# taz.de -- Das Erbe der Piratenpartei: Die letzte Utopie | |
> Fünf Jahre nach dem Erfolg droht den Piraten der Niedergang. Eine | |
> Erkundung unter verbitterten Profis und geduldigen Freaks. | |
Bild: Sie waren jung und wollten die Demokratie neu erfinden – was davon ist … | |
Martin Delius hat fast alles weggepackt. Im Raum 542, seinem | |
Abgeordnetenbüro, hängen nur noch leere Hängemappen im Registerschrank. | |
Zehn leere Aktenordner stehen auf einer Schrankkommode aus braunem Furnier; | |
ihren Inhalt hat er zur Archivierung freigegeben oder im blauen | |
Gittercontainer im Flur entsorgt. | |
Es ist ein windiger Tag im August 2016, das Berliner Abgeordnetenhaus ist | |
noch in der Sommerpause, nun ist noch Aufräumen angesagt. „Abwicklung“, | |
sagt Delius und zündet sich eine neue Zigarette an. Er spricht über die | |
Piratenfraktion wie über ein Unternehmen, 27 Mitarbeiter, 1,2 Millionen | |
Euro Jahresbudget. | |
Aus der Piratenpartei ist Martin Delius, [1][@martindelius], 32 Jahre alt, | |
bereits Ende 2015 ausgetreten, er hat ein Foto seines zerschnittenen | |
Mitgliedsausweises getwittert. Dazu die Nachricht: „Ich habe keine Lust | |
mehr, mich für das Gebaren von #piraten zu rechtfertigen.“ | |
Am 18. September sind Wahlen in Berlin. Delius, der sein Physikstudium für | |
die Politik abgebrochen hat, wird noch fünf Monate Übergangsgeld beziehen | |
und dann mal schauen. „Vielleicht werde ich Gärtner“, sagt er. | |
Nur fünf der 15 Piratenabgeordneten treten noch einmal an. Dass sie gewählt | |
werden, ist unwahrscheinlich. In Umfragen stehen sie so schlecht, dass sie | |
gar nicht mehr ausgewiesen werden. Es spricht vieles dafür, dass Berlin, wo | |
der Boom der Partei vor fünf Jahren begann, auch deren Abschied aus den | |
Parlamenten einläutet. In drei weiteren Ländern, in denen Piraten im | |
Landtag sitzen, in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und dem | |
Saarland, sind im kommenden Jahr Wahlen. | |
## Der Profi gibt auf, der Freak kämpft weiter | |
Alexander Spies, [2][@sozialpirat], 60 Jahre alt, von Beruf | |
Softwareentwickler, steht vor Karstadt in Berlin-Tempelhof, er trägt eine | |
Windjacke und wie immer Schiebermütze. Als er und die anderen Piraten ihren | |
Wahlstand aufgebaut haben, ausgeklappt aus einem Lastenfahrrad, haben sie | |
erst mal Ärger bekommen. Jemand hat die Polizei gerufen, es fehle die | |
Genehmigung. Dabei haben sie dieses Mal doch alles beantragt. Die | |
Polizisten ließen sich überzeugen. | |
Spies geht ein paar Schritte auf einen jungen Radfahrer zu, streckt ihm | |
eine Wahlkampfzeitung hin. Der lehnt ab. „Aber Sie haben nicht so schlechte | |
Chancen bei mir.“ Das ist ein Moment, der ihm Hoffnung macht. | |
„Die Kür in der Demokratie ist die Wiederwahl“, sagt Spies. Im Jahr 2009 | |
ist er den Piraten beigetreten, er hat lange gezögert und sich erst mal auf | |
einem Bundesparteitag vergewissert, dass die anderen vernünftige Leute | |
sind. Seit Sommer 2013 ist er Fraktionsvorsitzender der Berliner Piraten, | |
länger schon als sein Co-Chef Martin Delius, der im Abgeordnetenbüro die | |
Aktenordner wegwirft. Aber im Gegensatz zu Delius kennt ihn kaum einer. In | |
einer Umfrage kam heraus, dass er der unbeliebteste Berliner | |
Spitzenpolitiker ist. | |
Spies und Delius, die beiden Chefs der Berliner Piratenfraktion, sind 2011 | |
zusammen als Abgeordnete gestartet. Einer von ihnen ist in den vergangenen | |
Jahren zum Politprofi geworden, hat sich Ansehen erarbeitet – und erkannt, | |
