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# taz.de -- Leben in Kiew: Vor dem Krieg sind alle gleich
> In der ukrainischen Hauptstadt ereilt einen der Luftalarm im Supermarkt,
> und die Verkäuferin steckt alle Kunden in den Lagerraum. Eindrücke aus
> Kiew.
Bild: Das Gelände um den Fernsehturm in Kiew nach einem russischen Angriff
Kiew taz | Am Dienstag, dem zweiten Tag nach meiner Ankunft in Kiew, zeigen
sich schon bestimmte Gewohnheiten. Kaum dass ich morgens die Augen geöffnet
habe, greife ich als Erstes zum Telefon und kontaktiere Freunde und
Angehörige, um zu hören, wie sie die Nacht verbracht haben. Danach müssen
unbedingt alle Telegram-Kanäle und Websites gecheckt werden. Wenn man sich
ungefähr auf den neuesten Stand gebracht hat, atmet es sich erstmal
leichter, weil Kiew sich weiterhin stark verteidigt.
Ungeachtet dessen, dass immer mehr Menschen Kiew verlassen und die Kämpfe
bereits in der Umgebung der Stadt stattfinden, ist bislang noch keine Panik
ausgebrochen. „Zum Luftschutzbunker gehe ich mittlerweile schon wie früher
zur Arbeit“, sagt eine Bekannte zu mir. Und eine der besten
Investigativ-Journalistinnen der Ukraine, Kristina Berdynskykh von der
Zeitschrift Nowoje Wremja (Neue Zeit), schrieb kürzlich: „Am vergangenen
Sonntag aß ich abends in einem teuren Restaurant mit asiatischer Küche,
gefüllte Teigtaschen mit Garnelen. Und jetzt gibt es bei mir zum Abendbrot
Instantnudeln und ich schlafe in der Metro.“
Und es ist tatsächlich so: In Kriegszeiten gewöhnt man sich schnell an die
einfachen Dinge. Wenn es im Supermarkt nur noch wenige Lebensmittel gibt,
nimmt man eben das mit, was noch da ist. Konnte man früher zwischen 25
Pastasorten wählen, reicht jetzt die, die man noch findet. Gestern musste
ich Mineralwasser mit Kohlensäure kaufen. Jetzt koche ich eben damit Tee,
Kaffee und Suppe. Man schmeckt keinen Unterschied zu früher. In der
Fleischabteilung lagen einige Stücke Frischfleisch und einige Kilo
Tiefgekühltes.
Die Verkäuferin sagt: „Nehmen Sie alles, was da ist. Die Vorräte an
Tiefkühlfleisch sind auch bald alle. Wann Nachschub kommt, ist völlig
unklar.“ Während dieses Gesprächs war eine Warnung vor möglichen
Luftangriffen zu hören. Alle diese Hunderte Menschen, die in der
Brotschlange standen, mussten schnell irgendwo Schutz suchen. Die
Angestellten des Ladens brachten alle in die Lagerräume. Die Menschen
standen dort dicht an dicht. Niemand geriet in Panik, aber alle waren
wütend.
## Schrank vorm Fenster, Schlafen im Hausflur
„Mögen dieser Putin und Lukaschenko in der Hölle schmoren! Wie ich die satt
habe! Lassen Ukrainer nicht einfach leben“, sagte eine alte Dame in der
Menge, sie war sicher 75.
Kaum aus dem Laden zurück, erreicht einen die Nachricht: Das russische
Verteidigungsministerium wolle die Zentrale des ukrainischen Geheimdienstes
und das Telekommunikationszentrum in Kiew angreifen, angeblich, um die
Ukraine am Verbreiten von Propaganda zu hindern. Erst denkt man noch „Was
für ein Blödsinn“. Aber als diese Nachricht mit der Warnung schließt, die
Menschen, die in der Nähe dieser Objekte leben, müssten sofort ihre Häuser
verlassen, fängt man an, nervös zu werden. Eine Stunde vergeht nach dieser
Meldung, nichts passiert.
Und dann schaue ich aus dem Küchenfenster und sehe, dass es direkt vor
meinen Augen zwei Explosionen nahe dem Fernsehturm im Zentrum von Kiew
gibt. Eine ist weit von meinem Haus entfernt, aber ich sehe sie gut. Alles
ist in roten Rauch gehüllt, aber ich versuche trotzdem zu verstehen, ob der
Fernsehturm noch steht, oder ob sie ihn komplett zerstört haben.
Parallel dazu entstehen in meinem Kopf Gedanken an den Fernsehturm am
Alexanderplatz, den ich vom Fenster meiner Berliner Wohnung gut sehen
konnte. Im Moment der Explosion bricht sofort das Fernsehprogramm ab.
Einige Stunden später kommt die Meldung, dass bei dem Angriff fünf Menschen
ums Leben gekommen und fünf weitere verletzt worden seien. Die Toten waren
Menschen, die gerade im Park von Babyn Jar waren, der neben dem Fernsehturm
liegt.
Mit Beginn der Abenddämmerung blockieren wir die Fenster in der gesamten
Wohnung. Im Schlafzimmer stellen wir einen Schrank vor das Fenster und das
Bett schieben wir näher in Richtung Flur. Und die Fenster des Balkons
verkleiden wir mit dickem Sperrholz. All das wird uns nicht vor einem
direkten Raketeneinschlag ins Haus oder vor der Druckwelle einer Explosion
in der Nähe schützen, aber wenigstens schaffen wir uns so eine winzige
Illusion von Schutz.
Außerdem beschließen wir, in dieser Nacht in Kiew im Hausflur zu schlafen.
Unter den aktuellen Bedingungen sind alle Menschen gleich, ob es nun
Akademiker, Aktivisten oder einfache Arbeiter sind. Jetzt sind alle in
Gefahr.
Kurz vor Mitternacht hört man aus dem Nordwesten Kiews das Grollen von
Kämpfen, und am Horizont sieht man den Widerschein der Explosionen. Gegen
Morgen wird bekannt, dass ukrainische Soldaten einen Konvoi des russischen
Militärs vernichtet haben, der in Richtung Kiew unterwegs war.
Die nördlichen Vororte von Kiew – Irpen, Butscha, Hostomel – liegen in
Trümmern. Vor einigen Tagen wurden Satellitenaufnahmen veröffentlicht, auf
denen man eine 60 Kilometer lange Kolonne von Militärfahrzeugen entlang der
wichtigsten Route aus Belarus nach Kiew sehen konnte. Ungeachtet dessen,
dass die Kämpfe Tag für Tag näher an die Hauptstadt heranrücken und die
russische Offensive im Süden und Osten der Ukraine sich landeinwärts
bewegt, melden sich immer mehr Menschen für die Territorialverteidigung.
Ebenfalls am 2. März wurde bekannt, dass sich der ukrainische Ex-Präsident
Wiktor Janukowitsch, den die Ukrainer als Folge des Euro-Maidan 2014
gestürzt hatten, angeblich in Minsk aufhalte und dass der Kreml ihn als
künftigen Präsidenten einsetzen wolle. Für alle Ukrainer klingt das wie ein
schlechter Scherz. Es ist schwierig, einen verhassteren ukrainischen
Politiker zu finden, denn gerade Janukowitsch beschuldigt man, für alle
Probleme der Ukraine in den vergangenen acht Jahren verantwortlich zu sein.
Aus dem Russischen [1][Gaby Coldewey]
2 Mar 2022
## LINKS
[1] /Gaby-Coldewey/!a23976/
## AUTOREN
Anastasia Magasowa
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