# taz.de -- Kurden in Berlin: Die Angst um Rojava | |
> Unter Berliner Kurden ist der Krieg der Türkei gegen die autonome | |
> Kurden-Region gerade das große Thema. Und die Angst vor der deutschen | |
> Politik. | |
Bild: Bzad Dher von der Vertretung der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord… | |
Berlin taz | Unter Berliner Kurden geht die Angst um. Seit dem Sturz des | |
Assad-Regimes in Syrien werden in der deutschen Politik immer mehr Stimmen | |
laut, die fordern, syrische Flüchtlinge sollten zurückgehen in ihre Heimat. | |
Gleichzeitig [1][intensiviert die türkische Regierung ihren Krieg] gegen | |
die Demokratische Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES), | |
allgemein als Rojava bekant. | |
„Was in Rojava passiert, beeinflusst meine Psyche, das nimmt mich sehr | |
mit“, sagt Mert Özkaraman. Der studierte IT-Berater aus Rudow meint die | |
nicht endenden Angriffe der Türkei und der mit ihr verbündeten | |
Dschihadistenmiliz „Syrische Nationalarmee“ (SNA) auf Rojava, aktuell vor | |
allem auf den Tişrîn-Staudamm nahe Kobane. Er sagt: „Ich verstehe jetzt, | |
was Palästinenser gesagt haben zu Gaza: Hey, seht her, da sterben Menschen | |
aus meiner Community!“ | |
Die taz trifft den 30-Jährigen im Café der Freien Kurdischen Gemeinde | |
Nav-Berlin in Reinickendorf. Am frühen Abend ist noch wenig los, vereinzelt | |
sitzen Männer mit Schnauzbart an Resopaltischen, trinken Tee, lesen | |
Zeitung. Einer von ihnen ist Hüseyin Yılmaz, Co-Vorsitzender des Vereins. | |
Der 68-Jährige kam erst 2019 nach Berlin, spricht daher nicht so gut | |
Deutsch; Özkaraman, der in Berlin geboren ist, soll für die Reporterin | |
übersetzen. | |
Özkaraman und Yılmaz gehören zwei sehr unterschiedlichen Generationen an. | |
Yılmaz ist ein Kurde, wie man ihn sich klischeeartig vorstellt, vor allem | |
wegen seines buschigen Schnurrbarts. Er war Bürgermeister der | |
ostanatolischen Stadt Ağrı und aktiv in den diversen kurdischen Parteien, | |
die in der Türkei immer wieder verboten werden, bevor er aus politischen | |
Gründen fliehen musste. Bis heute ist er ein glühender Verehrer von | |
Abdullah Öcalan: Erst der PKK-Gründer habe „aus dem Nichts das kurdische | |
Bewusstsein geschaffen“, sagt er. Über die Geschichte der kurdischen | |
Verfolgung seit dem Ende des osmanischen Reiches kann Yılmaz aus dem Stand | |
einen langen Vortrag halten. | |
## In der Schule „gedisst“ | |
Der Jüngere ist in Berlin aufgewachsen, ohne zu wissen, dass er Kurde ist. | |
Seine Eltern, erzählt Özkaraman, hatten Angst vor Problemen, und haben ihre | |
Kinder türkisch erzogen. Da sein Name türkisch ist, fiel er auch in der | |
Schule unter türkischstämmigen Mitschülern nicht weiter auf. „Meine | |
kurdische Identität habe ich erst in der 5. Klasse entdeckt, als meine | |
Tante mir erzählte, dass wir Kurden sind.“ Sie habe ihm über die kurdische | |
Geschichte erzählt und er habe angefangen, sich damit zu befassen. | |
Richtig bekennen mochte er sich aber lange nicht zu seinem Kurdisch-sein, | |
erzählt Özkaraman. Eine Freundin, die in der 7. Klasse ein Öcalan-Poster im | |
Zimmer hatte, sei sofort in der Klasse „gedisst“ worden. „Es gab damals | |
viel Geläster von türkischen Berlinern über Kurden“, und so habe er sich | |
geschämt zu sagen, dass er Kurde ist. Bis heute kann er kein Kurdisch, für | |
einen Sprachkurs fehlt ihm die Zeit. | |
Von sich selbst sagt der 30-Jährige, der in seiner Freizeit als Taekwando- | |
und Kickbox-Trainer arbeitet: „Ich bin Berliner, Europäer, ich fühle mich | |
irgendwo als Deutscher aber auch als Kurde.“ Sein Kurdischsein lebt er vor | |
allem bei seinen Besuchen im Kurdischen Gemeinde-Zentrum in der | |
Residenzstraße aus, wo es neben dem Café auch Räume für Feste und | |