dass die Piraten keine Zukunft haben. Einer ist immer noch unsicher in | |
seiner Rolle, aber sicher, dass es die Piraten weiter braucht. | |
Lässt man die AfD außen vor, ist die Piratenpartei die erfolgreichste | |
Parteineugründung seit den Grünen. Ihre Geschichte ist die Geschichte eines | |
radikalen Selbstversuchs, einer sozialen Utopie – und einer Generation, die | |
letztlich an ihren eigenen Ansprüchen scheitert. | |
Die Frage ist: Was bleibt von den Piraten? | |
Irgendwo am Anfang der Piratenidee steht die Erfahrung, dass vieles, was | |
man sich wünscht, nur einen Klick weit entfernt ist. Statt in Plattenläden | |
zu gehen, gewöhnen sich Jugendliche daran, Musik herunterzuladen. Eine der | |
Fundgruben, die das möglich macht, heißt Pirate Bay. Piratenbucht. | |
Aber dann bekommen plötzlich viele Eltern Post, ihre Kinder hätten | |
Urheberrechte verletzt. Die Forderungen: Tausende Euro. Ist das zeitgemäß? | |
In diesen Jahren passiert noch etwas: Es wird über Vorratsdatenspeicherung | |
diskutiert. Sämtliche Verbindungsdaten aller Kunden sollen gespeichert | |
werden. Die, die mit dem Internet aufgewachsen sind, realisieren, welche | |
Kontrollmöglichkeiten dem Staat daraus erwachsen würden. In der C-Base | |
Berlin, einem Hackertreffpunkt, gründet sich die Piratenpartei. Das war vor | |
genau zehn Jahren, am 10. September 2006. | |
## Aus der Generation Nerd wird eine Bewegung | |
Zu dieser Zeit verbringt ein unscheinbarer Physikstudent namens Martin | |
Delius, Sohn eines Bürgermeisters, in der TU Berlin viel Zeit in | |
Gremiensitzungen: Studierendenparlament, Strukturkommission, Fakultätsrat. | |
Es geht um den Anschub von Forschungsprojekten zu | |
Rastertunnelmikroskopiemessungen und immer auch ein bisschen darum, die | |
Universität an die Jetztzeit anzupassen. In Universitätsprotokollen stehen | |
Sätze wie: „Da alle Fakultätsratsmitglieder per e-mail zu erreichen sind, | |
wird angeregt, die Einladungen zu den Sitzungen (…) per e-mail zu | |
verschicken.“ | |
Während hier noch fast niemand die Partei kennt, erzielen die Piraten bei | |
der Europawahl 2009 in Schweden 7,2 Prozent. Ein Coup. Auch in Deutschland | |
entfaltet das Projekt einen Sog: Innerhalb weniger Monate wächst die Partei | |
von 1.000 auf über 10.000 Mitglieder an. Ursula von der Leyen, #zensursula, | |
mobilisiert ungewollt mit, als sie mit dem Argument des Kinderschutzes | |
Netzsperren plant. | |
Aus der Generation der Nerds, lang belächelt, wird eine Bewegung. Im Jahr | |
2009 schreibt der inzwischen verstorbene FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher | |
ein Loblied auf den Nerd. Darin stellt er auch die Piraten vor, erklärt den | |
Typus des technischen Avantgardisten. „Sie haben unsere Welt programmiert“, | |
[3][schreibt Schirrmacher.] | |
Blogs haben an Bedeutung gewonnen, Twitter und Facebook werden Mainstream. | |
Vermeintlich rein technische Neuerungen werfen gesellschaftliche Fragen | |
auf. Letztlich übertragen die Piraten die Idee der Allmende, also des | |
gemeinschaftlichen Eigentums, auf die Welt des Internets. Es geht um das | |
Recht auf gesellschaftliche Teilhabe für alle – auf allen Ebenen. | |
Die Piraten lehnen ein strenges Urheberrecht ab, sie wollen einen | |
kostenlosen Nahverkehr und ein bedingungsloses Grundeinkommen. Nur auf | |
dieser Basis, das ist der Gedanke, könne eine freie Welt entstehen, in der | |
die Menschen abgesichert leben und sich entfalten können. Es ist ein | |
radikaler Humanismus, gekoppelt an die Sprache der Programmierer. | |
„Wir sind nicht rechts und nicht links. Wir sind vorn“, sagen die Piraten. | |
