# taz.de -- Lammert über Konflikte in der CDU: „Gelegentlich wird es rustika… | |
> Ist die CDU im Umbruch? Der langjährige Bundestagspräsident Norbert | |
> Lammert spricht über die Grundrente, Facebook und den Frauenmangel der | |
> Partei. | |
Bild: Norbert Lammert arbeitet heute als Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stift… | |
taz: Herr Lammert, Sie waren zwölf Jahre lang Präsident des Bundestags. | |
Seit 2018 sind Sie Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung. Wenn sie auf | |
den [1][heftigen großkoalitionären Streit zur Grundrente] zurückschauen – | |
was kann die Union daraus lernen? | |
Norbert Lammert: Der Streit in der Sache war nötig. Aber ich fürchte, dass | |
diejenigen, die am dringendsten auf diese Regelung gewartet haben, am | |
wenigsten verstanden haben, warum das so lange gedauert hat. | |
Warum war der Streit so wichtig? | |
Das Thema ist überaus komplex. Gerade wenn wir für soziale Themen sensibel | |
bleiben wollen, dürfen wir uns nicht leichtfertig in eine gut gemeinte | |
Großzügigkeit zulasten der Steuerzahler verlieren. Die würde uns nämlich | |
schnell wieder einholen. Und deshalb war es wichtig, sich Zeit für die | |
Klärung des tatsächlichen Bedarfs zu nehmen. | |
CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt hatte beim Thema Grundrente | |
Bundesminister Hubertus Heil als „Konfettikanone“ bezeichnet, | |
CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak die Vorschläge der SPD als „Ideen aus der | |
Mottenkiste“. Ist das der Stil, den die Bürger von der Union erwarten? | |
Diese Art von gelegentlich rustikaler, auch polemischer Auseinandersetzung | |
hat es im Deutschen Bundestag immer gegeben. Und das kann auch gerne so | |
bleiben. Die imaginäre rote Linie wird dann überschritten, wenn es sich | |
erkennbar um persönliche Verunglimpfungen, Beleidigungen, Verletzungen | |
handelt. Und diese treten insbesondere in den sogenannten sozialen Medien | |
nicht nur gelegentlich, sondern massenhaft auf. | |
Also ein Niveau-Limbo für erhöhte Aufmerksamkeit? | |
So funktioniert das Transmissionssystem der sozialen Medien: Klickzahlen | |
werden zur Grundlage der vermeintlichen Relevanz einer Meinungsäußerung | |
gemacht. Nach dieser Logik wird das, was nicht von vielen wahrgenommen | |
wird, für irrelevant gehalten. Zugespitzt formuliert: Die sicherste | |
Methode, nicht wahrgenommen zu werden, besteht mittlerweile darin, etwas | |
schlicht Vernünftiges zu sagen. | |
Im Vorwort zu [2][„Entgleist?“, einer aktuellen Publikation Ihrer Stiftung] | |
zur Sprach- und Debattenkultur, schreiben Sie von Verhaltensmustern, die | |
mit „eigener politischer Ratlosigkeit“ zu tun haben. Sie mutmaßen, dass | |
Akteure „die Auseinandersetzung in der Sache überfordert“. | |
Das ist ein selbstkritischer Hinweis. Wir müssen uns die Frage gefallen | |
lassen, ob das Insistieren auf Stilfragen nicht auch die Ausflucht | |
gegenüber einer vielleicht als unangenehm empfundenen Auseinandersetzung in | |
der Sache ist. | |
Sind die politischen AkteurInnen mit Sachfragen überfordert? | |
Aus meiner Sicht ja, und zwar nicht nur gelegentlich. Wenn man Politik auf | |
das Spektrum zwischen Erwartungen und Möglichkeiten projiziert, ist sie | |
regelmäßig überfordert. Weil sich zwischen der Vielzahl an Erwartungen und | |
den immer begrenzten Möglichkeiten notwendigerweise eine Differenz auftut. | |
Da sind wir wieder beim Kommunikationsproblem. Der Erklärungsbedarf für | |
Politik wird immer größer … | |
… aber die Aufmerksamkeitsspanne immer kürzer. | |
Auch da besteht ein Zusammenhang zwischen der Kurztaktigkeit unseres | |
