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# taz.de -- Das Erbe der Piratenpartei: Die letzte Utopie
> Fünf Jahre nach dem Erfolg droht den Piraten der Niedergang. Eine
> Erkundung unter verbitterten Profis und geduldigen Freaks.
Bild: Sie waren jung und wollten die Demokratie neu erfinden – was davon ist …
Martin Delius hat fast alles weggepackt. Im Raum 542, seinem
Abgeordnetenbüro, hängen nur noch leere Hängemappen im Registerschrank.
Zehn leere Aktenordner stehen auf einer Schrankkommode aus braunem Furnier;
ihren Inhalt hat er zur Archivierung freigegeben oder im blauen
Gittercontainer im Flur entsorgt.
Es ist ein windiger Tag im August 2016, das Berliner Abgeordnetenhaus ist
noch in der Sommerpause, nun ist noch Aufräumen angesagt. „Abwicklung“,
sagt Delius und zündet sich eine neue Zigarette an. Er spricht über die
Piratenfraktion wie über ein Unternehmen, 27 Mitarbeiter, 1,2 Millionen
Euro Jahresbudget.
Aus der Piratenpartei ist Martin Delius, [1][@martindelius], 32 Jahre alt,
bereits Ende 2015 ausgetreten, er hat ein Foto seines zerschnittenen
Mitgliedsausweises getwittert. Dazu die Nachricht: „Ich habe keine Lust
mehr, mich für das Gebaren von #piraten zu rechtfertigen.“
Am 18. September sind Wahlen in Berlin. Delius, der sein Physikstudium für
die Politik abgebrochen hat, wird noch fünf Monate Übergangsgeld beziehen
und dann mal schauen. „Vielleicht werde ich Gärtner“, sagt er.
Nur fünf der 15 Piratenabgeordneten treten noch einmal an. Dass sie gewählt
werden, ist unwahrscheinlich. In Umfragen stehen sie so schlecht, dass sie
gar nicht mehr ausgewiesen werden. Es spricht vieles dafür, dass Berlin, wo
der Boom der Partei vor fünf Jahren begann, auch deren Abschied aus den
Parlamenten einläutet. In drei weiteren Ländern, in denen Piraten im
Landtag sitzen, in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und dem
Saarland, sind im kommenden Jahr Wahlen.
## Der Profi gibt auf, der Freak kämpft weiter
Alexander Spies, [2][@sozialpirat], 60 Jahre alt, von Beruf
Softwareentwickler, steht vor Karstadt in Berlin-Tempelhof, er trägt eine
Windjacke und wie immer Schiebermütze. Als er und die anderen Piraten ihren
Wahlstand aufgebaut haben, ausgeklappt aus einem Lastenfahrrad, haben sie
erst mal Ärger bekommen. Jemand hat die Polizei gerufen, es fehle die
Genehmigung. Dabei haben sie dieses Mal doch alles beantragt. Die
Polizisten ließen sich überzeugen.
Spies geht ein paar Schritte auf einen jungen Radfahrer zu, streckt ihm
eine Wahlkampfzeitung hin. Der lehnt ab. „Aber Sie haben nicht so schlechte
Chancen bei mir.“ Das ist ein Moment, der ihm Hoffnung macht.
„Die Kür in der Demokratie ist die Wiederwahl“, sagt Spies. Im Jahr 2009
ist er den Piraten beigetreten, er hat lange gezögert und sich erst mal auf
einem Bundesparteitag vergewissert, dass die anderen vernünftige Leute
sind. Seit Sommer 2013 ist er Fraktionsvorsitzender der Berliner Piraten,
länger schon als sein Co-Chef Martin Delius, der im Abgeordnetenbüro die
Aktenordner wegwirft. Aber im Gegensatz zu Delius kennt ihn kaum einer. In
einer Umfrage kam heraus, dass er der unbeliebteste Berliner
Spitzenpolitiker ist.
Spies und Delius, die beiden Chefs der Berliner Piratenfraktion, sind 2011
zusammen als Abgeordnete gestartet. Einer von ihnen ist in den vergangenen
Jahren zum Politprofi geworden, hat sich Ansehen erarbeitet – und erkannt,
dass die Piraten keine Zukunft haben. Einer ist immer noch unsicher in
seiner Rolle, aber sicher, dass es die Piraten weiter braucht.
