# taz.de -- Kritik an Spahns Intensivpflegegesetz: „Dann will ich nicht mehr … | |
> Wer 24-Stunden-Pflege mit Beatmung benötigt, soll künftig stationär | |
> versorgt werden. Betroffenenverbände laufen Sturm dagegen. | |
Bild: Mehr als 60 Personen mit und ohne Behinderungen protestierten gegen Spahn… | |
Berlin taz | Jan Grabowski, 53, lebt mit Ehefrau, Tochter und Enkelsohn | |
zusammen. „Selbstbestimmung“ sei ihm wichtig, erklärt der Betriebswirt. | |
Genauer gesagt schreibt er das Wort „Selbstbestimmung“, indem er mit den | |
Augen über ein Buchstabenfeld wandert und die Buchstaben oder Silben nur | |
durch den Blick aktiviert. Grabowski ist mit einem Dutzend anderer | |
RollstuhlfahrerInnen zur Bürgersprechstunde von | |
[1][Bundesgesundheitsminister Jens Spahn] (CDU) gekommen. Denn Spahn hat | |
ein Gesetz auf den Weg gebracht, das Schwerstkranke buchstäblich in | |
Todesangst versetzt. | |
[2][Kommt das Gesetz], teilt Grabowski mit, bedeute dies den „Tod“ für ihn. | |
„T-o-d“, es dauert eine Weile, bis er das buchstabiert hat, denn die | |
Spracherkennung des Computers hat dieses Wort nicht gleich parat. Das | |
Gleiche wie Grabowski erklären auch andere RollstuhlfahrerInnen, die in das | |
Gebäude der Bundespressekonferenz in Berlin-Mitte gekommen sind, darunter | |
die Bauingenieurin Ulrike Ludewig. „Ich würde nicht mehr leben wollen“, | |
buchstabiert Ludewig, 51. Die Architektin Anja Clement schreibt: „Ich | |
selbst habe beschlossen, bei der Unterbringung in einer stationären | |
Einrichtung meinem Leben ein Ende zu setzen.“ | |
Wie kann das passieren, fragt man sich fassungslos an diesem Sonntag bei | |
der Bürgersprechstunde, dass ein Minister den Referentenentwurf eines | |
Gesetzes auf den Weg bringt, der Tausende Schwerstkranke in Panik versetzt? | |
Denn man glaubt den InterviewpartnerInnen sofort, dass sie es ernst meinen | |
mit der Ankündigung des Suizids, sollten sie ins Heim. | |
Alle drei RollstuhlfahrerInnen haben ALS, amyotrophe Lateralsklerose, eine | |
degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems, die nach und nach | |
zur Lähmung des ganzen Körpers führt. Irgendwann kann man sich nur noch | |
durch Bewegen der Augen oder Lider verständigen, weil nur diese noch | |
beweglich sind. Man kann als ALS-Kranke oder ALS-Kranker im | |
fortgeschrittenen Stadium nicht mehr schlucken, nicht mehr selbstständig | |
atmen, braucht eine 24-Stunden-Betreuung, die einem buchstäblich alles von | |
den Augen abliest. Jedes Jahr wird bei 2.000 Menschen diese Erkrankung neu | |
diagnostiziert, im Schnitt überleben sie drei bis fünf Jahre. | |
## „Lasst Pflegebedürftigen ihr Zuhause!“ | |
Viele ALS-Kranke gehören zu den Fällen der „außerklinischen | |
Intensivpflege“, und diese Art der Pflege ist Teil des „Gesetzes zur | |
Stärkung von Rehabilitation und Intensivpflegerischer Versorgung in der | |
gesetzlichen Krankenversicherung“, dessen umstrittenen Entwurf der | |
Gesundheitsminister jetzt vorgelegt hat (siehe Kasten). | |
Ein Passus erzeugt dabei so viel Aufruhr, dass eine [3][Petition] dagegen | |
bereits mehr als 50.000 Unterschriften gesammelt hat. Der Passus lautet: | |
„Der Anspruch auf außerklinische Intensivpflege besteht in vollstationären | |
Pflegeeinrichtungen … oder in einer Wohneinheit …“ In der Erläuterung he… | |
es dazu: „Die Leistungen der außerklinischen Intensivpflege werden künftig | |
