| # taz.de -- Das Erbe der Piratenpartei: Die letzte Utopie | |
| > Fünf Jahre nach dem Erfolg droht den Piraten der Niedergang. Eine | |
| > Erkundung unter verbitterten Profis und geduldigen Freaks. | |
| Bild: Sie waren jung und wollten die Demokratie neu erfinden – was davon ist … | |
| Martin Delius hat fast alles weggepackt. Im Raum 542, seinem | |
| Abgeordnetenbüro, hängen nur noch leere Hängemappen im Registerschrank. | |
| Zehn leere Aktenordner stehen auf einer Schrankkommode aus braunem Furnier; | |
| ihren Inhalt hat er zur Archivierung freigegeben oder im blauen | |
| Gittercontainer im Flur entsorgt. | |
| Es ist ein windiger Tag im August 2016, das Berliner Abgeordnetenhaus ist | |
| noch in der Sommerpause, nun ist noch Aufräumen angesagt. „Abwicklung“, | |
| sagt Delius und zündet sich eine neue Zigarette an. Er spricht über die | |
| Piratenfraktion wie über ein Unternehmen, 27 Mitarbeiter, 1,2 Millionen | |
| Euro Jahresbudget. | |
| Aus der Piratenpartei ist Martin Delius, [1][@martindelius], 32 Jahre alt, | |
| bereits Ende 2015 ausgetreten, er hat ein Foto seines zerschnittenen | |
| Mitgliedsausweises getwittert. Dazu die Nachricht: „Ich habe keine Lust | |
| mehr, mich für das Gebaren von #piraten zu rechtfertigen.“ | |
| Am 18. September sind Wahlen in Berlin. Delius, der sein Physikstudium für | |
| die Politik abgebrochen hat, wird noch fünf Monate Übergangsgeld beziehen | |
| und dann mal schauen. „Vielleicht werde ich Gärtner“, sagt er. | |
| Nur fünf der 15 Piratenabgeordneten treten noch einmal an. Dass sie gewählt | |
| werden, ist unwahrscheinlich. In Umfragen stehen sie so schlecht, dass sie | |
| gar nicht mehr ausgewiesen werden. Es spricht vieles dafür, dass Berlin, wo | |
| der Boom der Partei vor fünf Jahren begann, auch deren Abschied aus den | |
| Parlamenten einläutet. In drei weiteren Ländern, in denen Piraten im | |
| Landtag sitzen, in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und dem | |
| Saarland, sind im kommenden Jahr Wahlen. | |
| ## Der Profi gibt auf, der Freak kämpft weiter | |
| Alexander Spies, [2][@sozialpirat], 60 Jahre alt, von Beruf | |
| Softwareentwickler, steht vor Karstadt in Berlin-Tempelhof, er trägt eine | |
| Windjacke und wie immer Schiebermütze. Als er und die anderen Piraten ihren | |
| Wahlstand aufgebaut haben, ausgeklappt aus einem Lastenfahrrad, haben sie | |
| erst mal Ärger bekommen. Jemand hat die Polizei gerufen, es fehle die | |
| Genehmigung. Dabei haben sie dieses Mal doch alles beantragt. Die | |
| Polizisten ließen sich überzeugen. | |
| Spies geht ein paar Schritte auf einen jungen Radfahrer zu, streckt ihm | |
| eine Wahlkampfzeitung hin. Der lehnt ab. „Aber Sie haben nicht so schlechte | |
| Chancen bei mir.“ Das ist ein Moment, der ihm Hoffnung macht. | |
| „Die Kür in der Demokratie ist die Wiederwahl“, sagt Spies. Im Jahr 2009 | |
| ist er den Piraten beigetreten, er hat lange gezögert und sich erst mal auf | |
| einem Bundesparteitag vergewissert, dass die anderen vernünftige Leute | |
| sind. Seit Sommer 2013 ist er Fraktionsvorsitzender der Berliner Piraten, | |
| länger schon als sein Co-Chef Martin Delius, der im Abgeordnetenbüro die | |
| Aktenordner wegwirft. Aber im Gegensatz zu Delius kennt ihn kaum einer. In | |
| einer Umfrage kam heraus, dass er der unbeliebteste Berliner | |
| Spitzenpolitiker ist. | |
| Spies und Delius, die beiden Chefs der Berliner Piratenfraktion, sind 2011 | |
| zusammen als Abgeordnete gestartet. Einer von ihnen ist in den vergangenen | |
| Jahren zum Politprofi geworden, hat sich Ansehen erarbeitet – und erkannt, | |