Alexander Spies und Martin Delius hängen Plakate auf, auf denen steht: | |
„Trau keinem Plakat!“ Das Piraten-Orange wird eine Farbe des Aufbruchs. | |
Es ist einer der wenigen Momente seit der Wiedervereinigung, in denen eine | |
progressive Gesellschaftsidee das Zeug hat, Wirklichkeit zu werden. | |
Für die Debatten, die Piraten in Blogs und auf Twitter führen, | |
interessieren sich ab dem 18. September 2011 plötzlich viele. Die Piraten | |
werden an diesem Tag mit 8,9 Prozent in das Berliner Abgeordnetenhaus | |
gewählt, alle 15 Kandidaten sind nun Parlamentarier, 14 Männer, eine Frau. | |
Viele sind jung, einer trägt einen Blaumann und ein Palästinensertuch auf | |
dem Kopf. | |
## Die plötzliche Aufmerksamkeit überfordert viele | |
Martin Delius sucht im Abgeordnetenhaus das Büro des Präsidenten, es geht | |
um die Frage, welche Räume die Piraten beziehen werden. Delius ist jetzt | |
Parlamentarischer Geschäftsführer einer Fraktion. Er kann das selbst kaum | |
fassen. „Nun wollen die Piraten ganz Deutschland erobern“, schreibt der | |
Spiegel. | |
Eine Frau wird zum Gesicht der Partei: [4][Marina Weisband]. Sie spricht | |
vor der Bundespressekonferenz, in Talkshows. Sie erklärt, dass von den | |
Piraten nichts Schlimmes zu erwarten sei, sondern etwas, was das Land | |
besser mache. Bald hat die Partei mehr als 30.000 Mitglieder, bei der | |
Sonntagsfrage liegt sie bei 13 Prozent. | |
Doch die plötzliche Aufmerksamkeit überfordert viele Piraten. Weil sie | |
nicht in Hinterzimmern diskutieren, sondern in 140-Zeichen-Nachrichten, ist | |
jeder Streit öffentlich, wird zum „Gate“, so nennen sie Skandale und | |
Skandälchen. Servergate, Anzuggate, Bombergate. | |
Denn ganz so visionär wie Frank Schirrmacher es gerne hätte, sind nicht | |
alle in der Partei: Während Piraten im Norden, vor allem in Berlin, | |
beginnen, einen Gesellschaftsentwurf zu entwickeln, wollen | |
Piratenmitglieder vor allem in Süddeutschland eine Netzpartei bleiben. | |
Im Streit über das Grundsatzprogramm führt der Umstand, dass alle bei allem | |
mitreden können, dazu, dass ein löchriger Flickenteppich entsteht. Aus | |
einem Projekt des Aufbruchs wird eine Geschichte des Zanks, einschließlich | |
Mobbing, Sexismus und dubioser Mitglieder mit rechten Weltbildern. | |
Theoretisch könnten die Piraten schnell zu allen möglichen Themen eine | |
Position entwickeln. Denn sie haben sich neue Methoden ausgedacht, wie man | |
mithilfe des Internets Entscheidungen treffen kann. Diese Methoden sollen | |
die ganze Gesellschaft verändern. Statt alle paar Jahre zu wählen, sollen | |
Bürger in Echtzeit Sachentscheidungen treffen oder delegieren können. | |
Liquid Democracy. | |
Marina Weisband, die Hoffnung der Partei, bleibt nicht einmal ein Jahr im | |
Amt. Anfang 2012 ist sie ausgebrannt, will ihre Psychologie-Diplomarbeit | |
fertig schreiben. Und sie kann den Vollzeitjob auch nicht mehr leisten. Die | |
Partei ist nicht bereit, ihr Gehalt zu zahlen. | |
Sobald ein Parteivertreter einigermaßen bekannt ist, ist er schon wieder | |
weg. Es ist die Kehrseite der Forderung nach Schwarmintelligenz und Themen | |
statt Köpfen. | |
Im Oktober 2012 sitzt Marina Weisbands Nachfolger Johannes Ponader bei | |
Günther Jauch. Er kommt in Strickjacke und Sandalen, tippt demonstrativ auf | |
seinem Smartphone herum. Es ist die Pose eines Gegenwartshippies, der sich | |
darin gefällt, als echter Revoluzzer anzutreten. Allerdings: Die meisten | |
finden es bescheuert. | |
