# taz.de -- Geschichtsschreibung in Südkorea: Kampf gegen Kommunismus | |
> Südkoreas Regierung will ein nationalistisches Geschichtsbuch verfassen. | |
> Lehrer und Schüler wehren sich gegen die Zensur. | |
Bild: Schüler einer Klasse in Südkorea schreiben einen Test. | |
Dem Schüler Oh Gwang Min* muss wahrlich niemand mehr erklären, wie tief die | |
Geschichte eines Landes seine Bevölkerung spalten kann. Auch wenn er erst | |
17 Jahre alt ist. Von seinen Eltern hat er gehört, dass er auf seine Nation | |
stolz sein müsse: Als er ein Kind war, führte ihn die Mutter durch alte | |
Paläste und Tempelanlagen. Heute schaut die Familie in trauter Einigkeit | |
historische Seifenopern im Abendprogramm. | |
Sobald sich das Tischgespräch jedoch an die jüngere Vergangenheit | |
herantastet, an die Diktatoren, die die Eltern in ihrer Jugend noch erlebt | |
haben, kippt die Stimmung jedes Mal aufs Neue. | |
Vor allem wenn der Name Park Chung Hee fällt, des koreanischen Übervaters, | |
der sein Heimatland mit militärischer Härte vom bitterarmen Agrarstaat zu | |
einer der größten Volkswirtschaften der Welt katapultiert hat. Dafür müsse | |
man doch dankbar sein, meint der Vater mit stolzer Stimme. Sein Sohn | |
erwidert: „Trotzdem finde ich, dass wir auch klar die Folterungen | |
ansprechen müssen und dass eine Entschädigung für die Betroffenen längst | |
überfällig ist.“ | |
Um die Auslegung der Geschichte Südkoreas ist eine Kontroverse entbrannt, | |
die bis in die Familien hineinwirkt. Seitdem vor fünf Jahren erstmals | |
Geschichtsbücher privater Medienkonzerne zugelassen sind, geißeln Politiker | |
der konservativen Saenuri-Partei die Bücher als zu „links“. So auch die | |
Tochter des einstigen Diktatoren, die amtierende Präsidentin Park Geun Hye. | |
Sie hat angekündigt, ein einheitliches Geschichtsbuch zu entwerfen. | |
## Sitzstreik in Seoul | |
Wegen dieser Pläne ergreift Schüler Gwang Min an diesem sonnigen | |
Samstagmittag mit zittrigen Händen ein Mikrofon. Dutzende Gleichaltrige | |
haben sich vor ihm in einer Fußgängerzone im Stadtzentrum Seouls zum | |
Sitzprotest eingefunden. Adrett in Schuluniformen gekleidet, mit Krawatte, | |
Pullunder und Jackett, schauen sie gebannt zu ihrem ersten Redner auf. | |
„Bereits während der japanischen Kolonialzeit und später bei der | |
Demokratiebewegung waren es die Schüler und Studenten des Landes, die | |
zuerst auf die Straßen gezogen sind“, ruft Gwang Min in die Menge: „Auch | |
dieses Mal liegt es an uns, die Proteste anzuführen – schließlich sind wir | |
diejenigen, die am meisten davon betroffen sind!“ | |
Die Pläne der konservativen Regierungspartei sehen vor, ihnen ab 2017 ein | |
einheitliches Geschichtsbuch vorzusetzen. Die Autoren will sie dafür selbst | |
auswählen. Die Schulbuch-Kontroverse wird in Südkorea bereits derart hitzig | |
diskutiert, dass das Bildungsministerium in aller Stille ein 25-köpfiges | |
„Spezialkommando“ eingerichtet hat, um den Diskurs unter Lehrern, Eltern | |
und Bürgerinitiativen zu überwachen. | |
Der Proteststurm hält die Präsidentin jedoch nicht von ihrem Vorhaben ab: | |
Umgerechnet dreieinhalb Millionen Euro hat sie jüngst für die Recherche- | |
und Schreibkosten des künftigen Lehrwerks zugeteilt, und zwar aus einem | |
Reservefonds, um ein mögliches Veto aus dem Parlament zu umgehen. | |
Ein „historischer Krieg“ habe begonnen, verkündete der Vorsitzenden der | |
Saenuri-Partei Kim Moo Sung jüngst bei einer Parteiveranstaltung vor seinen | |
Anhängern. Um den „Feinden in den Reihen der progressiven Kräften“ zu | |
begegnen, kämpfe er selbst als „Oberbefehlshaber“ an vorderster Front. | |
Alles für das Ziel, den Schülern des Landes „die korrekte Geschichte“ | |
beizubringen. Die Lehrer des Landes bestünden nämlich „zu 90 Prozent aus | |
Linken“. | |
Einer von ihnen ist Cho Han Kyung. Der Geschichtslehrer lehnt in seinem | |
Schreibtischstuhl und lächelt. „In Südkorea ist es wahrlich schwer, einen | |
Mittelweg zu finden“. Von der Ferne dringt die herbstliche Abendsonne ins | |
Lehrerzimmer der Frauenoberschule in Bucheon, einer Stadt im Großraum | |
Seouls. Die Idylle trügt, denn unter Herrn Cho und seinen Kollegen brodelt | |
es dieser Tage gewaltig. Erst am Freitag haben die zwei größten | |
Lehrergewerkschaften des Landes zur Petition gegen das Regierungsvorhaben | |