| dass die Piraten keine Zukunft haben. Einer ist immer noch unsicher in | |
| seiner Rolle, aber sicher, dass es die Piraten weiter braucht. | |
| Lässt man die AfD außen vor, ist die Piratenpartei die erfolgreichste | |
| Parteineugründung seit den Grünen. Ihre Geschichte ist die Geschichte eines | |
| radikalen Selbstversuchs, einer sozialen Utopie – und einer Generation, die | |
| letztlich an ihren eigenen Ansprüchen scheitert. | |
| Die Frage ist: Was bleibt von den Piraten? | |
| Irgendwo am Anfang der Piratenidee steht die Erfahrung, dass vieles, was | |
| man sich wünscht, nur einen Klick weit entfernt ist. Statt in Plattenläden | |
| zu gehen, gewöhnen sich Jugendliche daran, Musik herunterzuladen. Eine der | |
| Fundgruben, die das möglich macht, heißt Pirate Bay. Piratenbucht. | |
| Aber dann bekommen plötzlich viele Eltern Post, ihre Kinder hätten | |
| Urheberrechte verletzt. Die Forderungen: Tausende Euro. Ist das zeitgemäß? | |
| In diesen Jahren passiert noch etwas: Es wird über Vorratsdatenspeicherung | |
| diskutiert. Sämtliche Verbindungsdaten aller Kunden sollen gespeichert | |
| werden. Die, die mit dem Internet aufgewachsen sind, realisieren, welche | |
| Kontrollmöglichkeiten dem Staat daraus erwachsen würden. In der C-Base | |
| Berlin, einem Hackertreffpunkt, gründet sich die Piratenpartei. Das war vor | |
| genau zehn Jahren, am 10. September 2006. | |
| ## Aus der Generation Nerd wird eine Bewegung | |
| Zu dieser Zeit verbringt ein unscheinbarer Physikstudent namens Martin | |
| Delius, Sohn eines Bürgermeisters, in der TU Berlin viel Zeit in | |
| Gremiensitzungen: Studierendenparlament, Strukturkommission, Fakultätsrat. | |
| Es geht um den Anschub von Forschungsprojekten zu | |
| Rastertunnelmikroskopiemessungen und immer auch ein bisschen darum, die | |
| Universität an die Jetztzeit anzupassen. In Universitätsprotokollen stehen | |
| Sätze wie: „Da alle Fakultätsratsmitglieder per e-mail zu erreichen sind, | |
| wird angeregt, die Einladungen zu den Sitzungen (…) per e-mail zu | |
| verschicken.“ | |
| Während hier noch fast niemand die Partei kennt, erzielen die Piraten bei | |
| der Europawahl 2009 in Schweden 7,2 Prozent. Ein Coup. Auch in Deutschland | |
| entfaltet das Projekt einen Sog: Innerhalb weniger Monate wächst die Partei | |
| von 1.000 auf über 10.000 Mitglieder an. Ursula von der Leyen, #zensursula, | |
| mobilisiert ungewollt mit, als sie mit dem Argument des Kinderschutzes | |
| Netzsperren plant. | |
| Aus der Generation der Nerds, lang belächelt, wird eine Bewegung. Im Jahr | |
| 2009 schreibt der inzwischen verstorbene FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher | |
| ein Loblied auf den Nerd. Darin stellt er auch die Piraten vor, erklärt den | |
| Typus des technischen Avantgardisten. „Sie haben unsere Welt programmiert“, | |
| [3][schreibt Schirrmacher.] | |
| Blogs haben an Bedeutung gewonnen, Twitter und Facebook werden Mainstream. | |
| Vermeintlich rein technische Neuerungen werfen gesellschaftliche Fragen | |
| auf. Letztlich übertragen die Piraten die Idee der Allmende, also des | |
| gemeinschaftlichen Eigentums, auf die Welt des Internets. Es geht um das | |
| Recht auf gesellschaftliche Teilhabe für alle – auf allen Ebenen. | |
| Die Piraten lehnen ein strenges Urheberrecht ab, sie wollen einen | |
| kostenlosen Nahverkehr und ein bedingungsloses Grundeinkommen. Nur auf | |
| dieser Basis, das ist der Gedanke, könne eine freie Welt entstehen, in der | |
| die Menschen abgesichert leben und sich entfalten können. Es ist ein | |