heutigen Informationsverhaltens und der durchschnittlichen | |
Aufmerksamkeitsbereitschaft, auf die politische Debatten rechnen können. | |
Wie nutzen Sie Twitter und Faceboook? Schauen Sie selbst rein oder lassen | |
Sie gucken wie die Kanzlerin? | |
Vom Alter her bin ich zwangsläufig – und subjektiv glücklicherweise – | |
analog sozialisiert. Wenn ich Dinge schnell erfassen, eingrenzen will, | |
bediene ich mich natürlich des Internets. Aber ich beziehe die | |
Informationen, mit denen ich umgehe, nach wie vor im Wesentlichen aus | |
professionell aufbereiteten Medien. Das sind Tages- und Wochenzeitungen und | |
Fernsehnachrichten. Was ich digital beziehe, ist für mich deren Ergänzung, | |
kein Ersatz. | |
Lesen Sie Printzeitungen? | |
Ja, selbst den Pressespiegel, in dem die wichtigsten Artikel | |
zusammengefasst sind, lese ich lieber gedruckt als elektronisch. Da kann | |
ich Unterstreichungen oder Notizen machen und mir Artikel herausnehmen, | |
wenn ich sie für eine andere Gelegenheit brauchen kann. Das macht es für | |
mich langsamer, aber auch gründlicher. | |
Am Freitag hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei der | |
Konrad-Adenauer-Stiftung ihre Europa-Rede gehalten. Der Bundespräsident hat | |
eine Rede zum 9. November gehalten. Erreichen derlei hochmögende Formate in | |
medial rasanten Zeiten überhaupt noch ihre Adressaten? | |
Das ist eine Frage, mit der wir uns hier ständig beschäftigen. Wie | |
erreichen wir die adressierte Zielgruppe am besten? Klar ist: Es gibt kein | |
Format, das allen Ansprüchen genügt. Dass die klassischen Veranstaltungen | |
aber ausgedient hätten, ist mein Eindruck nicht. Zumal sie beispielsweise | |
auch noch „gestreamt“ werden und Ausschnitte im Fernsehen laufen. | |
Die Adenauer-Stiftung hat gerade eine Studie zur Repräsentanz von Frauen in | |
Politik und Gesellschaft veröffentlicht. Demnach wünschen sich 87 Prozent | |
der Menschen deutlich mehr Frauen in Parlamenten und Parteiämtern. Wird | |
Politik besser, wenn Frauen sie machen? | |
Nicht unbedingt. Aber dass Politik über Jahrhunderte fast ausschließlich | |
Männersache war, hat sie offensichtlich nicht besser gemacht. Das ist | |
historisch belegt. Es entspricht jedoch demokratischen Mindeststandards, | |
dass die Wählerinnen und Wähler selbst entscheiden, von wem sie | |
repräsentiert sein wollen. Wenn sich dabei Männer für Frauen entscheiden | |
und Frauen für Männer, leuchtet mir das eine so ein wie das andere. | |
Interessant ist eine weitere Zahl in der Studie. Je älter die Befragten, | |
desto größer ist deren Überzeugung, dass Frauen Politik positiv verändern. | |
Dass jüngere Frauen statistisch in geringerem Umfang als ältere Männer zu | |
dieser Einsicht kommen, hat mich auch überrascht. | |
In der CDU, der Ihre Stiftung nahesteht, sind nur 26 Prozent der Mitglieder | |
Frauen, in der CSU 20, auch in der Unionsfraktion sitzen nur 20 Prozent. | |
Kann man sagen: Je konservativer die Partei, desto männlicher ihre | |
Repräsentanten? | |
Historisch wird man das nicht bestreiten können. Aber auch solche | |
unbefriedigenden Relationen wie die von Ihnen genannten haben eine | |
konservative Partei wie die CDU nicht daran gehindert, früher als | |
irgendeine andere Partei eine Frau zur Vorsitzenden zu wählen. Und dann als | |
ihre Nachfolgerin noch eine Frau. Im Übrigen bei einem Delegiertenanteil | |
von 30 Prozent Frauen beim Parteitag – und obwohl es zwei männliche | |
Alternativen gegeben hätte. Das relativiert doch einiges. | |
Die Frauen-Union will vom Bundesparteitag beschließen lassen, dass das seit | |