Lässt man die AfD außen vor, ist die Piratenpartei die erfolgreichste
Parteineugründung seit den Grünen. Ihre Geschichte ist die Geschichte eines
radikalen Selbstversuchs, einer sozialen Utopie – und einer Generation, die
letztlich an ihren eigenen Ansprüchen scheitert.
Die Frage ist: Was bleibt von den Piraten?
Irgendwo am Anfang der Piratenidee steht die Erfahrung, dass vieles, was
man sich wünscht, nur einen Klick weit entfernt ist. Statt in Plattenläden
zu gehen, gewöhnen sich Jugendliche daran, Musik herunterzuladen. Eine der
Fundgruben, die das möglich macht, heißt Pirate Bay. Piratenbucht.
Aber dann bekommen plötzlich viele Eltern Post, ihre Kinder hätten
Urheberrechte verletzt. Die Forderungen: Tausende Euro. Ist das zeitgemäß?
In diesen Jahren passiert noch etwas: Es wird über Vorratsdatenspeicherung
diskutiert. Sämtliche Verbindungsdaten aller Kunden sollen gespeichert
werden. Die, die mit dem Internet aufgewachsen sind, realisieren, welche
Kontrollmöglichkeiten dem Staat daraus erwachsen würden. In der C-Base
Berlin, einem Hackertreffpunkt, gründet sich die Piratenpartei. Das war vor
genau zehn Jahren, am 10. September 2006.
## Aus der Generation Nerd wird eine Bewegung
Zu dieser Zeit verbringt ein unscheinbarer Physikstudent namens Martin
Delius, Sohn eines Bürgermeisters, in der TU Berlin viel Zeit in
Gremiensitzungen: Studierendenparlament, Strukturkommission, Fakultätsrat.
Es geht um den Anschub von Forschungsprojekten zu
Rastertunnelmikroskopiemessungen und immer auch ein bisschen darum, die
Universität an die Jetztzeit anzupassen. In Universitätsprotokollen stehen
Sätze wie: „Da alle Fakultätsratsmitglieder per e-mail zu erreichen sind,
wird angeregt, die Einladungen zu den Sitzungen (…) per e-mail zu
verschicken.“
Während hier noch fast niemand die Partei kennt, erzielen die Piraten bei
der Europawahl 2009 in Schweden 7,2 Prozent. Ein Coup. Auch in Deutschland
entfaltet das Projekt einen Sog: Innerhalb weniger Monate wächst die Partei
von 1.000 auf über 10.000 Mitglieder an. Ursula von der Leyen, #zensursula,
mobilisiert ungewollt mit, als sie mit dem Argument des Kinderschutzes
Netzsperren plant.
Aus der Generation der Nerds, lang belächelt, wird eine Bewegung. Im Jahr
2009 schreibt der inzwischen verstorbene FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher
ein Loblied auf den Nerd. Darin stellt er auch die Piraten vor, erklärt den
Typus des technischen Avantgardisten. „Sie haben unsere Welt programmiert“,
[3][schreibt Schirrmacher.]
Blogs haben an Bedeutung gewonnen, Twitter und Facebook werden Mainstream.
Vermeintlich rein technische Neuerungen werfen gesellschaftliche Fragen
auf. Letztlich übertragen die Piraten die Idee der Allmende, also des
gemeinschaftlichen Eigentums, auf die Welt des Internets. Es geht um das
Recht auf gesellschaftliche Teilhabe für alle – auf allen Ebenen.
Die Piraten lehnen ein strenges Urheberrecht ab, sie wollen einen
kostenlosen Nahverkehr und ein bedingungsloses Grundeinkommen. Nur auf
dieser Basis, das ist der Gedanke, könne eine freie Welt entstehen, in der
die Menschen abgesichert leben und sich entfalten können. Es ist ein
radikaler Humanismus, gekoppelt an die Sprache der Programmierer.
„Wir sind nicht rechts und nicht links. Wir sind vorn“, sagen die Piraten.