| radikaler Humanismus, gekoppelt an die Sprache der Programmierer. | |
| „Wir sind nicht rechts und nicht links. Wir sind vorn“, sagen die Piraten. | |
| Alexander Spies und Martin Delius hängen Plakate auf, auf denen steht: | |
| „Trau keinem Plakat!“ Das Piraten-Orange wird eine Farbe des Aufbruchs. | |
| Es ist einer der wenigen Momente seit der Wiedervereinigung, in denen eine | |
| progressive Gesellschaftsidee das Zeug hat, Wirklichkeit zu werden. | |
| Für die Debatten, die Piraten in Blogs und auf Twitter führen, | |
| interessieren sich ab dem 18. September 2011 plötzlich viele. Die Piraten | |
| werden an diesem Tag mit 8,9 Prozent in das Berliner Abgeordnetenhaus | |
| gewählt, alle 15 Kandidaten sind nun Parlamentarier, 14 Männer, eine Frau. | |
| Viele sind jung, einer trägt einen Blaumann und ein Palästinensertuch auf | |
| dem Kopf. | |
| ## Die plötzliche Aufmerksamkeit überfordert viele | |
| Martin Delius sucht im Abgeordnetenhaus das Büro des Präsidenten, es geht | |
| um die Frage, welche Räume die Piraten beziehen werden. Delius ist jetzt | |
| Parlamentarischer Geschäftsführer einer Fraktion. Er kann das selbst kaum | |
| fassen. „Nun wollen die Piraten ganz Deutschland erobern“, schreibt der | |
| Spiegel. | |
| Eine Frau wird zum Gesicht der Partei: [4][Marina Weisband]. Sie spricht | |
| vor der Bundespressekonferenz, in Talkshows. Sie erklärt, dass von den | |
| Piraten nichts Schlimmes zu erwarten sei, sondern etwas, was das Land | |
| besser mache. Bald hat die Partei mehr als 30.000 Mitglieder, bei der | |
| Sonntagsfrage liegt sie bei 13 Prozent. | |
| Doch die plötzliche Aufmerksamkeit überfordert viele Piraten. Weil sie | |
| nicht in Hinterzimmern diskutieren, sondern in 140-Zeichen-Nachrichten, ist | |
| jeder Streit öffentlich, wird zum „Gate“, so nennen sie Skandale und | |
| Skandälchen. Servergate, Anzuggate, Bombergate. | |
| Denn ganz so visionär wie Frank Schirrmacher es gerne hätte, sind nicht | |
| alle in der Partei: Während Piraten im Norden, vor allem in Berlin, | |
| beginnen, einen Gesellschaftsentwurf zu entwickeln, wollen | |
| Piratenmitglieder vor allem in Süddeutschland eine Netzpartei bleiben. | |
| Im Streit über das Grundsatzprogramm führt der Umstand, dass alle bei allem | |
| mitreden können, dazu, dass ein löchriger Flickenteppich entsteht. Aus | |
| einem Projekt des Aufbruchs wird eine Geschichte des Zanks, einschließlich | |
| Mobbing, Sexismus und dubioser Mitglieder mit rechten Weltbildern. | |
| Theoretisch könnten die Piraten schnell zu allen möglichen Themen eine | |
| Position entwickeln. Denn sie haben sich neue Methoden ausgedacht, wie man | |
| mithilfe des Internets Entscheidungen treffen kann. Diese Methoden sollen | |
| die ganze Gesellschaft verändern. Statt alle paar Jahre zu wählen, sollen | |
| Bürger in Echtzeit Sachentscheidungen treffen oder delegieren können. | |
| Liquid Democracy. | |
| Marina Weisband, die Hoffnung der Partei, bleibt nicht einmal ein Jahr im | |
| Amt. Anfang 2012 ist sie ausgebrannt, will ihre Psychologie-Diplomarbeit | |
| fertig schreiben. Und sie kann den Vollzeitjob auch nicht mehr leisten. Die | |
| Partei ist nicht bereit, ihr Gehalt zu zahlen. | |
| Sobald ein Parteivertreter einigermaßen bekannt ist, ist er schon wieder | |
| weg. Es ist die Kehrseite der Forderung nach Schwarmintelligenz und Themen | |
| statt Köpfen. | |
| Im Oktober 2012 sitzt Marina Weisbands Nachfolger Johannes Ponader bei | |
| Günther Jauch. Er kommt in Strickjacke und Sandalen, tippt demonstrativ auf | |
| seinem Smartphone herum. Es ist die Pose eines Gegenwartshippies, der sich | |
