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# taz.de -- Flucht aus Nordkorea: Anders im Land der Gleichen
> Jang Yeong-jin macht als erster Nordkoreaner seine Homosexualität
> öffentlich. Er entdeckte seine sexuelle Orientierung erst spät.
Bild: Erzwungene Gleichförmigkeit: Jang Yeong-jin fühlte sich in Nordkorea ni…
Als Jang Yeong-jin vom südkoreanischen Geheimdienst verhört wird, stehen
die Beamten vor einem schier unlösbaren Rätsel: Wieso würde ein Mann aus
gutem Hause, mit einer angesehenen Arbeit und bildhübschen Frau an seiner
Seite, nur eine solch lebensbedrohliche Flucht auf sich nehmen? Gehungert
habe der Nordkoreaner nicht, das schließen die Agenten bald aus, und nur
wenig deutet auf eine politische Verfolgung hin. Nach Wochen voll quälend
langer Verhöre scheint nur mehr ein Motiv überzubleiben: Ob er jemanden in
seiner Heimat umgebracht habe, fragen die Beamten ein ums andere Mal. Dabei
hätten sie falscher gar nicht liegen können.
„Ich habe mich ohne Ende für die Wahrheit geschämt“, sagt der 55-Jährige
heute. Doch die Wahrheit, die erschloss sich auch ihm damals nur
schemenhaft.
Mit großem Stolz preist das Kim-Regime seine Bevölkerung als homogenste der
Welt, ethnisch wie auch ideologisch. Eindrücklich zelebriert sie das bei
den Arirang-Massenspielen, der größten Stadion-Choreografie der Welt:
Zehntausende Nordkoreanerinnen tanzen dort im Gleichschritt, haben dieselbe
Hautfarbe, Körpergröße, ja scheinbar auch dieselbe Gesinnung. Wie muss es
sich in einer solchen Gesellschaft wohl anfühlen, anders zu sein als die
anderen? Jang sagt über sein früheres Leben: „Es gab für mich keinen Traum,
keine Hoffnung, keine Zukunft.“
Als kleiner Steppke schlendert er fast täglich die drei Kilometer vom
Elternhaus bis zur Küste, wo er den Möwen beim Fliegen zuschaut und
stundenlang darüber rätselt, welches Land wohl am anderen Ende des Meeres
liegt. Sobald ein Flugzeug am Horizont auftaucht, verfinstert sich Jangs
Gemüt – wohl wissend, dass er niemals in einem solchen sitzen würde. „Was
ist nur in deinem Kopf los?“, fragt ihn die Mutter einmal: „Was soll später
bloß aus dir werden?“
Die Vormittage in der Schule sind meist mit Aufsätzen gefüllt, epische
Lobeshymnen an Kim Il Sung, den Staatsgründer und Übervater der Nation.
Schon damals denkt sich Jang: Wieso soll ich schreiben, wie glücklich ich
bin – wenn ich doch jeden Morgen nur eine mickrige Reissuppe zu essen
kriege? Wenn ich erwachsen werde, so schwört er sich, möchte ich endlich
schreiben, was ich wirklich denke.
In der Schule lernt Jang auch das erste Mal etwas über die Liebe. Sie sei
das Schönste auf der Welt, müsse revolutionär sein, bis zum Äußersten
gehen. Liebe, das sei eine Widmung fürs Leben.
Seon-cheol ist der Neue in der Klasse, einen Kopf größer als die anderen,
und hat ein rundliches, ebenmäßiges Gesicht. Die beiden werden auf Anhieb
Freunde, halten Händchen auf dem Schulweg, werden unzertrennlich. Oft isst
Jang bei Seon-cheols Familie zu Abend, nie will er nach Hause gehen,
sondern stets bei seinem neuen Freund übernachten. „Wenn Seon-cheol mich
angeschaut hat, haben seine Augen vor Leidenschaft gebrannt“, erinnert sich
Jang: „Heute denke ich, er war die Liebe meines Lebens.“
## Schwule? Gibt es nicht
Offiziell gibt es keine Homosexuellen in Nordkorea, weil das Volk über eine
„gesunde Denkweise“ und „gute Sitten“ verfüge. So vermeldete es die
staatliche Nachrichtenagentur im Frühjahr letzten Jahres, als der offen
schwule Anwalt Michael Kirby der Weltöffentlichkeit seinen UN-Bericht über
die Menschenrechtsverletzungen Nordkoreas präsentierte. Als „ekelhafter,
alter Lüstling“ wurde der Australier damals beschimpft.
Laut Aussagen vieler nordkoreanischer Flüchtlinge hat das einfache Volk gar
keine wirkliche Vorstellung von Homosexualität. Auch Jang Yeong-jin hatte
nie zuvor davon gehört, als er mit 17 Jahren seinen Wehrdienst antritt.