Im Herbst 2012 ist der gesamte Bundesvorstand nicht mehr arbeitsfähig, weil | |
Ponader und der damalige Parteichef nicht mehr miteinander reden. Aber in | |
Bochum steigt noch mal eine große Piratenparty. | |
## Was ist vom Hype geblieben? | |
Ruhrcongress-Halle, November 2012. Viele junge Männer, manche mit | |
Augenklappen; ein paar Frauen mit neonfarbenen Haaren; rosa Plüschponys. | |
Mehr als 2.000 Mitglieder sind zum Parteitag gekommen, ein Rekord. Das | |
Antragsbuch füllt fast 1.500 Seiten. Es gibt gegensätzliche Anträge, die | |
gleichzeitig angenommen werden, und eine Debatte über die „intensive | |
Erforschung von Zeitreisen“. | |
Knapp vier Jahre später, Ende August 2016, eine Mehrzweckhalle am Rande von | |
Wolfenbüttel. Der 18. Bundesparteitag der Piraten beginnt mit einer Ansage: | |
„Wir haben ein Problem mit dem Netzwerk.“ Ein Mann mit Pferdeschwanz | |
spricht auf der Bühne. Bitte nicht unnötig YouTube-Videos schauen: „Sonst | |
sind wir morgen offline.“ | |
Es ist wenig geblieben von den Bildern des Hypes. 300 Mitglieder sind | |
dieses Mal da. Die Organisatoren haben wieder ein Bällebad aufgestellt, | |
aber es bleibt die meiste Zeit leer. | |
Alexander Spies ist mit einem Fraktionskollegen mit dem Elektroauto nach | |
Wolfenbüttel gefahren. Unterwegs wären sie fast liegen geblieben, weil das | |
mit dem Batterieaufladen nicht so klappte wie gedacht. | |
Spies hat sich an einen Tisch in der fünften Reihe gesetzt, den Laptop | |
aufgeklappt. Er ist konzentriert, hebt die Abstimmungskarte. Zeit für ein | |
Gespräch? Später, jetzt komme schließlich die Vorstandswahl. Spies ist es | |
wichtig, wie es mit seiner Partei weitergeht. | |
Im Jahr 2012 berichteten dutzende Journalisten vom Piraten-Parteitag, heute | |
sind vier da. | |
Es fällt leicht, die Piraten hier als eine Partei im Niedergang zu | |
beschreiben. Die Generalsekretärin spricht vom Mitgliederschwund. Der | |
scheidende Bundesvorsitzende sagt in seiner Begrüßungsrede: Die Partei ist | |
de facto pleite. Warum braucht es die Piraten noch?, fragt er. | |
In Wolfenbüttel findet ein Parteitag der Hartnäckigen statt. Der | |
Übriggebliebenen. Für viele ist es eine gute Nachricht, dass andere nun | |
kaum noch in der Partei mitarbeiten: Die, denen Feminismus besonders | |
wichtig war; die, die immer weiter das bedingungslose Grundeinkommen | |
debattieren wollen; die Karrieregeilen; die Trolle. | |
Im Prinzip sind alle weg. Zwei ehemalige Bundesvorsitzende machen Politik | |
bei der FDP, der Berliner Polterpirat Christopher Lauer sieht sich in der | |
SPD. Die Piratenpartei ist gleichförmiger geworden, normaler – und dadurch | |
auch weniger interessant. | |
## Die Themen der Piraten werden Mainstream | |
Aber wo es weniger Reibung gibt, funktioniert auch alles reibungsloser. | |
Beim Parteitag in Wolfenbüttel gibt es keine Zwischenrufe, keinen Streit | |
über die Tagesordnung, keine Wortmeldung zur Arbeit des Vorstands. | |
Alexander Spies ist ganz froh, dass alles nun ruhiger läuft. Auch in der | |
Fraktion war ihm zu viel Durcheinander. | |
Als die sich komplett zerstritten hatte, nach Vorwürfen von | |
Vetternwirtschaft und Streit über die Nutzung eines Getränkeautomaten, wird | |
er 2013 in die Fraktionsspitze gewählt. Um die Wogen zu glätten. Er ist ein | |
fleißiger Fachpolitiker, Soziales, Behindertenpolitik, Europa; | |
zwischendurch hält er den Rekord, was parlamentarische Anfragen angeht. | |
Aber mit seiner Rolle als Fraktionsvorsitzender hadert Spies, in das Spiel | |
mit den Medien findet er nie richtig hinein. Er will Anträge schreiben, | |