| darin gefällt, als echter Revoluzzer anzutreten. Allerdings: Die meisten | |
| finden es bescheuert. | |
| Im Herbst 2012 ist der gesamte Bundesvorstand nicht mehr arbeitsfähig, weil | |
| Ponader und der damalige Parteichef nicht mehr miteinander reden. Aber in | |
| Bochum steigt noch mal eine große Piratenparty. | |
| ## Was ist vom Hype geblieben? | |
| Ruhrcongress-Halle, November 2012. Viele junge Männer, manche mit | |
| Augenklappen; ein paar Frauen mit neonfarbenen Haaren; rosa Plüschponys. | |
| Mehr als 2.000 Mitglieder sind zum Parteitag gekommen, ein Rekord. Das | |
| Antragsbuch füllt fast 1.500 Seiten. Es gibt gegensätzliche Anträge, die | |
| gleichzeitig angenommen werden, und eine Debatte über die „intensive | |
| Erforschung von Zeitreisen“. | |
| Knapp vier Jahre später, Ende August 2016, eine Mehrzweckhalle am Rande von | |
| Wolfenbüttel. Der 18. Bundesparteitag der Piraten beginnt mit einer Ansage: | |
| „Wir haben ein Problem mit dem Netzwerk.“ Ein Mann mit Pferdeschwanz | |
| spricht auf der Bühne. Bitte nicht unnötig YouTube-Videos schauen: „Sonst | |
| sind wir morgen offline.“ | |
| Es ist wenig geblieben von den Bildern des Hypes. 300 Mitglieder sind | |
| dieses Mal da. Die Organisatoren haben wieder ein Bällebad aufgestellt, | |
| aber es bleibt die meiste Zeit leer. | |
| Alexander Spies ist mit einem Fraktionskollegen mit dem Elektroauto nach | |
| Wolfenbüttel gefahren. Unterwegs wären sie fast liegen geblieben, weil das | |
| mit dem Batterieaufladen nicht so klappte wie gedacht. | |
| Spies hat sich an einen Tisch in der fünften Reihe gesetzt, den Laptop | |
| aufgeklappt. Er ist konzentriert, hebt die Abstimmungskarte. Zeit für ein | |
| Gespräch? Später, jetzt komme schließlich die Vorstandswahl. Spies ist es | |
| wichtig, wie es mit seiner Partei weitergeht. | |
| Im Jahr 2012 berichteten dutzende Journalisten vom Piraten-Parteitag, heute | |
| sind vier da. | |
| Es fällt leicht, die Piraten hier als eine Partei im Niedergang zu | |
| beschreiben. Die Generalsekretärin spricht vom Mitgliederschwund. Der | |
| scheidende Bundesvorsitzende sagt in seiner Begrüßungsrede: Die Partei ist | |
| de facto pleite. Warum braucht es die Piraten noch?, fragt er. | |
| In Wolfenbüttel findet ein Parteitag der Hartnäckigen statt. Der | |
| Übriggebliebenen. Für viele ist es eine gute Nachricht, dass andere nun | |
| kaum noch in der Partei mitarbeiten: Die, denen Feminismus besonders | |
| wichtig war; die, die immer weiter das bedingungslose Grundeinkommen | |
| debattieren wollen; die Karrieregeilen; die Trolle. | |
| Im Prinzip sind alle weg. Zwei ehemalige Bundesvorsitzende machen Politik | |
| bei der FDP, der Berliner Polterpirat Christopher Lauer sieht sich in der | |
| SPD. Die Piratenpartei ist gleichförmiger geworden, normaler – und dadurch | |
| auch weniger interessant. | |
| ## Die Themen der Piraten werden Mainstream | |
| Aber wo es weniger Reibung gibt, funktioniert auch alles reibungsloser. | |
| Beim Parteitag in Wolfenbüttel gibt es keine Zwischenrufe, keinen Streit | |
| über die Tagesordnung, keine Wortmeldung zur Arbeit des Vorstands. | |
| Alexander Spies ist ganz froh, dass alles nun ruhiger läuft. Auch in der | |
| Fraktion war ihm zu viel Durcheinander. | |
| Als die sich komplett zerstritten hatte, nach Vorwürfen von | |
| Vetternwirtschaft und Streit über die Nutzung eines Getränkeautomaten, wird | |
| er 2013 in die Fraktionsspitze gewählt. Um die Wogen zu glätten. Er ist ein | |
| fleißiger Fachpolitiker, Soziales, Behindertenpolitik, Europa; | |