Veranstaltungen sowie einen Jugendtreff gibt. Hier tauscht er sich aus | |
mit anderen Kurden, auch mit jenen, die gerade erst nach Berlin geflohen | |
sind oder vor zwei, drei Jahren. „Ich versuche, vor allem jungen Menschen | |
zu helfen, zum Beispiel wie sie eine Ausbildung oder ein Studium anfangen | |
können.“ | |
Wie viele Kurden es in Berlin gibt, weiß niemand so genau, weil Kurden | |
nicht als solche registriert werden, sondern als Türken, Syrer, Iraker | |
oder Iraner – eben als Staatsbürger der vier Länder, in denen sie vor allem | |
beheimatet sind. Verschiedentlich liest man, es sollen etwa 100.000 sein, | |
auch Yılmaz nennt diese Zahl und sagt, der Verein Nav-Berlin habe sie | |
recherchiert. Was nicht so leicht sein dürfte, wenn Kurden sich, wie | |
Özkaramans Eltern, teilweise gar nicht zu erkennen geben. | |
## Mehr Flüchtlinge aus der Türkei | |
Fest steht: Die meisten Kurden hierzulande kommen aus der Türkei. Die | |
türkische Regierung bekämpft „ihre“ Kurden seit rund 50 Jahren; unter dem | |
Deckmantel des Kampfs gegen den „Terror“ der PKK geht sie gegen jegliche | |
Bestrebungen kurdischer Selbstbestimmung vor. Dass die Repression seit | |
einiger Zeit wieder forciert wird, sieht man auch an den Asylzahlen: 2023 | |
haben 61.000 Menschen aus der Türkei, die zweitgrößte Gruppe nach Syrern, | |
in Deutschland Asyl beantragt – [2][die übergroße Mehrheit davon waren laut | |
Pro Asyl Kurden]. 2024 war die Türkei das drittwichtigste Herkunftsland mit | |
31.000 Asylanträgen. Die meisten Asylanträge sind allerdings erfolglos, | |
weil das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und viele Gerichte keine | |
staatliche Verfolgung sehen. | |
Syrische Kurden sind die zweitgrößte Gruppe, sie kamen vor allem mit dem | |
Bürgerkrieg ab 2015. [3][Im Jahr 2023 stellten sie über 22.000 | |
Asylanträge]. | |
Egal, woher sie kommen, die Lage in Rojava ist gerade das Thema. Yılmaz, | |
der türkisch-kurdische Politiker, findet große Worte: „Wir sehen uns einem | |
Völkermord durch den türkischen Staat gegenüber – und die ganze Welt schaut | |
tatenlos zu.“ Tausende Menschen in der Region um den kaputt geschossenen | |
Tişrîn-Staudamm seien seit Wochen ohne Strom und Wasser. Aufgrund der | |
permanenten Bombardierungen durch die Türkei lebten Zehntausende in Zelten, | |
Weizenlager seien zerstört, ebenso Ölfelder. „Europa, in dem Menschenrechte | |
so viel gelten, müsste eigentlich aufschreien“, findet er. | |
Angesichts dieser Lage macht ihn die Debatte um die Rückkehr der | |
Flüchtlinge wütend: Wie könnten Menschen in eine Region zurückgeschickt | |
werden, in der es keine Sicherheit gebe, die [4][teils in Schutt und Asche] | |
liege. „Dort kann man nicht leben!“ Ohnehin sei es für die Kurden hier | |
schmerzhaft, diesem Krieg zusehen zu müssen. „Man kann so wenig machen, | |
außer unsere Stimmen zu erheben, zu mahnen, dass die Welt hinschauen muss“, | |
sagt Yılmaz. | |
## „Die Propaganda Erdogans“ | |
Özkaraman erhebt seine Stimme und zwar gegenüber türkischen Freunden, was | |
ihm viel Ärger einbringt. „Ich appelliere an meine Community, dass sie die | |
Gewalt gegenüber den Kurden wahrnehmen und sich dagegen positionieren“ – | |
aber er bekomme nur vereinzelten „Support“ und „viel Contra“: Viele sag… | |
und schrieben auf Social Media, die Türkei kämpfe nicht gegen die Kurden, | |
sondern gegen den IS und die PKK. „Das ist die Propaganda Erdoğans, die sie | |
nachbeten.“ Özkaraman hat dagegen ein sehr positives Bild von Rojava, auch | |
wenn er noch nie dort war: „Da wird gerade eine neue Gesellschaft | |
aufgebaut“, die Menschen führten ein sehr aktives politisches Leben auf | |
kommunaler Ebene. | |
