# taz.de -- Kritik an „Subaltern Studies“: Keinen blassen Schimmer | |
> Vivek Chibber liefert eine so überzeugende wie fundierte Kritik an den | |
> weit verbreiteten postkolonialen Behauptungen unserer Zeit. | |
Bild: Reproduziert der Postkolonialismus den Orientalismus, den er eigentlich k… | |
Mode und Trends kommen und gehen. So verhält es sich auch in der | |
Wissenschaft. Seit einigen Jahrzehnten gehören Postkoloniale Theorien in | |
der Akademie zum guten Ton. Zentral bei diesem breiten Spektrum | |
theoretischer Zugänge ist die Kritik am Eurozentrismus, also der | |
ideologischen Beurteilung außereuropäischer Gesellschaften nach | |
europäischen Vorstellungen, sowie an kolonialer Ideologie und ökonomischem | |
Determinismus. Die führenden Theoretiker*innen beanspruchen, die Quellen | |
des Handelns lokaler Bevölkerungen, der „Subalternen“, ans Licht geholt und | |
der Kultur wieder einen zentralen Stellenwert für die Gesellschaftsanalyse | |
eingeräumt zu haben – insbesondere durch ihre Betonung der kulturellen | |
Besonderheit des „Ostens“ und des „Südens“. | |
Dort würde die „Moderne“ einen anderen Weg einschlagen als in Europa und | |
nicht die gleichen Institutionen herausbilden. Im Zentrum steht die | |
Behauptung, dass eine tiefe Bruchlinie zwischen den westlichen | |
kapitalistischen Nationen und der postkolonialen Welt verläuft. | |
Gerade nach dem Niedergang des akademischen Marxismus erfreute sich der | |
Postkolonialismus unter linken Studierenden großer Beliebtheit. Führende | |
Vertreter*innen der postkolonialen Studien haben darüber hinaus immer | |
wieder betont, dass sie mehr seien als bloße Theorie; sie sehen sich selbst | |
als eine Form von Praxis oder gar als Bewegung. | |
In ihren Anfangsjahren richtete sich dieser Impuls natürlicherweise gegen | |
die Strukturen der kolonialen Beherrschung. In jüngster Zeit haben die | |
postkolonialen Studien ihren Bereich jedoch auf die gesellschaftlichen | |
Verhältnisse im allgemeineren Sinne erweitert. | |
Die These ist starker Tobak | |
Der New Yorker Soziologieprofessor Vivek Chibber ist nun angetreten, die | |
Subaltern Studies, sein Paradebeispiel für postkoloniale Theorie, | |
marxistisch geschult zu kritisieren – an ihnen lässt er kein gutes Haar. | |
Chibber macht sich auf seinen knapp 400 Seiten viel Arbeit, die | |
Argumentation der postkolonialen Theorie nachzuvollziehen und dann Schritt | |
für Schritt zu widerlegen. Das ist manchmal etwas mühsam und langatmig zu | |
lesen. Was kritisiert er nun? | |
Chibber vertritt in seinem Buch die These, dass die postkoloniale Theorie | |
nicht nur empirisch fehlerhaft sei, sondern genau den Orientalismus | |
wiederbelebe, den sie angeblich kritisieren wolle. Sie sei daher nicht nur | |
unfähig, die Entwicklung der postkolonialen Welt zu erklären, sondern stehe | |
auch einer emanzipatorischen Politik im Wege, die sie zu unterstützen | |
meint. Starker Tobak! | |
Folgt man Chibbers Analyse, scheitern die Subaltern Studies, weil sie das | |
Verhältnis von Kapitalismus und Moderne systematisch falsch verstehen. | |
Subalternistische Theoretiker*innen identifizieren den Kapitalismus mit | |
seinen erst in jüngerer Zeit entstandenen liberalen Erscheinungsformen. | |
Statt den liberalen, demokratischen Kapitalismus als ein neues Phänomen zu | |
betrachten, das durch Jahrhunderte des Klassenkampfes geschaffen wurde, | |
machen sie diese Besonderheit zu einem Teil ihrer grundlegenden Definition | |
des Systems. Da der Kapitalismus derart eingeschränkt definiert wird, lässt | |
sich natürlich leicht behaupten, dass man es im Osten überhaupt nicht mit | |
Kapitalismus oder höchstens einer unechten Version zu tun habe. | |
Ironie in der Argumentation | |