| zwischendurch hält er den Rekord, was parlamentarische Anfragen angeht. | |
| Aber mit seiner Rolle als Fraktionsvorsitzender hadert Spies, in das Spiel | |
| mit den Medien findet er nie richtig hinein. Er will Anträge schreiben, | |
| Dokumente durchackern. Konkrete Politik machen. | |
| Denn während sich die Bundespartei schon zerlegt hat, fangen die Piraten in | |
| den Landesparlamenten gerade mit der eigentlichen Arbeit an. | |
| Die Abgeordneten in Berlin, Kiel, Saarbrücken und Düsseldorf wissen nicht | |
| unbedingt, wie das geht mit der Politik. Aber sie hinterfragen mit einem | |
| teils naiven Blick die Prozesse. Konstruktive Opposition, das liegt ihnen. | |
| Allen Skandalen zum Trotz. | |
| In Berlin sollen auf Schulrechnern Programme installiert werden, um nach | |
| Kopien urheberrechtlich geschützter Werke zu suchen. Die Piraten verlangen | |
| vom Senat in 26 Fragen Auskunft. Sie überzeugen die Große Koalition, eine | |
| Gewaltschutzambulanz einzurichten und eine Strategie zu verabschieden, wie | |
| Forschungsergebnisse zugänglicher werden. Ihrer Forderung nach einem | |
| günstigeren Sozialticket stimmt zwar keine Fraktion zu – aber sie landet | |
| schließlich im Wahlprogramm der Linken und der SPD. | |
| Ein Abgeordneter profiliert sich ganz besonders: Martin Delius. Im Skandal | |
| um den Berliner Großflughafen BER wird ein Untersuchungsausschuss | |
| eingerichtet. Delius übernimmt den Vorsitz. Kann man souverän sein, aber | |
| auch piratig? Delius ruft Flugroutengegner und Bürgerinitiativen auf, sich | |
| einzubringen. Als er vorschlägt, die Sitzordnung im Untersuchungsausschuss | |
| frei zu gestalten, erntet er Widerstand. Also hält er die Spielregeln ein | |
| und gilt bald als verlässlich. Am Ende hat der Ausschuss 70 Zeugen befragt, | |
| mehr als 1.600 Akten ausgewertet. Der Regierende Bürgermeister Klaus | |
| Wowereit ist inzwischen zurückgetreten. | |
| In Nordrhein-Westfalen bringen Piraten ihre Kollegen von den anderen | |
| Parteien dazu, auch die Zuschauer im Livestream zu begrüßen. Weil Debatten | |
| interessanter werden müssen. Der Fraktionsvorsitzende hält als Erster im | |
| Plenarsaal in Düsseldorf eine Rede ohne Jackett. Die Piraten klagen gegen | |
| die Sperrklausel bei Kommunalwahlen. | |
| In Schleswig-Holstein setzen die Piraten ein Transparenzgesetz durch, nach | |
| dem alle Vorstandsgehälter von öffentlichen Unternehmen veröffentlicht | |
| werden. Sie bringen den Robenzwang für Rechtsanwälte zu Fall, dämmen die | |
| Videoüberwachung in Zügen ein, bringen Leichte Sprache in die Publikationen | |
| des Landtags. | |
| Die Erfolge sind klein. Aber dazu kommt eine andere Wirkung. Der größte | |
| Einfluss kleiner Parteien, analysieren Politikwissenschaftler, liegt darin, | |
| dass sie große Parteien dazu bringen, neue Themen in ihre Agenda | |
| aufzunehmen. | |
| ## Geile Inhalte, aber kein Mut, sie zu etablieren | |
| SPD-Chef Sigmar Gabriel sagte einmal, dass die Piraten „eine neue, andere | |
| Kultur verkörpern“, und empfahl anderen Parteien, zu reagieren. Das Thema | |
| Netzpolitik wird nun ernst genommen, die Fachpolitiker in diesem Bereich | |
| machen Karriere. Auch Kommunen lassen sich anstecken, in Niedersachsen | |
| startet das Projekt „Liquid Friesland“, die Bürger sollen online Anträge | |
| einbringen, bearbeiten. Das Ergebnis landet als Eingabe im Kreistag. | |
| „Unser Ziel ist, uns selbst überflüssig zu machen. Wenn die anderen unsere | |
| Ideen stehlen, könnten wir uns guten Gewissens auflösen“, sagt Marina | |
| Weisband im Januar 2012. | |
