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# taz.de -- Familienzusammenführungen in Korea: Am Ende bleibt ein altes Foto
> Die letzten noch lebenden Angehörigen der getrennten Familien in Nord-
> und Südkorea bangen um ein Wiedersehen.
Bild: Familienzusammenführung in den Diamantbergen Nordkoreas.
Seoul taz | Wenn die Südkoreaner während der Chuseok-Feiertage kollektiv
ausziehen, um ihre Ahnen am Familiengrab zu ehren, schließt sich Shim Gu
Seob für gewöhnlich in seine Apartmentwohnung ein, schaltet den Fernseher
aus und zieht die Vorhänge zu.
An diesem 27. September jedoch ist der 81-Jährige mit seinem Sohn gen
Norden gefahren, stets entlang des Han-Flusses, bis dieser von Stacheldraht
und Schießständen eingezäunt wird, die Straßen immer schmaler werden und
schließlich vorm Niemandsland der Demarkationslinie abrupt enden.
Dort hat Shim seinen Blick auf die ockerfarbene Ödnis am Horizont
gerichtet, sich dreimal tief bis zum Boden verbeugt und seiner verstorbenen
Eltern gedacht. Heimat, das ist für den Koreaner mit den graumelierten
Haaren nur mehr eine vage Erinnerung.
Etwa an die verschneiten Weihnachtsabende, die der Junge mit seiner Mutter
in der Kirche von Hamheung verbracht hat, einer Küstenstadt im Nordosten
der koreanischen Halbinsel. Mit 14 Jahren wurde er von den Eltern in Seoul
zur Schule geschickt, wenige Monate bevor ein fürchterlicher Bürgerkrieg
ausbrach, der nicht nur vier Millionen Menschen das Leben kosten, sondern
auch Hunderttausende Familien trennen sollte. „Als ich realisiert habe,
dass wir uns nie mehr wiedersehen können, habe ich tagelang nur geweint“,
sagt Shim.
## 50 Kilometer entfernt: Krieg
Im Gewimmel der Zehn-Millionen-Metropole Seoul lässt sich nur allzu leicht
vergessen, dass 50 Kilometer Luftlinie entfernt noch immer ein kalter Krieg
ausgetragen wird. Erst im August wurden erneut Warnschüsse über die Grenze
gefeuert. Es waren die gravierendsten innerkoreanischen Spannungen seit
mehr als fünf Jahren, nach deren Ende jedoch das Kim-Regime in Aussicht
stellte, worauf viele südkoreanische Senioren so verzweifelt hoffen: Am 20.
Oktober sollen erstmals wieder die seltenen Familienzusammenführungen
aufgenommen werden.
Gut 20 davon wurden seit der koreanischen Annäherung um die
Jahrtausendwende abgehalten, die letzten vor anderthalb Jahren. Allein das
Auswahlverfahren ist brutal: Ein willkürlicher Computer-Algorithmus wählt
aus mehr als 66.000 Bewerbern 500 Familienmitglieder aus, die wiederum je
nach körperlicher Gesundheit und Alter auf 250 reduziert werden. Nachdem
die nordkoreanischen Behörden die Verwandten jenseits der Grenze ausfindig
machen konnten, werden nur mehr 100 Familien übrig bleiben.
Drei Tage lang werden diese in ein Ferienresort im nordkoreanischen
Diamantengebirge geladen, wo sie in einem Festsaal bei plärrender
Volksmusik zwischen Sicherheitsbeamten und Fernsehteams so etwas wie
Intimität herstellen müssen. Ein Gespräch unter vier Augen ist nur für zwei
Stunden erlaubt – und die müssen dann für ein Leben reichen. Wer nämlich
einmal für eine Familienzusammenführung ausgewählt wurde, fällt
unwiderruflich aus dem Lotteriesystem heraus.
Dabei versterben jedes Jahr nach Angaben des Roten Kreuzes rund 3.600
Angehörige – also zehn Südkoreaner pro Tag, die nie ihre Heimat betreten
konnten. In Nordkorea, wo die Menschen laut Amnesty International im
Schnitt 12 Jahre früher als jene im Süden sterben, dürften nur mehr wenige
tausend Angehörige am Leben sein.
## Kaum Interesse an der Wiedervereinigung
Shim Gu Seob hat von seiner Familie immerhin noch ein Foto, das er wie
einen Talisman bei sich führt: Es zeigt die Mutter im traditionell
koreanischen Gewand, die ernst dreinschauenden Buben in Sonntagshemden und
die Schwester mit einem üppig gefüllten Blumenkorb. Wenn er sich das
Bildnis anschaut, muss der Südkoreaner unweigerlich daran denken, wie sein
Leben wohl im Norden verlaufen wäre. „Sicher wäre ich verhaftet worden, bei
meinem Charakter besteht gar kein Zweifel daran. Schon gegenüber meinen
Lehrern war ich damals immer der Aufmüpfigste“, sagt Shim und lächelt. Im
Süden brachte er es mit seiner forschen Art als Beamter beim
Kulturministerium zu bescheidenem Wohlstand.
