# taz.de -- LGBT in China: Die unsichtbaren 70 Millionen | |
> Die Situation der Homosexuellen in China ist besser geworden. Doch noch | |
> immer ist der familiäre Druck stark. | |
Bild: Bisher nur fiktiv in Peking möglich: die Ehe zwischen Frauen | |
Eine ungewöhnliche Nachricht kursierte im Januar in chinesischen Medien: | |
Erstmals in der Geschichte der Volksrepublik China ließ ein Gericht eine | |
Klage auf Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu. Das Gericht | |
in Changsha, der Hauptstadt der Provinz Hunan, wird in sechs Monaten | |
entscheiden, ob der Kläger und sein Freund das Recht bekommen zu heiraten. | |
Würde ausgerechnet das autoritär regierte China als erstes asiatisches Land | |
die Ehe für Homo-, Bi- und Transsexuelle, die sogenannten LGBT öffnen, wäre | |
das eine Sensation. Schon seit 1997 wird Homosexualität in China nicht mehr | |
als strafbare Handlung betrachtet, 2001 wurde sie von einer offiziellen | |
Liste der Geisteskrankheiten gestrichen. | |
In den vergangenen zwei Jahren hat sich auch die öffentliche Debatte stark | |
verändert. Als die prominente Soziologin Li Yinhe im Dezember 2014 | |
öffentlich verkündete, dass ihr derzeitiger Lebenspartner transsexuell sei, | |
zollte ihr erstaunlicherweise die Zeitung People‘s Daily Respekt. Das | |
Sprachrohr der Kommunistischen Partei rief die Chinesen auf, Lis | |
Lebensweise zu respektieren. | |
Die Klage in Hunan ist nicht der erste rechtliche Schritt im Kampf von LGBT | |
für mehr Toleranz: 2014 ging ein junger Mann gerichtlich gegen ein | |
Krankenhaus vor, in dem er auf Drängen seiner Eltern einer Therapie zur | |
„Behandlung“ seiner Homosexualität unterzogen wurde. Und eine Studentin | |
verklagte das Bildungsministerium, weil dieses Publikationen autorisiert | |
hatte, in denen „Heilbarkeit“ von Homosexualität suggeriert wurde. | |
## Überraschende staatliche Toleranz | |
„Fortschrittlich“ sei das Anliegen der Frau, befanden – wieder überrasch… | |
– die staatsnahen Medien. Die staatlichen Zensoren wiederum erlaubten 2015 | |
erstmals die öffentliche Ausstrahlung des chinesisch-französischen Films | |
„Seek McCartney“, der von der romantischen Beziehung zweier Männer handelt. | |
Woher kommt diese scheinbare Toleranz einer Führung, die unlängst | |
Feministinnen verhaften ließ, die gegen häusliche Gewalt demonstrierten? | |
Vielleicht liegt es daran, dass es sich hier um Individuen handelt und | |
nicht um Gruppen, die auf offener Straße Missstände anprangern. | |
Konservative Schätzungen gehen davon aus, dass fünf Prozent der Menschheit | |
homosexuell sind. In China wären dies etwa 70 Millionen Menschen – eine | |
nicht zu vernachlässigende Gruppe. Der Kommunistischen Partei fällt es | |
zunehmend schwer, ihre Bürger an sich zu binden. Durch eine zumindest | |
neutrale Haltung gegenüber den LGBT will sie vermutlich vermeiden, sich | |
einer weiteren Bevölkerungsgruppe zu entfremden. | |
Trotz aller ermutigenden Signale sind Schwule, Lesben, Bi- und | |
Transsexuelle in der Volksrepublik immer noch weit davon entfernt, ihre | |
Identität frei leben zu können. Grund dafür ist die Familientradition: | |
Sogar organisierte Schwule und Lesben outen sich zu Hause selten – aus | |
Rücksicht auf den Ruf und die Gefühle der Eltern. | |
## Konfuzianisch inspirierte Kindespflicht | |
Wer sich doch traut, muss mit dramatischen Folgen rechnen. Manche Eltern | |
schleppen ihre Kinder zum Arzt, um sie mit Elektroschocks „heilen“ zu | |
lassen. Den Eltern leibliche Enkel zu schenken – diese konfuzianisch | |
inspirierte Kindespflicht prägt weiterhin das gesellschaftliche Klima. Die | |
(erst kürzlich aufgehobene) Ein-Kind-Politik hat den Druck noch verstärkt. | |
Ein Einzelkind kann nicht hoffen, dass Geschwister für den | |
Familiennachwuchs sorgen. Vor allem nach dem 27. Geburtstag nimmt der Druck | |
zu. Eltern wollen nicht, dass ihr Kind eine „Reste-Frau“ oder ein „kahler | |
Ast“ wird, wie unverheiratete und kinderlose Frauen und Männer abfällig | |
genannt werden. Für die meisten bleibt die Ehe als Lebenskonzept daher | |
alternativlos. | |
Während vor der Reform- und Öffnungsphase Chinas das straff organisierte | |
Kollektiv wenig Spielraum für uneheliche Romanzen – weder homo- noch | |
heterosexuelle – ließ, haben Homosexuelle es heute leichter, Freiräume zu | |
finden: Viele haben ihre ländliche Heimat verlassen, um in den Metropolen | |
Arbeit zu finden. Dort können sie ihrer Sexualität ungestörter nachgehen. | |
Früher trafen sich homosexuelle Männer in einschlägigen Teehäusern und | |
Parks. Jüngere Großstadtbewohner haben heute einen weiteren Radius: Sie | |
suchen auf Apps nach sexuellen Abenteuern und verabreden sich in Schwulen- | |
und Lesbenbars. | |