| Haben die Piraten sich selbst überflüssig gemacht, Frau Weisband? | |
| Marina Weisband, @Afelia, 28 Jahre alt, sitzt im Prütt Café in Münster. Sie | |
| hat nun Distanz zu dem, was in Berlin passiert und in Wolfenbüttel. Vor | |
| Kurzem, erzählt sie, habe sie zum ersten Mal seit Jahren das Wort Piraten | |
| gehört und an Seeräuber gedacht. Bereits vor einem Jahr ist sie | |
| ausgetreten, ohne es groß zu erzählen, weil sie den Piraten nicht schaden | |
| wollte. | |
| Nein, die Piraten hätten sich noch nicht selbst überflüssig gemacht, sagt | |
| sie. Die Ideen der Piraten seien noch nicht wirklich in den anderen | |
| Parteien angekommen. | |
| Und dann sagt sie, das mit der Idee der Selbstabschaffung, das sei eine | |
| „teilkluge Sache“ gewesen: „Es war naiv zu glauben, dass das Thema reicht, | |
| die Frage ist, was man damit macht.“ Die anderen Parteien durchdringen die | |
| Digitalisierung nicht, man sehe das beim Leistungsschutzrecht und der | |
| Netzneutralität. „Für uns ist es viel zu früh, abzudanken.“ Sie sagt imm… | |
| noch „uns“. Und: „Wir“. | |
| „Wir hatten ein System, das besser war, aber keinen Mut, es zu etablieren.“ | |
| Für sie ist das die herbste Enttäuschung: dass ihre Partei die | |
| Onlineabstimmung nicht verbindlich einführte. Also misslang der Beweis, | |
| dass es klappen kann. So sind auch Projekte wie „Liquid Friesland“ | |
| eingeschlafen und von den Onlinetools anderer Parteien ist nichts mehr zu | |
| sehen. | |
| Das Label Piraten hält Weisband für verbrannt. Es hielt den Projektionen | |
| all derer nicht stand, die den frischen Wind gut fanden, die es denen da | |
| oben zeigen wollten, die auf Parteitage fuhren, ohne zu wissen, wer die | |
| Piraten sind. So sieht sie es. Aber von vielem ist sie nach wie vor | |
| überzeugt. „Es war gut, dass wir populistisch waren“, sagt sie. „Es brau… | |
| progressiven Populismus!“ Populismus ohne Fremdenfeindlichkeit. Populismus | |
| mit Alternativen. | |
| Auf der Website von Martin Delius ist inzwischen ein Logo der Linkspartei | |
| zu sehen. Gerade erst war er für eine Woche in Portugal, um an einem | |
| Marxisten-Treffen teilzunehmen. | |
| Er habe viel gelernt, sagt Martin Delius. Das Problem sei gewesen, dass | |
| keine Professionalisierung stattfand. „Geile Inhalte reichen nicht, wenn | |
| man nicht handlungsfähig ist.“ | |
| Im Januar 2016 hat er mit dem Chef der Berliner Linken ein Papier | |
| vorgestellt, in dem es heißt: „Eine Erkenntnis des Jahres 2015 ist – die | |
| Piratenpartei ist tot.“ Zusammen mit 34 weiteren enttäuschten Piraten | |
| unterstützt er nun die Linke. Am Donnerstag vergangener Woche hat Delius | |
| den finalen Schritt gemacht und ist in die Partei eingetreten. | |
| Im Prütt Café spricht eine Frau Marina Weisband an: „Schade, dass Sie nicht | |
| mehr in der Politik sind. Verständlich, aber schade.“ | |
| Weisband lächelt verlegen. Das hört sie öfter. Sie will ein Comeback ja gar | |
| nicht ausschließen. | |
| Aber jetzt hat sie erst mal ein neues Projekt: „Aula“, Liquid Democracy für | |
| Schulen, gerade läuft die Pilotphase. Nebenbei will sie beweisen, dass | |
| verbindliche Onlinebeteiligung funktioniert. Was bei den Piraten nicht | |
| klappte, soll nun im Kleinen ausprobiert werden. Als Vorbereitung auf das | |
| nächste Große. | |
| Was bleibt von den Piraten? Im Prinzip alles, sagt Marina Weisband: Die | |
| Personen sind noch da. Die Fragen sind noch da. Die Antworten sind noch da. | |
| Auch die Farbe Orange ist noch da. Aber die nutzt jetzt nur noch die CDU. | |
| 13 Sep 2016 | |
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