regelhaft in vollstationären Pflegeeinrichtungen … oder in speziellen | |
Intensivpflege-Wohneinheiten … erbracht.“ | |
Der Proteststurm folgte: „Lasst Pflegebedürftigen ihr Zuhause! Stoppt das | |
Intensivpflegestärkungsgesetz“, fordern Betroffenenverbände auf Twitter. | |
Davon, dass Menschen mit Behinderungen „ins Heim abgeschoben“ werden | |
sollen, ist die Rede. | |
Ganz so eindeutig und absolut ist es nicht, denn im Gesetzestext steht auch | |
der Passus: Nur „wenn die Pflege in einer Einrichtung nicht möglich oder | |
nicht zumutbar ist, kann die außerklinische Intensivpflege auch im Haushalt | |
oder in der Familie … erbracht werden“. Und weiter: „Bei der Prüfung der | |
Zumutbarkeit sind die persönlichen, familiären und örtlichen Umstände | |
angemessen zu berücksichtigen.“ Diese Passagen bedeuten allerdings, dass | |
die Krankenkassen eine „Zumutbarkeitsprüfung“ einschalten können. | |
„Aus anderen Gesetzen wissen wir, dass dies eine Willküröffnung für | |
Sachbearbeiter ist, zumal die stationäre Versorgung als absoluter Regelfall | |
festgelegt wird“, kritisiert der Betroffenenverband Abilitywatch in einer | |
Erklärung. Eine stationäre Unterbringung in Heim oder Pflege-WG ist | |
erheblich billiger für die Kassen als eine Rundumversorgung im | |
Schichtdienst zu Hause. | |
## Selbstständig atmen lernen, wenn man fördert | |
Für Grabowski, Ludewig und Clement wäre es das Ende, wenn ein | |
Sachbearbeiter in den Krankenkassen die Verlegung in ein Heim oder in eine | |
Pflege-WG anordnen könnte. Sie würden aus ihren Familien herausgerissen. In | |
einer Pflege-WG wäre die Versorgung vielleicht nur eine 1:3-Betreuung. Es | |
wäre niemand da, um Mitteilungen auf dem Computer zu überwachen oder auch | |
bei Korrespondenz zu helfen. Ludewig, 51, alleinlebend, arbeitet mithilfe | |
ihrer AssistentInnen noch als Bauingenieurin, sie prüfe „Projekte bei der | |
Deutschen Bahn“, erzählt sie. | |
In der Bürgersprechstunde im Konferenzraum der Bundespressekonferenz wird | |
Spahn mit dem Protest konfrontiert. Nur einige wenige Rollstuhlfahrer | |
dürfen allerdings in den Konferenzraum, aus Sicherheitsgründen. Ein mobiles | |
Saalmikrofon gibt es nicht, nur feststehende Mikrofone an Plätzen, die für | |
die Rollstuhlfahrer beziehungsweise ihre AssistentInnen unerreichbar sind. | |
Als ein Beatmungsgerät eines Kranken mit lautem Brummen anspringt, schaut | |
man im Saal irritiert. Die allermeisten ZuhörerInnen hier haben andere | |
Themen auf dem Herzen als die Intensivpflege. Man ist hier weit entfernt | |
von der Welt von Menschen, die eingeschlossen sind in ihren Körpern und auf | |
ihren Lidschlag oder ihre Augäpfel und immer einen anderen Menschen um sie | |
herum angewiesen sind. | |
Spahn referiert erst mal, auch über die hohen Kosten der Intensivpflege. | |
Bis zu 30.000 Euro im Monat könne eine häusliche 24-Stunden-Pflege mit | |
Beatmung die Kassen kosten. Vier, fünf oder mehr Leute müssen rund um die | |
Uhr im Schichtdienst eingesetzt werden. Spahn spricht von Problemen mit der | |
„Qualität“ der Intensivpflege, die besser überwacht werden müsse. | |
Es ist eine Anspielung, denn in der Tat gab es in der Vergangenheit | |
Betrügereien von Pflegediensten. Ambulante Dienste rechneten falsch ab. | |
Eine künstliche Beatmung wird sehr hoch honoriert. Dienste oder auch | |