Alexander Spies und Martin Delius hängen Plakate auf, auf denen steht:
„Trau keinem Plakat!“ Das Piraten-Orange wird eine Farbe des Aufbruchs.
Es ist einer der wenigen Momente seit der Wiedervereinigung, in denen eine
progressive Gesellschaftsidee das Zeug hat, Wirklichkeit zu werden.
Für die Debatten, die Piraten in Blogs und auf Twitter führen,
interessieren sich ab dem 18. September 2011 plötzlich viele. Die Piraten
werden an diesem Tag mit 8,9 Prozent in das Berliner Abgeordnetenhaus
gewählt, alle 15 Kandidaten sind nun Parlamentarier, 14 Männer, eine Frau.
Viele sind jung, einer trägt einen Blaumann und ein Palästinensertuch auf
dem Kopf.
## Die plötzliche Aufmerksamkeit überfordert viele
Martin Delius sucht im Abgeordnetenhaus das Büro des Präsidenten, es geht
um die Frage, welche Räume die Piraten beziehen werden. Delius ist jetzt
Parlamentarischer Geschäftsführer einer Fraktion. Er kann das selbst kaum
fassen. „Nun wollen die Piraten ganz Deutschland erobern“, schreibt der
Spiegel.
Eine Frau wird zum Gesicht der Partei: [4][Marina Weisband]. Sie spricht
vor der Bundespressekonferenz, in Talkshows. Sie erklärt, dass von den
Piraten nichts Schlimmes zu erwarten sei, sondern etwas, was das Land
besser mache. Bald hat die Partei mehr als 30.000 Mitglieder, bei der
Sonntagsfrage liegt sie bei 13 Prozent.
Doch die plötzliche Aufmerksamkeit überfordert viele Piraten. Weil sie
nicht in Hinterzimmern diskutieren, sondern in 140-Zeichen-Nachrichten, ist
jeder Streit öffentlich, wird zum „Gate“, so nennen sie Skandale und
Skandälchen. Servergate, Anzuggate, Bombergate.
Denn ganz so visionär wie Frank Schirrmacher es gerne hätte, sind nicht
alle in der Partei: Während Piraten im Norden, vor allem in Berlin,
beginnen, einen Gesellschaftsentwurf zu entwickeln, wollen
Piratenmitglieder vor allem in Süddeutschland eine Netzpartei bleiben.
Im Streit über das Grundsatzprogramm führt der Umstand, dass alle bei allem
mitreden können, dazu, dass ein löchriger Flickenteppich entsteht. Aus
einem Projekt des Aufbruchs wird eine Geschichte des Zanks, einschließlich
Mobbing, Sexismus und dubioser Mitglieder mit rechten Weltbildern.
Theoretisch könnten die Piraten schnell zu allen möglichen Themen eine
Position entwickeln. Denn sie haben sich neue Methoden ausgedacht, wie man
mithilfe des Internets Entscheidungen treffen kann. Diese Methoden sollen
die ganze Gesellschaft verändern. Statt alle paar Jahre zu wählen, sollen
Bürger in Echtzeit Sachentscheidungen treffen oder delegieren können.
Liquid Democracy.
Marina Weisband, die Hoffnung der Partei, bleibt nicht einmal ein Jahr im
Amt. Anfang 2012 ist sie ausgebrannt, will ihre Psychologie-Diplomarbeit
fertig schreiben. Und sie kann den Vollzeitjob auch nicht mehr leisten. Die
Partei ist nicht bereit, ihr Gehalt zu zahlen.
Sobald ein Parteivertreter einigermaßen bekannt ist, ist er schon wieder
weg. Es ist die Kehrseite der Forderung nach Schwarmintelligenz und Themen
statt Köpfen.
Im Oktober 2012 sitzt Marina Weisbands Nachfolger Johannes Ponader bei
Günther Jauch. Er kommt in Strickjacke und Sandalen, tippt demonstrativ auf
seinem Smartphone herum. Es ist die Pose eines Gegenwartshippies, der sich
darin gefällt, als echter Revoluzzer anzutreten. Allerdings: Die meisten
finden es bescheuert.
