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# taz.de -- Krieg in Nahost: Die Kinder vom 7. Oktober
> Über den Hamas-Angriff auf Israel kursieren seit Monaten unbelegte
> Behauptungen. Ein Faktencheck zum Schicksal der israelischen Kinder an
> jenem Tag.
Bild: Fest steht, dass Dutzende Kinder und Jugendliche am 7. Oktober getötet o…
Berlin taz | Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock sagte jüngst
bei einer Veranstaltung in Berlin, sie habe das Video einer Vergewaltigung
gesehen, die sich beim Hamas-Angriff am 7. Oktober ereignet habe. Das war
überraschend, denn die Existenz eines solchen Videos war bislang nicht
bekannt.
Auf schriftliche Nachfrage der taz, wo Baerbock das Video gesehen habe,
antwortete ein Sprecher lediglich, es gebe „überhaupt keinen Zweifel, dass
die Hamas bei ihrem Terrorangriff auf Israel Frauen missbraucht und
vergewaltigt“ habe. Woher allerdings das erwähnte Video stammen soll, sagte
er nicht.
Der Angriff der Hamas auf Israel hat weltweit Entsetzen und Abscheu
hervorgerufen. Rund 350 Soldaten und Polizisten und mehr als 800 Zivilisten
wurden getötet, sowohl Israelis als auch Ausländer. Mehr als 250 Menschen,
mehrheitlich Zivilisten, wurden als Geiseln in den Gazastreifen
verschleppt. Die Täter selbst dokumentierten ihr Massaker mit Kameras, die
sie dabeihatten.
Die israelische Regierung fertigte aus diesen und anderen Aufnahmen später
einen Videozusammenschnitt, den sie Journalisten und anderen vorführte,
unter anderem in israelischen Botschaften weltweit. Überlebende und
Rettungskräfte berichteten über die Taten und Journalisten recherchierten.
Doch schon von Anfang an mischten sich in die Berichte über nachgewiesene
Verbrechen Behauptungen, die nie belegt wurden – und offensichtliche
Gräuelpropaganda.
## Auch Medien gaben Falschbehauptungen wieder
Einige Propagandalügen sind selbst Monate später noch im Umlauf. So
[1][behauptete der FDP-Abgeordnete Marcus Faber] im März im Bundestag
unwidersprochen, beim Angriff der Hamas seien „vierzig Babys auf brutalste
Art und Weise getötet“ worden. Die Babys seien „teilweise bei lebendigem
Leib ins Feuer geschmissen“ worden, „während ihre Mütter dabei zugucken
mussten“. Die Mütter seien „danach selber vergewaltigt“ worden. Nichts
davon ist wahr.
Auch andere erfundene Geschichten über Babys, die geköpft oder im Ofen
verbrannt worden sein sollen, über gefolterte Kinder und eine schwangere
Frau, deren Fötus aus dem Bauch herausgeschnitten wurde, wurden [2][von
hochrangigen Stellen verbreitet], [3][bis hin zum US-Präsidenten]. Auch
Medien gaben die Geschichten wieder. Bis heute sind viele Artikel mit
nachweislich falschen Behauptungen online – auch in dieser Zeitung.
Auf diese Geschichten folgte oft als Schlussfolgerung: kein
Waffenstillstand, keine Verhandlungen mit solchen Monstern! Wer für diese
Gräueltaten gegen Kinder verantwortlich ist, muss vernichtet werden.
Besonders viel Abscheu erregten Berichte über angeblich systematische
Vergewaltigungen am 7. Oktober. Das Ausmaß der Sexualverbrechen an jenem
Tag wurde inzwischen [4][von der UN-Sonderbeauftragten für sexualisierte
Gewalt in Konflikten ausführlich untersucht]. Sie fand zahlreiche Indizien
für verschiedene Formen von sexualisierter Gewalt. Einige Fälle von
Vergewaltigung, über die berichtet worden war, wertete sie als naheliegend,
während sie andere als unbewiesen oder falsch einstufte.