An diesem klaren Herbstmorgen lädt er in sein Bürozimmer, das von
Archivmappen und Papierstapeln überquillt. An der einzigen freien Wand
hängt eine Korea-Karte, die ein geeintes Land zeigt, das es längst nicht
mehr gibt. „Für meinen Sohn ist all das nur Theorie, der kann meine
Sehnsucht nach einer Wiedervereinigung kaum mehr begreifen“, sagt Shim.
Tatsächlich sinkt mit jeder weiteren Generation auch das Interesse an einem
geeinten Korea: Noch vor 20 Jahren wünschten sich das in Umfragen mehr als
90 Prozent aller Südkoreaner, bei den unter 30-Jährigen ist es mittlerweile
weniger als die Hälfte. Nordkorea wird von der südkoreanischen Jugend
zunehmend als fernes Ausland betrachtet – und eine Wiedervereinigung gar
als wirtschaftliche Bedrohung für den eigenen Wohlstand.
## Nicht so schlimm wie Nordkorea
Für Garri Kasparow ist das nicht weniger als ein „ungeheurer Skandal“. Der
ehemalige russische Schachweltmeister ist nach Seoul gereist, um mit seiner
Menschenrechtsorganisation für humanitäre Hilfe in Nordkorea zu werben.
Seine Rede klingt derart zornig, dass den Journalisten auf der
Pressekonferenz die Irritation deutlich anzusehen ist: „Südkorea gibt 1,7
Milliarden Dollar für internationale Entwicklungsprojekte aus, aber hat
keinen Cent über für seine Nachbarn im Norden.“
Auch die Unternehmen würden sich aus ihrer Verantwortung stehlen: Samsung
spendet Tausende Smartphones in Afrika und Hyundai verteilt Winterjacken an
frierende Kinder in Detroit, doch gleichzeitig vergessen die heimischen
Unternehmen die Bevölkerung in Nordkorea. Dabei sei das Kim-Regime das
übelste unter den Schurkenstaaten, meint Kasparow: „Wenn wir uns damals in
der Sowjetunion Trost zusprechen wollten, haben wir stets gesagt: Zumindest
ist es hier nicht so schlimm wie in Nordkorea.“
Wie zum Beweis droht Kim Jong Un nur wenige Stunden nach Kasparows
Ansprache, die Familienzusammenführungen platzen zu lassen, nachdem die
südkoreanische Präsidentin Park Geun Hye bei einem Vortrag vor den UN in
New York auch die Menschenrechtsverletzungen des Nordens angesprochen hat.
Sollte das Regime wiederum den mehrfach angekündigten Raketenstart wahr
machen, wird der Süden wohl die Schotten für Familienzusammenführungen
dicht machen. „Es ist eine Schande, dass beide Koreas die Treffen mit
politischen Forderungen verknüpfen“, meint Shim Gu Seob. „Wenn der Staat
nichts mehr für uns tun kann, muss man das eben selbst in die Hand nehmen.“
Und das tut der Südkoreaner bereits seit den neunziger Jahren – auch für
sich selbst.
## Drei Tage für ein Leben
Über einen chinesischen Mittelsmann hatte er 1992 Briefkontakt zu seinem
drei Jahre jüngeren Bruder aufnehmen können und zwei Jahre später, mithilfe
von Schleppern, ein einmaliges Wiedersehen auf chinesischem Boden
organisiert. Drei Tage lang haben die Brüder sich unterhalten, umarmt und
unentwegt gelacht. „Beide haben wir unser Bestes gegeben, traurige Themen
zu vermeiden“, sagt Shim. Die übrigen Geschwister sind bereits gestorben.
Bis heute hat Shim mehr als hundert solcher „illegaler“ Familientreffen
organisiert. Seit jedoch die Grenzkontrollen strikter geworden sind und
seine Gesundheit nicht mehr mitspielt, konzentriert er sich auf das
Vermitteln von Briefkontakten oder schleust über chinesische Händler
Mobiltelefone an Familienangehörige im Grenzgebiet.
Dass er seinen eigenen Bruder noch einmal wiedersehen wird, glaubt Shim
längst nicht mehr. Gleich nach ihrem Treffen wurde dieser in Nordkorea
verhaftet und sitzt seither in einem Arbeitslager für politische Gefangene.
20 Oct 2015
## AUTOREN
Fabian Kretschmer
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