Im Herbst 2012 ist der gesamte Bundesvorstand nicht mehr arbeitsfähig, weil
Ponader und der damalige Parteichef nicht mehr miteinander reden. Aber in
Bochum steigt noch mal eine große Piratenparty.
## Was ist vom Hype geblieben?
Ruhrcongress-Halle, November 2012. Viele junge Männer, manche mit
Augenklappen; ein paar Frauen mit neonfarbenen Haaren; rosa Plüschponys.
Mehr als 2.000 Mitglieder sind zum Parteitag gekommen, ein Rekord. Das
Antragsbuch füllt fast 1.500 Seiten. Es gibt gegensätzliche Anträge, die
gleichzeitig angenommen werden, und eine Debatte über die „intensive
Erforschung von Zeitreisen“.
Knapp vier Jahre später, Ende August 2016, eine Mehrzweckhalle am Rande von
Wolfenbüttel. Der 18. Bundesparteitag der Piraten beginnt mit einer Ansage:
„Wir haben ein Problem mit dem Netzwerk.“ Ein Mann mit Pferdeschwanz
spricht auf der Bühne. Bitte nicht unnötig YouTube-Videos schauen: „Sonst
sind wir morgen offline.“
Es ist wenig geblieben von den Bildern des Hypes. 300 Mitglieder sind
dieses Mal da. Die Organisatoren haben wieder ein Bällebad aufgestellt,
aber es bleibt die meiste Zeit leer.
Alexander Spies ist mit einem Fraktionskollegen mit dem Elektroauto nach
Wolfenbüttel gefahren. Unterwegs wären sie fast liegen geblieben, weil das
mit dem Batterieaufladen nicht so klappte wie gedacht.
Spies hat sich an einen Tisch in der fünften Reihe gesetzt, den Laptop
aufgeklappt. Er ist konzentriert, hebt die Abstimmungskarte. Zeit für ein
Gespräch? Später, jetzt komme schließlich die Vorstandswahl. Spies ist es
wichtig, wie es mit seiner Partei weitergeht.
Im Jahr 2012 berichteten dutzende Journalisten vom Piraten-Parteitag, heute
sind vier da.
Es fällt leicht, die Piraten hier als eine Partei im Niedergang zu
beschreiben. Die Generalsekretärin spricht vom Mitgliederschwund. Der
scheidende Bundesvorsitzende sagt in seiner Begrüßungsrede: Die Partei ist
de facto pleite. Warum braucht es die Piraten noch?, fragt er.
In Wolfenbüttel findet ein Parteitag der Hartnäckigen statt. Der
Übriggebliebenen. Für viele ist es eine gute Nachricht, dass andere nun
kaum noch in der Partei mitarbeiten: Die, denen Feminismus besonders
wichtig war; die, die immer weiter das bedingungslose Grundeinkommen
debattieren wollen; die Karrieregeilen; die Trolle.
Im Prinzip sind alle weg. Zwei ehemalige Bundesvorsitzende machen Politik
bei der FDP, der Berliner Polterpirat Christopher Lauer sieht sich in der
SPD. Die Piratenpartei ist gleichförmiger geworden, normaler – und dadurch
auch weniger interessant.
## Die Themen der Piraten werden Mainstream
Aber wo es weniger Reibung gibt, funktioniert auch alles reibungsloser.
Beim Parteitag in Wolfenbüttel gibt es keine Zwischenrufe, keinen Streit
über die Tagesordnung, keine Wortmeldung zur Arbeit des Vorstands.
Alexander Spies ist ganz froh, dass alles nun ruhiger läuft. Auch in der
Fraktion war ihm zu viel Durcheinander.
Als die sich komplett zerstritten hatte, nach Vorwürfen von
Vetternwirtschaft und Streit über die Nutzung eines Getränkeautomaten, wird
er 2013 in die Fraktionsspitze gewählt. Um die Wogen zu glätten. Er ist ein
fleißiger Fachpolitiker, Soziales, Behindertenpolitik, Europa;
zwischendurch hält er den Rekord, was parlamentarische Anfragen angeht.