Und dennoch sei es damals ganz selbstverständlich gewesen, gar eine Frage
des Überlebens, dass die Rekruten während bitterkalter Winter eine
gemeinsame Decke teilen. „Mich lobten die Kameraden wegen meiner
Schönheit“, sagt Jang, „mein Gesicht, so sagten sie mir, sei weich wie das
einer Frau.“
„Revolutionäre Kameradschaft“ nennt sich im Propagandajargon die Bindung
der Soldaten, die – zehn Jahre auf engem Raum zusammenlebend – weder ihre
Familien besuchen dürfen noch dem anderen Geschlecht näherkommen können.
Für Jang Yeong-jin ist es vor allem eine Zeit der Sehnsucht. Während der
Nachtdienste kreisen seine Gedanken einzig um Seon-cheol.
Auch Jahre später, in der Hochzeitsnacht, muss er unentwegt an ihn denken.
Seine Ehefrau, vorgestellt durch die drängelnde Mutter, lässt er damals
unberührt. Nach Jahren der Kinderlosigkeit werden die Ratschläge der Eltern
dringlicher. Später verlangen sie handfeste Erklärungen, schließlich
fordern sie Arztbesuche ein. Dass ihr Sohn kein Interesse an Frauen hat,
wollen sie schlicht nicht hören.
„Meine Frau war schlau, hübsch und gebildeter als ich. Wieso sollte sie mit
mir unglücklich werden? Sie hatte einen besseren Mann verdient, jemand, der
sie aufrichtig liebt“, sagt Jang. Er überredet sie nach neun Jahren Ehe zur
Scheidung, doch die Behörden lehnen ab. Nur wenn ich das Land verlasse,
denkt Jang damals, können wir beide glücklich werden.
Es ist ein kalter Märztag, der Schnee liegt noch auf den Straßen, als
Seon-cheol unverhofft vor Jangs Tür steht. Auch er ist mittlerweile
verheiratet und studiert wie sein alter Jugendfreund in Pjöngjang. Jangs
Frau bereitet den beiden ein üppiges Mahl zu, sie trinken gemeinsam
Reisschnaps und schwelgen in alten Erinnerungen. Nicht lange dauert es, bis
sie auch ein altes Ritual aus Kindheitstagen wieder aufnehmen: Als es
draußen bereits dunkel ist, bittet Jang seinen Gast, über Nacht zu bleiben.
Weil nur ein Zimmer im Haus beheizt ist, schlafen die drei im selben
Zimmer. Genau wie damals, denkt sich Jang.
Und doch liegt er stundenlang wach, beobachtet nervös den Mondschein aus
dem Fenster und lauscht seinem heftig pochenden Herzen. Erst als seine Frau
fest eingeschlafen ist, schleicht er sich heimlich unter Seon-cheols Decke
und ergreift seine Hand. Doch dieser schnarcht bloß, reglos, unbeirrt. Wenn
Seon-cheol auch nur ähnlich für mich empfinden würde, denkt er sich, dann
würde er meinen Händedruck erwidern, mir zumindest ein kleines Zeichen
geben. In jenem Moment erlöscht sein letzter Funke Hoffnung. „Hätte er mich
damals umarmt“, sagt Jang heute, „dann wäre mein Leben wohl ganz anders
verlaufen.“
Im Winter 1996 schwimmt er durch den Tumen Fluss nach China. Doch weder an
der südkoreanischen Botschaft in Peking noch an den Konsulaten in Qingdao
und Schanghai wird ihm Asyl gewährt. In seiner Verzweiflung entscheidet
sich Jang für die gefährlichste aller Fluchtrouten: wieder zurück nach
Nordkorea und über die innerkoreanische Grenze. In fünf Tagen marschiert
Jang unbemerkt durchs Land, und wie durch ein Wunder überwindet er auch die
acht Wachposten, drei Drahtzäune und unzähligen Landminen an der Grenze.
Bislang ist es nur einer Handvoll nordkoreanischer Zivilisten gelungen,
diese Demarkationslinie zu durchqueren. „Lieber wollte ich sterben, als ein
Leben ohne Hoffnung zu führen“, sagt Jang.
## Nicht allein
Südkoreanische Reporter feiern ihn als Helden, zu Dutzenden interviewen sie
ihn. Als Jang die Geschichten über ihn durchblättert, landet er zufällig
bei einem Artikel über die verdeckte Schwulenszene in Seoul. Homosexualität
sei keine psychische Krankheit, steht dort geschrieben, genau wie die
Adressen von Stammtischen und Schwulenvereinen. Ein Erweckungserlebnis sei
es gewesen, zu erfahren, mit seiner sexuellen Orientierung nicht allein zu
sein. Mit fast 40 Jahren geht der Nordkoreaner erstmals eine romantische
Beziehung ein. Die Liebe fürs Leben hat Jang, nach 18 Jahren in seiner
Wahlheimat Seoul, noch nicht gefunden. Doch Hoffnung, sagt er, die habe er
noch immer.
Manchmal denkt Jang auch heute noch an seinen Jugendfreund in Nordkorea:
„Wenn wir beide in Seoul geboren wären, vielleicht hätten wir einander
lieben können.“
5 Dec 2015
## AUTOREN
Fabian Kretschmer
## TAGS
Nordkorea
Homosexualität
Schwul
Flucht
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
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