aufgerufen, und zum ersten Mal seit deren Bestehen hat jedes einzelne | |
Mitglied unterschrieben. Sogar die Leitartikler der hoffnungslos | |
zerstrittenen Zeitungslandschaft schreiben seit Tagen unisono gegen den | |
Versuch der Regierung an, Kontrolle über die nationale Geschichtsschreibung | |
zu erlangen. | |
Um diese ungewohnte Einigkeit zu verstehen, reicht ein Blick auf Cho Han | |
Kyungs Schreibtisch, auf dem alle acht derzeit zugelassenen | |
Geschichtsbücher zu zwei ungleichen Stapeln sortiert sind. „Das hier sind | |
die Lehrwerke, die nach Ansicht der Regierung zu links sind“, sagt der | |
50-jährige – und deutet auf sieben von acht Büchern. | |
Dabei hat das Bildungsministerium die Richtlinien für den | |
Geschichtsunterricht bereits penibel formuliert. Es ist ein eng geschnürtes | |
Korsett, welches die historischen Ereignisse bis auf deren Wortlaut | |
festlegt: Dass Park Chung Hees Machtübernahme etwa als Putsch zu bezeichnen | |
ist und keinesfalls als Revolution und dass seine wirtschaftlichen | |
Leistungen ebenso zu würdigen sind wie die Menschenrechtsverletzungen. | |
„Wissenschaftlich betrachtet gibt es im Grunde wenig umstrittene Punkte“, | |
sagt Geschichtslehrer Cho. | |
Auf politischer Ebene sieht das jedoch anders aus. Von Kollaborateuren | |
während der japanischen Kolonialzeit oder von Massenerschießungen von | |
Zivilisten im Koreakrieg wollen die konservativen Abgeordneten nichts | |
lesen. Die Präsidentin ließ über ihren Sprecher mitteilen: „Im Sinne der | |
nationalen Einheit brauchen wir ein korrektes, ein stolzes Geschichtsbuch.“ | |
Im Zentrum der Kontroverse steht die Frage, ob und wie über den | |
verfeindeten Nachbarstaat unterrichtet werden soll. Technisch gesehen haben | |
die beiden Koreas seit Ende des Krieges 1953 noch immer kein | |
Friedensabkommen unterzeichnet, und wer südlich der Demarkationslinie | |
Nordkorea „preist, fördert oder propagiert“, riskiert gemäß Nationalem | |
Sicherheitsgesetz bis zu sieben Jahre Haft. Vor drei Jahren hat es einen | |
Fotografen getroffen, der lediglich ein Tweet des offiziellen | |
Nordkorea-Accounts weitergeleitet hatte – „ironisch“, wie er vor Gericht | |
vergeblich beteuerte. | |
## Wie Nordkorea | |
Auch während der Pressekonferenz im Bildungsministerium ist die Paranoia | |
des Kalten Krieges zu spüren. Einige der derzeitigen Lehrbücher könnten | |
„ideologische Kontroversen auslösen und Schüler verwirren“, sagt | |
Vize-Minister Kim Dong Won. Für die „intellektuell unreifen“ Jugendlichen | |
sei es gefährlich, nordkoreanischen Propaganda-Zitaten ausgesetzt zu sein – | |
trotz der kennzeichnenden Fußnoten. Im Unterricht bliebe schließlich nur | |
wenig Raum zur Reflexion: „Von daher ist es unvermeidlich, dass wir den | |
Geschichtsunterricht wieder auf die richtige Spur bringen. Das wird den | |
sozialen Konflikten ein Ende setzen.“ Unter den ausländischen Reportern | |
raunt ein Schmunzeln ob der Ironie solcher Aussagen: Nordkorea würde wohl | |
wenig anders argumentieren, um sein staatliches Geschichtsbuch zu | |
rechtfertigten. | |
Wer das entsprechende Schulbuch aufschlägt, wird unweigerlich enttäuscht: | |
Von über 365 Seiten sind weniger als eine Handvoll dem Kim-Regime gewidmet. | |
Kern des Anstoßes sind gerade einmal zehn Textzeilen, in denen anhand | |
zweier Originalzitate die Ideologie Nordkoreas erklärt wird – und | |
unmissverständlich kritisiert. Warum also der ganze Wirbel? | |
„Die Regierung weiß, dass das Thema auf die Bevölkerung noch immer wie ein | |
rotes Tuch wirkt. Nordkorea ist nur Mittel zum Zweck, um das Ziel eines | |
staatlichen Lehrbuchs zu erreichen“, meint Lehrer Cho. | |
Die politischen Beobachter sind uneinig, ob die Regierung damit vor allem | |
auf die Wahl im kommenden Jahr schielt, um ältere Wählerschichten zu | |
gewinnen. Längst werden jedoch die Stimmen lauter, die eine persönliche | |
Mission der Präsidentin vermuten. Bereits 2007 schrieb diese in ihrer | |
Autobiografie, wie sehr sie getrieben davon sei, mit dem schlechten Ruf | |
ihres Vaters aufzuräumen. | |
Geschichtslehrer Cho Han Kyung kann der Schulbuch-Kontroverse zumindest | |
eine gute Seite abgewinnen: „Endlich wird in koreanischen Klassenzimmern | |
wieder diskutiert“. | |
30 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Fabian Kretschmer | |
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