Aber mit seiner Rolle als Fraktionsvorsitzender hadert Spies, in das Spiel
mit den Medien findet er nie richtig hinein. Er will Anträge schreiben,
Dokumente durchackern. Konkrete Politik machen.
Denn während sich die Bundespartei schon zerlegt hat, fangen die Piraten in
den Landesparlamenten gerade mit der eigentlichen Arbeit an.
Die Abgeordneten in Berlin, Kiel, Saarbrücken und Düsseldorf wissen nicht
unbedingt, wie das geht mit der Politik. Aber sie hinterfragen mit einem
teils naiven Blick die Prozesse. Konstruktive Opposition, das liegt ihnen.
Allen Skandalen zum Trotz.
In Berlin sollen auf Schulrechnern Programme installiert werden, um nach
Kopien urheberrechtlich geschützter Werke zu suchen. Die Piraten verlangen
vom Senat in 26 Fragen Auskunft. Sie überzeugen die Große Koalition, eine
Gewaltschutzambulanz einzurichten und eine Strategie zu verabschieden, wie
Forschungsergebnisse zugänglicher werden. Ihrer Forderung nach einem
günstigeren Sozialticket stimmt zwar keine Fraktion zu – aber sie landet
schließlich im Wahlprogramm der Linken und der SPD.
Ein Abgeordneter profiliert sich ganz besonders: Martin Delius. Im Skandal
um den Berliner Großflughafen BER wird ein Untersuchungsausschuss
eingerichtet. Delius übernimmt den Vorsitz. Kann man souverän sein, aber
auch piratig? Delius ruft Flugroutengegner und Bürgerinitiativen auf, sich
einzubringen. Als er vorschlägt, die Sitzordnung im Untersuchungsausschuss
frei zu gestalten, erntet er Widerstand. Also hält er die Spielregeln ein
und gilt bald als verlässlich. Am Ende hat der Ausschuss 70 Zeugen befragt,
mehr als 1.600 Akten ausgewertet. Der Regierende Bürgermeister Klaus
Wowereit ist inzwischen zurückgetreten.
In Nordrhein-Westfalen bringen Piraten ihre Kollegen von den anderen
Parteien dazu, auch die Zuschauer im Livestream zu begrüßen. Weil Debatten
interessanter werden müssen. Der Fraktionsvorsitzende hält als Erster im
Plenarsaal in Düsseldorf eine Rede ohne Jackett. Die Piraten klagen gegen
die Sperrklausel bei Kommunalwahlen.
In Schleswig-Holstein setzen die Piraten ein Transparenzgesetz durch, nach
dem alle Vorstandsgehälter von öffentlichen Unternehmen veröffentlicht
werden. Sie bringen den Robenzwang für Rechtsanwälte zu Fall, dämmen die
Videoüberwachung in Zügen ein, bringen Leichte Sprache in die Publikationen
des Landtags.
Die Erfolge sind klein. Aber dazu kommt eine andere Wirkung. Der größte
Einfluss kleiner Parteien, analysieren Politikwissenschaftler, liegt darin,
dass sie große Parteien dazu bringen, neue Themen in ihre Agenda
aufzunehmen.
## Geile Inhalte, aber kein Mut, sie zu etablieren
SPD-Chef Sigmar Gabriel sagte einmal, dass die Piraten „eine neue, andere
Kultur verkörpern“, und empfahl anderen Parteien, zu reagieren. Das Thema
Netzpolitik wird nun ernst genommen, die Fachpolitiker in diesem Bereich
machen Karriere. Auch Kommunen lassen sich anstecken, in Niedersachsen
startet das Projekt „Liquid Friesland“, die Bürger sollen online Anträge
einbringen, bearbeiten. Das Ergebnis landet als Eingabe im Kreistag.
„Unser Ziel ist, uns selbst überflüssig zu machen. Wenn die anderen unsere
Ideen stehlen, könnten wir uns guten Gewissens auflösen“, sagt Marina
Weisband im Januar 2012.
Haben die Piraten sich selbst überflüssig gemacht, Frau Weisband?