23 Jahren geltende freiwillige 30-Prozent-Quorum verbindlich wird und | |
Frauen im Reißverschlussverfahren auf die Wahllisten kommen. Das wäre für | |
die Union revolutionär. Was ist Ihre Haltung dazu? | |
Als Parteimitglied sage ich dazu, dass der Vorschlag klug ist, in Würdigung | |
dieser Diskussion zu dieser und anderen Fragen eine Satzungskommission | |
einzusetzen mit dem Auftrag, eine Regelung zu finden, die sowohl den einen | |
wie den anderen Aspekten Rechnung trägt: also die fehlende Balance zu | |
verbessern und gleichzeitig nicht durch obligatorische Vorgaben das Recht | |
von Wählern und Parteimitgliedern zu beschneiden, sich ihre Repräsentanten | |
souverän zu wählen. Das halte ich für klüger, als aus der Hüfte heraus eine | |
Kampfabstimmung für oder gegen Quoren oder Paritäten zu machen. | |
Was Sie vorschlagen, bedeutet doch Arbeitskreis und Wiedervorlage. Auf | |
einer Veranstaltung Ihrer Stiftung im Oktober war die Ungeduld der | |
Unionsfrauen deutlich zu spüren. Die Chefin der Frauen-Union, Widmann-Mauz, | |
sagte: „Die Hälfte müssen Frauen sein.“ | |
Ich verstehe die Ungeduld. Allerdings ahne ich, dass wir dann mit weiteren | |
Formen von Ungeduld konfrontiert sein werden, die ich ebenfalls für | |
verständlich halte. Es wäre klug, noch einmal darüber nachzudenken, ob es | |
jenseits obligatorischer Quoren intelligentere Verfahren gibt, die eine | |
Verbesserung der angemessenen Repräsentanz von Frauen und Männern, Jüngeren | |
und Älteren, Einheimischen und Zugezogenen, Gläubigen und Ungläubigen | |
praktikabel macht. Und zwar ohne sich am Ende wie Gulliver selbst gefesselt | |
zu haben, das aber mit bestem Gewissen. | |
Markus Söder ist bei der Frauenfrage kürzlich seine ganze Parteitagsregie | |
aus dem Ruder gelaufen. Bei der CSU wandten sich Delegierte, auch Frauen, | |
gegen die Listenlösung. Ein Warnschuss an die CDU-Frauen oder ein Ansporn? | |
Eher die Bestätigung der Klugheit jener Vorgehensweise, die ich für den | |
bevorstehenden Parteitag der CDU gerade geschildert habe. | |
Ist die Union bereit für mehr Frauen? Im Streit über die Führungsqualitäten | |
von Vorsitzender und Kanzlerin sind die Männerbünde deutlich sichtbar. | |
Wenn dann am Ende Parteitage trotzdem Frauen als Vorsitzende wie als | |
Kanzlerkandidatin wählen, ist die Welt doch fast wieder in Ordnung. Wobei | |
noch mal ernsthaft: Als Rechtfertigung für den zu geringen Anteil an | |
weiblichen Abgeordneten reicht das natürlich nicht. | |
Viele CDU-Politiker beklagen den geringen Anteil von Frauen in ihrer | |
Partei. Sie würden angeblich sehr gern mehr Frauen nach vorn schicken, aber | |
da seien leider keine. Was sind die Gründe für diesen Mangel? | |
Dass Frauen benachteiligt werden, wenn sie kandidieren, ist nicht meine | |
politische Lebenserfahrung. Die höchsten Hürden liegen eher vor der | |
Kandidatur. Unsere Studien zeigen, dass Frauenrepräsentanz nicht da am | |
höchsten ist, wo es die stärksten formalen Regelungen gibt. Sondern da, wo | |
die Frauenerwerbstätigkeit höher ist. Das hat offenkundig mit | |
gesellschaftlichen Realitäten, beispielsweise mit der tatsächlichen | |
Vereinbarkeit von Beruf und Familie, zu tun. Auch Politik ist jenseits der | |
kommunalen Ebene ein Beruf, nicht eine sympathische Freizeitbeschäftigung. | |
Dem muss die CDU zweifelsohne besser Rechnung tragen. | |
15 Nov 2019 | |
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[2] https://www.kas.de/web/die-politische-meinung/ausgaben/detail/-/content/ent… | |
## AUTOREN | |
Anja Maier | |
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