Dokumente durchackern. Konkrete Politik machen. | |
Denn während sich die Bundespartei schon zerlegt hat, fangen die Piraten in | |
den Landesparlamenten gerade mit der eigentlichen Arbeit an. | |
Die Abgeordneten in Berlin, Kiel, Saarbrücken und Düsseldorf wissen nicht | |
unbedingt, wie das geht mit der Politik. Aber sie hinterfragen mit einem | |
teils naiven Blick die Prozesse. Konstruktive Opposition, das liegt ihnen. | |
Allen Skandalen zum Trotz. | |
In Berlin sollen auf Schulrechnern Programme installiert werden, um nach | |
Kopien urheberrechtlich geschützter Werke zu suchen. Die Piraten verlangen | |
vom Senat in 26 Fragen Auskunft. Sie überzeugen die Große Koalition, eine | |
Gewaltschutzambulanz einzurichten und eine Strategie zu verabschieden, wie | |
Forschungsergebnisse zugänglicher werden. Ihrer Forderung nach einem | |
günstigeren Sozialticket stimmt zwar keine Fraktion zu – aber sie landet | |
schließlich im Wahlprogramm der Linken und der SPD. | |
Ein Abgeordneter profiliert sich ganz besonders: Martin Delius. Im Skandal | |
um den Berliner Großflughafen BER wird ein Untersuchungsausschuss | |
eingerichtet. Delius übernimmt den Vorsitz. Kann man souverän sein, aber | |
auch piratig? Delius ruft Flugroutengegner und Bürgerinitiativen auf, sich | |
einzubringen. Als er vorschlägt, die Sitzordnung im Untersuchungsausschuss | |
frei zu gestalten, erntet er Widerstand. Also hält er die Spielregeln ein | |
und gilt bald als verlässlich. Am Ende hat der Ausschuss 70 Zeugen befragt, | |
mehr als 1.600 Akten ausgewertet. Der Regierende Bürgermeister Klaus | |
Wowereit ist inzwischen zurückgetreten. | |
In Nordrhein-Westfalen bringen Piraten ihre Kollegen von den anderen | |
Parteien dazu, auch die Zuschauer im Livestream zu begrüßen. Weil Debatten | |
interessanter werden müssen. Der Fraktionsvorsitzende hält als Erster im | |
Plenarsaal in Düsseldorf eine Rede ohne Jackett. Die Piraten klagen gegen | |
die Sperrklausel bei Kommunalwahlen. | |
In Schleswig-Holstein setzen die Piraten ein Transparenzgesetz durch, nach | |
dem alle Vorstandsgehälter von öffentlichen Unternehmen veröffentlicht | |
werden. Sie bringen den Robenzwang für Rechtsanwälte zu Fall, dämmen die | |
Videoüberwachung in Zügen ein, bringen Leichte Sprache in die Publikationen | |
des Landtags. | |
Die Erfolge sind klein. Aber dazu kommt eine andere Wirkung. Der größte | |
Einfluss kleiner Parteien, analysieren Politikwissenschaftler, liegt darin, | |
dass sie große Parteien dazu bringen, neue Themen in ihre Agenda | |
aufzunehmen. | |
## Geile Inhalte, aber kein Mut, sie zu etablieren | |
SPD-Chef Sigmar Gabriel sagte einmal, dass die Piraten „eine neue, andere | |
Kultur verkörpern“, und empfahl anderen Parteien, zu reagieren. Das Thema | |
Netzpolitik wird nun ernst genommen, die Fachpolitiker in diesem Bereich | |
machen Karriere. Auch Kommunen lassen sich anstecken, in Niedersachsen | |
startet das Projekt „Liquid Friesland“, die Bürger sollen online Anträge | |
einbringen, bearbeiten. Das Ergebnis landet als Eingabe im Kreistag. | |
„Unser Ziel ist, uns selbst überflüssig zu machen. Wenn die anderen unsere | |
Ideen stehlen, könnten wir uns guten Gewissens auflösen“, sagt Marina | |
Weisband im Januar 2012. | |
Haben die Piraten sich selbst überflüssig gemacht, Frau Weisband? | |
Marina Weisband, @Afelia, 28 Jahre alt, sitzt im Prütt Café in Münster. Sie | |
hat nun Distanz zu dem, was in Berlin passiert und in Wolfenbüttel. Vor | |
Kurzem, erzählt sie, habe sie zum ersten Mal seit Jahren das Wort Piraten | |