Marina Weisband, @Afelia, 28 Jahre alt, sitzt im Prütt Café in Münster. Sie
hat nun Distanz zu dem, was in Berlin passiert und in Wolfenbüttel. Vor
Kurzem, erzählt sie, habe sie zum ersten Mal seit Jahren das Wort Piraten
gehört und an Seeräuber gedacht. Bereits vor einem Jahr ist sie
ausgetreten, ohne es groß zu erzählen, weil sie den Piraten nicht schaden
wollte.
Nein, die Piraten hätten sich noch nicht selbst überflüssig gemacht, sagt
sie. Die Ideen der Piraten seien noch nicht wirklich in den anderen
Parteien angekommen.
Und dann sagt sie, das mit der Idee der Selbstabschaffung, das sei eine
„teilkluge Sache“ gewesen: „Es war naiv zu glauben, dass das Thema reicht,
die Frage ist, was man damit macht.“ Die anderen Parteien durchdringen die
Digitalisierung nicht, man sehe das beim Leistungsschutzrecht und der
Netzneutralität. „Für uns ist es viel zu früh, abzudanken.“ Sie sagt imm…
noch „uns“. Und: „Wir“.
„Wir hatten ein System, das besser war, aber keinen Mut, es zu etablieren.“
Für sie ist das die herbste Enttäuschung: dass ihre Partei die
Onlineabstimmung nicht verbindlich einführte. Also misslang der Beweis,
dass es klappen kann. So sind auch Projekte wie „Liquid Friesland“
eingeschlafen und von den Onlinetools anderer Parteien ist nichts mehr zu
sehen.
Das Label Piraten hält Weisband für verbrannt. Es hielt den Projektionen
all derer nicht stand, die den frischen Wind gut fanden, die es denen da
oben zeigen wollten, die auf Parteitage fuhren, ohne zu wissen, wer die
Piraten sind. So sieht sie es. Aber von vielem ist sie nach wie vor
überzeugt. „Es war gut, dass wir populistisch waren“, sagt sie. „Es brau…
progressiven Populismus!“ Populismus ohne Fremdenfeindlichkeit. Populismus
mit Alternativen.
Auf der Website von Martin Delius ist inzwischen ein Logo der Linkspartei
zu sehen. Gerade erst war er für eine Woche in Portugal, um an einem
Marxisten-Treffen teilzunehmen.
Er habe viel gelernt, sagt Martin Delius. Das Problem sei gewesen, dass
keine Professionalisierung stattfand. „Geile Inhalte reichen nicht, wenn
man nicht handlungsfähig ist.“
Im Januar 2016 hat er mit dem Chef der Berliner Linken ein Papier
vorgestellt, in dem es heißt: „Eine Erkenntnis des Jahres 2015 ist – die
Piratenpartei ist tot.“ Zusammen mit 34 weiteren enttäuschten Piraten
unterstützt er nun die Linke. Am Donnerstag vergangener Woche hat Delius
den finalen Schritt gemacht und ist in die Partei eingetreten.
Im Prütt Café spricht eine Frau Marina Weisband an: „Schade, dass Sie nicht
mehr in der Politik sind. Verständlich, aber schade.“
Weisband lächelt verlegen. Das hört sie öfter. Sie will ein Comeback ja gar
nicht ausschließen.
Aber jetzt hat sie erst mal ein neues Projekt: „Aula“, Liquid Democracy für
Schulen, gerade läuft die Pilotphase. Nebenbei will sie beweisen, dass
verbindliche Onlinebeteiligung funktioniert. Was bei den Piraten nicht
klappte, soll nun im Kleinen ausprobiert werden. Als Vorbereitung auf das
nächste Große.
Was bleibt von den Piraten? Im Prinzip alles, sagt Marina Weisband: Die
Personen sind noch da. Die Fragen sind noch da. Die Antworten sind noch da.
Auch die Farbe Orange ist noch da. Aber die nutzt jetzt nur noch die CDU.
13 Sep 2016
## LINKS
[1] https://twitter.com/martindelius
[2] https://twitter.com/sozialpirat
[3] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/aufstieg-der-nerds-die-revolut…
[4] https://twitter.com/Afelia
## AUTOREN
Sebastian Erb
Martin Kaul
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