In den urbanen Zentren lehnen junge Homosexuelle eine Heirat mit einem | |
heterosexuellen Partner zunehmend ab. Die Betroffenen suchen andere | |
pragmatische Lösungen, um gesellschaftlichen Normen zu genügen: Auf | |
Internetbörsen suchen Lesben und Schwule einander, um zu heiraten und | |
Kinder zu bekommen. | |
## Pragmatismus ersetzt Toleranz | |
Erstaunlich für westliche Betrachter ist, dass auch viele Eltern | |
pragmatisch an die Sache herangehen. So übersieht bei arrangierten | |
Hochzeiten einer Lesbe mit einem Schwulen die anwesende Großfamilie | |
mitunter geflissentlich offensichtliche Ungereimtheiten. Die oberste | |
Kindespflicht, Nachwuchs zu zeugen, können auch eine Lesbe und ein Schwuler | |
erfüllen, so lautet offenbar die unausgesprochene Übereinkunft. | |
Inzwischen wächst auch die Zahl der Eltern, welche die Homosexualität ihrer | |
Kinder stillschweigend akzeptieren: Zu Besuch bei der lesbischen Tochter | |
übersieht die Mutter lieber, dass beide Frauen in einem Bett schlafen. Der | |
Freund des schwulen Sohns wird zwar zum Essen eingeladen, aber hartnäckig | |
als dessen „Bruder“ tituliert. | |
Doch weil Schwule, Lesben, Bi- und Transsexuelle sowie ihre Eltern über das | |
Thema lieber schweigen, fehlt den LGBT die öffentliche Sichtbarkeit: In | |
einer Umfrage vom vergangenen Jahr unter 4.000 Chinesen gaben nur 21 | |
Prozent der Stadtbewohner an, offen lebende Homosexuelle persönlich zu | |
kennen. In derselben Erhebung unterstützten nur 39 Prozent der Befragten | |
die Öffnung der Ehe für Homosexuelle. Fast drei Viertel waren aber dafür, | |
dass LGBT bei der Jobsuche und auf der Arbeit nicht diskriminiert werden | |
dürften. Die Studie weist darauf hin, dass Befragte mit persönlichem | |
Kontakt zu LGBT deren Anliegen wesentlich toleranter gegenüberstehen. | |
Die chinesische Eigenschaft, durch das Meiden sensibler Themen den | |
Gesichtsverlust des Gegenübers zu vermeiden, prägt auch den Umgang der LGBT | |
untereinander. Viele Männer signalisieren sich in den einschlägigen Bars | |
nur durch Gesten oder verbale Floskeln, ob sie eine passive oder aktive | |
Rolle beim Sex bevorzugen. Auf den Einsatz von Kondomen wird oft | |
verzichtet, weil niemand dem Partner das Gefühl geben will, man verdächtige | |
ihn einer ansteckenden Krankheit. | |
## Erhöhtes HIV-Risiko | |
Dies hat fatale Folgen: In China haben homosexuelle Männer die | |
Drogenabhängigen als Hauptrisikogruppe für HIV-Infektionen abgelöst. | |
Mangelnde Sexualaufklärung hat dazu beigetragen, dass 2015 die Zahl der mit | |
HIV diagnostizierten 15- bis 24-Jährigen um 35 Prozent stieg. Vor allem auf | |
dem Land denken immer noch viele, dass Kondome nur vor ungewollten | |
Schwangerschaften schützen. | |
Der Regierung in Peking ist die bedenkliche Entwicklung bewusst. Ein | |
schwuler Unternehmer überzeugte 2012 den damaligen Vizepremier und heutigen | |
Regierungschef Li Keqiang davon, dass HIV nur durch den Kampf gegen | |
gesellschaftliche Diskriminierung gewonnen werden könne. Um dem Anstieg der | |
Infektionen entgegenzusteuern, unterstützt Peking sogar LGBT-Organisationen | |
finanziell. Diese können auch Männer erreichen, die den staatlichen | |
HIV-Teststellen misstrauen. Die Regierung sieht diese Gruppen aber nicht | |
als zivilgesellschaftliche Akteure, sondern nur als Helfer für ihre eigene | |
Politik. Die Gruppen agieren daher unauffällig. Nur im Internet erfahren | |
junge Lesben und Schwule die genauen Adressen von Organisationen, bei denen | |
sie sich testen und aufklären lassen können. | |
Als Unterstützung für die schwul-lesbische Szene Chinas sollte die | |
staatliche Toleranz aber nicht missverstanden werden. Peking will vor allem | |
eine weitere Ausbreitung von HIV unterbinden. Ein allzu offenes Agieren | |
Homosexueller – etwa durch eigene Paraden zum Christopher Street Day – | |
würde die Regierung sicher unterbinden. Für LGBT gilt dasselbe wie für | |
andere organisierten Gruppen, die Unabhängigkeit fordern: Sie sind der | |
autoritären Regierung unheimlich. | |
Selbst wenn das Gericht in Hunan in einem halben Jahr überraschenderweise | |
für eine Öffnung der Ehe votierte, wäre damit das größte Problem der | |
Homosexuellen nicht gelöst: Der Wunsch nach Enkeln wird – besonders in | |
Zeiten sinkender Geburtenraten – vorerst nicht aus den Köpfen der Eltern | |
verschwinden. Sie spare sicherheitshalber auf eine Leihmutter, erklärte | |
eine Chinesin im Gespräch. Sie vermutet, dass ihr Sohn schwul ist: „Er kann | |
später mit einem Mann zusammen sein, damit habe ich kein Problem. Nur | |
Kinder muss er haben!“ | |
30 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Simon Lang | |
Claudia Wessling | |
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