Krankenhäuser bemühten sich zu wenig, PatientInnen von der künstlichen | |
Beatmung wegzubringen, weil sie mit der Beatmung sehr viel mehr Geld | |
verdienen, lautete ein Vorwurf. SchlaganfallpatientInnen können nach einer | |
Beatmungsphase unter Umständen durchaus wieder selbstständig atmen lernen, | |
wenn man sie dabei fördert. | |
Die stationäre Beatmungsentwöhnung müsse „verbessert“ werden, heißt es … | |
Gesetzentwurf. Dort ist von „Fehlanreizen“ die Rede. Dass zweifelhafte | |
Intensivpflegedienste sich eine goldene Nase verdienen mit der Behandlung | |
von Schwerkranken, wird auch von Betroffenen nicht bestritten. „Einige | |
Intensivpflegedienste bereichern sich schamlos in der Pflege von invasiv | |
beatmeten Patienten“, erklärt auch Anja Clement. Sie ist Vorsitzende des | |
Selbsthilfevereins ALS-mobil und hat die Krankheit wie Grabowski und | |
Ludewig schon mehr als zehn Jahre lang. | |
## Der Minister will sich nicht festlegen | |
Betrügereien oder schlechte Qualität zweifelhafter Pflegedienste ändern | |
aber nichts am Versorgungsbedarf der Kranken. „ALS-Betroffene können nur | |
ausreichend in einer 1-zu-1-Betreuung gepflegt werden“, so Clement, „unsere | |
Betroffenen haben so viele Einschränkungen, dass sie ein festes Pflegeteam | |
benötigen.“ Werde die Augensteuerung für den Computer und die | |
Buchstabentafel zum Beispiel nicht richtig vom Pflegepersonal eingestellt, | |
„wird der Betroffene bei vollen kognitiven Fähigkeiten in einen Zustand | |
ähnlich dem Locked-in-Syndrom befördert“. | |
Das alles hätte Spahn eigentlich wissen können, bevor er die außerklinische | |
Intensivpflege per Gesetz in Heimen oder Pflege-WGs zum Regelfall machen | |
wollte. Doch stattdessen klagt Spahn in der Bürgersprechstunde über die | |
Flut an Protesten in den sozialen Medien, die der Gesetzentwurf ausgelöst | |
habe. Er betont, dass der Entwurf ohnehin erst mal in den Gremien | |
diskutiert würde, sechs bis neun Monate lang. Man werde „alle Argumente | |
aufgreifen, abwägen und schauen, wo wir falsch liegen“. Fast gewinnt man | |
den Eindruck, der Minister wolle zurückrudern. | |
Aktivist Raul Krauthausen, Rollstuhlfahrer, stellt daraufhin die Frage, ob | |
Spahn den umstrittenen Passus streichen wolle. Doch der Minister will sich | |
nicht festlegen. Man müsse erst mal viele Fragen klären, zum Beispiel, „wie | |
definiert man Zumutbarkeit“, sagt er. Spahn verweist auf Sozialverbände, | |
die das Gesetz in Teilen befürworten, denn es enthält auch Passagen, die | |
Kranke und Versicherte entlasten, etwa bei den Eigenanteilen, wenn ein | |
Patient in die stationäre Versorgung geht. | |
Auch Grabowski mit seinem Assistenten Jens Matk hat es in den Konferenzraum | |
geschafft. „Uns darf auf keinen Fall unsere Würde und Selbstbestimmung | |
genommen werden“, buchstabiert er später. Und: „Ich bin stolz, in einem | |
Land zu leben, das sich die Pflege leisten kann und will.“ Die 6.000 bis | |
8.000 ALS-PatientInnen in Deutschland, die immer einen anderen Menschen zum | |
Leben brauchen, stehen auch noch für mehr als nur für sich selbst. | |
19 Aug 2019 | |
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[3] https://www.change.org/p/lasst-pflegebed%C3%BCrftigen-ihr-zuhause-stoppt-da… | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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