Über die emanzipativen Aspekte von Rojava kann Bzad Dher noch viel mehr | |
erzählen. Der 30-Jährige, der einen vollen schwarzer Vollbart trägt, ist | |
Mitglied der syrisch-kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) und | |
arbeitet in der Vertretung von DAANES, eine Art Konsulat, die in einem | |
Kreuzberger Souterrainladen residiert. Er sagt: „Dass Rojava bestehen | |
bleibt, ist nicht nur für die Kurden wichtig. Es ist eine Hoffnung für | |
viele Menschen als Gegenprojekt zu Erdoğan, den syrischen Islamisten, zu | |
Iran.“ | |
Dher kommt aus Hasaka in Rojava und floh 2015. Als der IS seine Stadt | |
angriff, sei es für ihn als politischen Aktivisten zu gefährlich geworden, | |
erzählt er. Heute studiert er Politik und Philosophie an der FU und ist bei | |
DAANES zuständig für Öffentlichkeitsarbeit. In dieser Funktion versucht er | |
Optimismus zu versprühen, dass Rojava den Krieg mit der Türkei und den | |
Konflikt mit der neuen HTS-Regierung in Damaskus überlebt, sagt aber auch: | |
„Es ist zu früh, um zu sagen, wie das ausgeht.“ | |
Und er warnt vor der westlichen Hoffnung, mit der neuen Regierung sei gut | |
Staat zu machen: „Die Ideologie der HTS ist wie die des IS.“ Er hoffe sehr, | |
dass der Westen Druck mache, damit sich die HTS an Menschen- und | |
Frauenrechte halte. | |
## 10 Jahre Befreiung von Kobane | |
Letztlich, sagt er, habe auch der Westen ein Interesse daran, dass Rojava | |
bleibt: allein schon wegen des IS-Gefängnisses nahe Hasaka, wo die | |
multiethnische Armee, die Syrian Democratic Forces (SDF), 12.000 IS-Kämpfer | |
und deren Familien interniert hält. „Rojava ist ein großer Schutz für | |
Europa vor dem IS.“ Dher erinnert daran, dass es kurdische Kämpfer und | |
Kämpferinnen waren, die unter großen Opfern seinerzeit den IS besiegt | |
haben. | |
Zum zehnjährigen Jubiläum der Befreiung der Stadt Kobane vom IS gab es | |
vorigen Samstag eine Demonstration mit einigen hundert Teilnehmern, die vom | |
Alexanderplatz zum Bundestag zog. Neben einem Meer aus gelb-rot-grünen | |
Rojava-Flaggen zeigten viele Transparente, wie wichtig Rojava für Frauen | |
ist. „Defending Kobane means Defending Women’s Revolution“, war etwa zu | |
lesen, ein Frauen-Block trug das Motto der iranischen Frauen-Revolution | |
„Jin-Jian-Asadi“ als Buchstabenkette. „Die Errungenschaften dieser | |
Revolution sind heute erneut bedroht“, so eine Rednerin. | |
Mit dabei war auch eine Gruppe, die die taz zufällig ein paar Tage zuvor im | |
Café des Nav-Berlin kennenlernt. An einem Tisch sitzen zehn junge Frauen, | |
die angesichts ihrer großteils blonden Haare auffallen. Sie gehörten zur | |
Gruppe „Gemeinsam kämpfen“, stellen sie sich vor, einer | |
internationalistisch-feministischen Kampagne, die „die Ideen der Revolution | |
der selbstverwalteten Region Nord- und Ostsyriens in Deutschland | |
bekannter“ machen möchte. | |
Ins Kurden-Café in Reinickendorf gingen sie gerne, sagt eine von ihnen, | |
Luise Heim, hier träfen sie jede Menge unterschiedliche Menschen, mit denen | |
man sich austauschen könne. Was sie an Rojava so begeistere? Die junge Frau | |
sprudelt los und erzählt von den drei Säulen der kurdischen | |
Freiheitsbewegung: Frauenbefreiung, Basisdemokratie und Ökologie. Sie | |
findet: „Wir als Internationale können viel lernen von der kurdischen | |
Freiheitsbewegung.“ | |
31 Jan 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Konflikt-in-Syrien/!6059934 | |
[2] https://www.proasyl.de/news/in-der-tuerkei-verfolgt-in-deutschland-abgelehn… | |
[3] https://mediendienst-integration.de/artikel/kurden-in-deutschland.html | |
[4] /Demo-gegen-die-Besatzung-in-Syrien/!6056857 | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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