefunden? | |
| Sie führen zumindest einen Diskurs, in dessen Rahmen der für mich richtige | |
| Standpunkt zu finden ist. | |
| Das haben Sie schön gesagt. | |
| Im Ernst: Die Grünen führen sinnvolle Debatten, und sie sind gerade die | |
| Einzigen, die das tun. Ich sehe bei der SPD keine philosophische Diskussion | |
| über eine politische Ausrichtung. Es tut mir leid. Vielleicht bei jüngeren | |
| Mitgliedern, aber nicht in der Führung. Von der CDU ganz zu schweigen. | |
| Die Digitalisierung verändert unsere Gesellschaft grundlegend. Wird die | |
| Politik dieser Herausforderung gerecht? | |
| Den Eindruck habe ich nicht. Die Industriegesellschaft wandelt sich gerade | |
| in eine Informationsgesellschaft. Die Welt, wie wir sie kennen, verändert | |
| sich – Normen, Werte und Lebensmodelle. Viele Menschen fühlen sich | |
| angesichts dessen ohnmächtig, und zwar die, die zum rechten Populismus | |
| neigen, aber auch die Linksliberalen. Die einen schimpfen auf die da oben, | |
| die doch eh nur machen, was sie wollen. Die anderen spüren, dass etwas ins | |
| Rutschen gerät, und fragen sich, warum die Demokratie nicht mehr cool ist. | |
| Wenn Ohnmachtsgefühle überhand nehmen, wird es gefährlich. Die Große | |
| Koalition verwaltet diese Situation einfach nur. Das reicht nicht. | |
| Was wäre nötig? | |
| Statt Symptome zu bekämpfen, müsste sich die Politik trauen, Visionen zu | |
| formulieren. Wie soll die Welt von morgen aussehen? Die demokratischen | |
| Parteien müssen eine Antwort auf diese große Frage geben. Die AfD will | |
| Deutschland zurück in eine imaginierte Vergangenheit führen. Das ist eine | |
| schrumpelige und doofe Vision, aber immerhin ist es eine. | |
| Visionen? Das ist leicht gesagt. Wie sieht Ihre aus? | |
| Ich möchte ein Europa, das es den Menschen erlaubt, sich frei zu | |
| entwickeln. Ich möchte starke Bildungsstrukturen, die das ermöglichen. Ich | |
| möchte, dass der Gewinn, den die Automatisierung für uns erwirtschaftet, an | |
| die Menschen zurückfließt. Ich möchte eine Welt, in der keiner | |
| zurückbleibt, weil seine Arbeit wegrationalisiert wurde – und in der alle | |
| sinnhaften Tätigkeiten nachgehen können. | |
| Ist die Aussicht auf lebenslanges Lernen wirklich attraktiv? Viele Menschen | |
| wollen irgendwann auf das Erreichte stolz sein – und ihre Ruhe. | |
| Neoliberale haben immer Angst, dass Menschen zu Couchpotatoes werden, wenn | |
| man sie nicht zum Arbeiten zwingt. Ich habe ein anderes Menschenbild. | |
| Nämlich? | |
| Jeder hat bestimmte Fähigkeiten. Wer setzt sich lieber ein Leben lang aufs | |
| Sofa, statt sie zu nutzen? Ich glaube, wir stehen vor einer schwierigen | |
| Zeit. Wir brauchen jede Ressource, die wir kriegen können. Die wichtigste | |
| Ressource sind die Menschen. Keiner kennt sich besser mit den | |
| Notwendigkeiten der Pflege aus als Pflegekräfte und Gepflegte. Die Parteien | |
| sollten solche Leute nach ihren Erfahrungen fragen. Das definiert natürlich | |
| einen anderen Anspruch an Demokratie und an Bildungsinstitutionen. Das ist | |
| es, woran ich seit Jahren mit dem Bildungsprojekt „aula“ arbeite. Es gibt | |
| schon diese wundervollen, praktischen Impulse, und sie verdienen mehr | |
| Aufmerksamkeit. | |
| Sie sind Jüdin und leben Ihren Glauben. Was denken Sie, wenn Sie die | |
| rechtsextremen [4][Übergriffe in Chemnitz] sehen? | |
| Ich habe Schiss vor Chemnitz, und zwar massiv. Als Jüdin bin ich sensibler | |
| für solche Dinge. Ich sehe „weiß“ aus. Aber ich weiß, dass ich für | |
| Rassisten nicht „weiß“ genug bin. Das denke ich immer mit. | |
| Für wie gefährlich halten Sie die AfD? Manche sagen, die Partei werde mit | |
| der Zeit bürgerlicher werden. | |
| An diese These glaube ich nicht. Bisher driftet die AfD immer weiter nach | |
| rechts, sie radikalisiert sich. Als sie 2017 in den Bundestag einzog, habe | |
| ich recherchiert, ob mein Mann und meine Tochter die israelische | |
| Staatsbürgerschaft bekommen würden. | |
| Sie fühlten sich bedroht? | |
| Klar. Jetzt hetzt die AfD gegen Muslime. Aber wenn sie an der Macht und mit | |
| den Muslimen fertig wäre, dann kämen wir dran. Da mache ich mir keine | |
| Illusionen, auch wenn es nun sogar eine Gruppe „Juden in der AfD“ gibt. | |
| Es gibt die Debatte, ob man mit AfDlern oder ihren Wählern reden soll – | |
| oder ob klare Abgrenzung nötig sei. Was sagen Sie? | |
| Das ist schwierig. Ich spreche sehr ausführlich mit Familienmitgliedern | |
| oder Bekannten, von denen ich weiß, dass sie mit der AfD sympathisieren. Es | |
| ist meine bürgerliche Pflicht zu versuchen, sie von der Gefährlichkeit | |
| dieser Partei zu überzeugen. Aber ich verweigere jedes öffentliche Gespräch | |
| mit AfD-Funktionären. Diese Leute wollen auf einem Podium nicht überzeugt | |
| werden, sie kommen als Repräsentanten einer Idee. Mit ihnen zu sprechen, | |
| hilft dabei, ihre Ansichten zu einem legitimen Teil des Diskurses zu | |
| machen. Das möchte ich nicht. | |
| Sie haben schon 2016 [5][in Ihrem Blog] geschrieben: „Erschrocken | |
| zuzusehen, wie das Böse die Wertedebatte einseitig führt und am Ende für | |
| sich entscheidet, ist keine zulässige Option.“ Wie hat sich das liberale | |
| Deutschland seither geschlagen? | |
| Nicht gut. Die liberale Debatte in unserem Land wird geführt unter der | |
| Überschrift: „Hilfe, die AfD ist da.“ Was für ein Quatsch. Wenn das Probl… | |
| ist, dass uns eine gesellschaftliche Vision fehlt, dann ist die Antwort | |
| nicht, dass wir ständig über unsere Gegner reden. Man darf die AfD nicht | |
| wichtiger machen, als sie ist. Auch wir hier sprechen gerade total viel | |
| über sie, obwohl es eigentlich um sinnvolle Bildungspolitik gehen könnte. | |
| Wozu raten Sie? Die demokratischen Parteien suchen bis heute nach einem | |
| Rezept. | |
| Der Schlüssel für eine lebendige Demokratie ist, dass Menschen das Gefühl | |
| haben, Dinge verändern zu können. Dieses Gefühl ist unserer Gesellschaft | |
| abhanden gekommen. Ich will einen linken Diskurs, der ohne das Wort AfD | |
| auskommt. Das wäre schon mal ein Anfang. | |
| 11 Oct 2018 | |
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