gehört und an Seeräuber gedacht. Bereits vor einem Jahr ist sie | |
ausgetreten, ohne es groß zu erzählen, weil sie den Piraten nicht schaden | |
wollte. | |
Nein, die Piraten hätten sich noch nicht selbst überflüssig gemacht, sagt | |
sie. Die Ideen der Piraten seien noch nicht wirklich in den anderen | |
Parteien angekommen. | |
Und dann sagt sie, das mit der Idee der Selbstabschaffung, das sei eine | |
„teilkluge Sache“ gewesen: „Es war naiv zu glauben, dass das Thema reicht, | |
die Frage ist, was man damit macht.“ Die anderen Parteien durchdringen die | |
Digitalisierung nicht, man sehe das beim Leistungsschutzrecht und der | |
Netzneutralität. „Für uns ist es viel zu früh, abzudanken.“ Sie sagt imm… | |
noch „uns“. Und: „Wir“. | |
„Wir hatten ein System, das besser war, aber keinen Mut, es zu etablieren.“ | |
Für sie ist das die herbste Enttäuschung: dass ihre Partei die | |
Onlineabstimmung nicht verbindlich einführte. Also misslang der Beweis, | |
dass es klappen kann. So sind auch Projekte wie „Liquid Friesland“ | |
eingeschlafen und von den Onlinetools anderer Parteien ist nichts mehr zu | |
sehen. | |
Das Label Piraten hält Weisband für verbrannt. Es hielt den Projektionen | |
all derer nicht stand, die den frischen Wind gut fanden, die es denen da | |
oben zeigen wollten, die auf Parteitage fuhren, ohne zu wissen, wer die | |
Piraten sind. So sieht sie es. Aber von vielem ist sie nach wie vor | |
überzeugt. „Es war gut, dass wir populistisch waren“, sagt sie. „Es brau… | |
progressiven Populismus!“ Populismus ohne Fremdenfeindlichkeit. Populismus | |
mit Alternativen. | |
Auf der Website von Martin Delius ist inzwischen ein Logo der Linkspartei | |
zu sehen. Gerade erst war er für eine Woche in Portugal, um an einem | |
Marxisten-Treffen teilzunehmen. | |
Er habe viel gelernt, sagt Martin Delius. Das Problem sei gewesen, dass | |
keine Professionalisierung stattfand. „Geile Inhalte reichen nicht, wenn | |
man nicht handlungsfähig ist.“ | |
Im Januar 2016 hat er mit dem Chef der Berliner Linken ein Papier | |
vorgestellt, in dem es heißt: „Eine Erkenntnis des Jahres 2015 ist – die | |
Piratenpartei ist tot.“ Zusammen mit 34 weiteren enttäuschten Piraten | |
unterstützt er nun die Linke. Am Donnerstag vergangener Woche hat Delius | |
den finalen Schritt gemacht und ist in die Partei eingetreten. | |
Im Prütt Café spricht eine Frau Marina Weisband an: „Schade, dass Sie nicht | |
mehr in der Politik sind. Verständlich, aber schade.“ | |
Weisband lächelt verlegen. Das hört sie öfter. Sie will ein Comeback ja gar | |
nicht ausschließen. | |
Aber jetzt hat sie erst mal ein neues Projekt: „Aula“, Liquid Democracy für | |
Schulen, gerade läuft die Pilotphase. Nebenbei will sie beweisen, dass | |
verbindliche Onlinebeteiligung funktioniert. Was bei den Piraten nicht | |
klappte, soll nun im Kleinen ausprobiert werden. Als Vorbereitung auf das | |
nächste Große. | |
Was bleibt von den Piraten? Im Prinzip alles, sagt Marina Weisband: Die | |
Personen sind noch da. Die Fragen sind noch da. Die Antworten sind noch da. | |
Auch die Farbe Orange ist noch da. Aber die nutzt jetzt nur noch die CDU. | |
13 Sep 2016 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/martindelius | |
[2] https://twitter.com/sozialpirat | |
[3] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/aufstieg-der-nerds-die-revolut… | |
[4] https://twitter.com/Afelia | |
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Sebastian Erb | |
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