Chibber entkräftet die These, wonach das Kapital bei seiner Ankunft in der | |
kolonialen Welt seine universalisierende Mission – die Mehrwertproduktion – | |
aufgegeben habe. „Was jedoch unter der Herrschaft des Kapitals | |
universalisiert wird, ist nicht das Streben nach einer konsensuellen und | |
integrierenden politischen Ordnung, sondern der Zwang der | |
Marktabhängigkeit“, so Chibber. Kapitalismus bedeutet Abhängigkeit vom | |
Markt. Dem widerspricht nicht das Fortbestehen archaischer | |
Machtverhältnisse, der Rückgriff auf traditionelle Symbole, die Stabilität | |
von Bündnissen auf der Basis von Kastenzugehörigkeit oder Verwandtschaft – | |
all dies lässt sich mit der weltumspannenden Tendenz des Kapitals in | |
Einklang bringen. | |
Die Postkoloniale Theorie behaupte, universalisierende Kategorien würden zu | |
einer homogenen sozialen Landschaft führen. Dem widerspricht Chibber: | |
„Universal wird mit homogen gleichgesetzt.“ Für ihn bietet die abstrakte | |
Logik des Kapitalismus, die Marx mit dem Begriff der abstrakten Arbeit zu | |
erfassen versuchte, die Möglichkeit, eine ungeheure Vielfalt an sozialen | |
Identitäten innerhalb der Gesellschaften zu erfassen. Das Kapital muss sich | |
nicht zwangsläufig jede Gesellschaft zum exakten Ebenbild formen, es | |
reicht, wenn die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft sichergestellt ist. | |
Lokale Differenzen oder Eigenheiten stehen dem nicht im Wege, sondern | |
können sogar bewusst reproduziert und sogar erzeugt werden. Einige | |
Mitglieder des Kollektivs der Subaltern Studies haben diese Möglichkeit | |
kategorisch ausgeschlossen. | |
Die Ironie der Subaltern Studdies besteht, so Chibber, nun darin, dass sie | |
sich „zwar als das neue Gesicht der radikalen Kritik im Zeitalter des | |
globalen Kapitalismus präsentieren“, aber in der Argumentation „zentrale | |
Elemente der konservativen Ideologie wiederbeleben.“ Völlig unterschätzt | |
wird die Fähigkeit des Kapitalismus, Heterogenität nicht nur zu tolerieren, | |
sondern aktiv zu fördern. | |
Chibbers Urteil fällt damit auch eindeutig aus: „Wenn eine Theorie keinen | |
blassen Schimmer davon hat, wie der Kapitalismus funktioniert, kann ihr | |
Anspruch, marxistische oder andere radikale Analysen zu ersetzen, natürlich | |
nicht ernst genommen werden.“ Postkoloniale Theorie scheitere nicht nur mit | |
ihrer Analyse des Kapitalismus, sie könne auch kein Vorreiter der | |
antikolonialen oder antiimperialistischen Kritik sein, weil sie einige der | |
schlimmsten Formen von orientalistischer Mythologie wiederauferstehen | |
lasse. | |
Marxismus kann mehr beitragen | |
Chibber nimmt die Argumente seiner akademischen Gegner ernst und kennt sich | |
in der Thematik aus. Ebenso fundiert ist seine erfrischende und klare | |
Kritik an den Subaltern Studies – gerade aus marxistischer Sicht. Politisch | |
wird er dann, wenn er „zwei Universalismen“ verteidigt, von denen die | |
Moderne beherrscht wird. | |
Auf der einen Seite der oben beschriebene universelle Trieb des Kapitals, | |
unser Leben zu beherrschen und uns auf seiner Jagd nach Profit | |
gegeneinander auszuspielen. Auf der anderen Seite aber auch die gemeinsame | |
Menschlichkeit, die uns über Kulturen, Sprachen und Religionen hinweg | |
verbindet. | |
Wenn wir mit dem Aufbau einer humanen Welt vorankommen wollen, die an die | |
Stelle der zerfallenden neoliberalen Ordnung treten kann, dann ist die | |
Anerkennung dieser Gemeinsamkeiten unverzichtbarer Ausgangspunkt. Hierzu | |
kann der Marxismus immer noch mehr beitragen als die Postkolonialen | |
Theorien – allen Moden und Trends zum Trotz. | |
10 May 2019 | |
## AUTOREN | |
Christopher Wimmer | |
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