## Unparteiische Untersuchungen fehlen
Unparteiische Untersuchungen zum Schicksal der Kinder, die am 7. Oktober
starben, fehlen dagegen bis heute. Über etliche Details herrscht weiter
Unklarheit, auch weil viele Opfer ohne forensische Beweissicherung begraben
wurden. Dennoch lässt sich [5][anhand von amtlichen] und [6][von
Wissenschaftlern erstellten Datenbanken] sowie von Interviews mit
Überlebenden und Familienmitgliedern, die in israelischen Medien
veröffentlicht wurden, das Schicksal der Kinder nachzeichnen.
Es steht fest, dass beim Angriff der Hamas insgesamt 37 Minderjährige ums
Leben gekommen sind: drei Babys (0 bis 2 Jahre alt), zehn Kinder (5 bis 12)
und 24 Jugendliche (13 bis 18). Zwei Babys, 20 Kinder und 13 Jugendliche
wurden in den Gazastreifen entführt – allein das ist ein schweres
Kriegsverbrechen. Fast alle von ihnen wurden Ende November freigelassen –
außer zwei Brüdern, neun Monate und vier Jahre alt. Beide sollen laut Hamas
in Gaza durch israelische Bomben ums Leben gekommen sein; Israel hat das
nicht bestätigt.
Die Verantwortung für all diese Toten liegt bei der Hamas. Dennoch
entspricht die Realität nicht der anfangs aus Israel verbreiteten Version.
Belegt ist, dass am 7. Oktober vier Kinder und drei Jugendliche durch
palästinensisches Raketenfeuer getötet wurden – hauptsächlich in
beduinischen Gemeinden fernab des Invasionsgeschehens, wo es weder
Schutzräume noch Raketenalarm gab. Das jüngste Opfer war ein neugeborenes
Mädchen, dessen Schicksal erst nach einem Monat bekannt wurde: Eine
beduinische Frau war auf dem Weg ins Krankenhaus, um zu entbinden, als das
Auto der Familie beschossen wurde. Sie wurde im Bauch getroffen, das Baby
verletzt. Nachdem es zur Welt kam, starb es wenige Stunden später.
Zwei Babys, zwei Kinder und drei Jugendliche kamen in Schutzräumen ums
Leben – entweder durch Schüsse von außen oder weil sie erstickten, nachdem
ihre Häuser in Brand gesetzt wurden. Zwei Kinder und vierzehn Jugendliche
wurden offenbar gezielt aus der Nähe getötet. Zwei Kinder wurden entführt
und starben am gleichen Tag durch israelisches Panzerfeuer.
## Falschbehauptungen zu Propagandazwecken
Wie vier weitere Jugendliche ums Leben kamen, ist noch immer unklar –
einschließlich einer 17-jährigen Behinderten im Rollstuhl. Es ist
wahrscheinlich, dass auch sie gezielt von Angreifern getötet wurden. Anders
als bei einigen erwachsenen Opfern gibt es derzeit aber keine Belege dafür,
dass auch nur einer der 37 Minderjährigen geköpft, gefoltert oder
vergewaltigt wurde.
Woher aber kamen die falschen Gräuelgeschichten? Die meisten stammten von
einzelnen israelischen Soldaten sowie von Mitgliedern der ultraorthodoxen
Gruppe Zaka – einer Freiwilligenorganisation, die Leichen von Gewaltopfern
einsammelt.
Warum sie falsche Behauptungen in die Welt setzten, darüber kann nur
spekuliert werden. Dass zahlreiche israelische Verantwortliche sie
weiterverbreiten, diente aber eindeutig propagandistischen Zwecken. So
wurde ein extrem brutales Vorgehen Israels gegen die palästinensische
Bevölkerung moralisch vertretbar gemacht.
Die Folgen zeigen sich im Gazastreifen. Seit dem 8. Oktober wurden
[7][mehr als 36.000 Todesopfer gemeldet], um die 10.000 Menschen werden
noch vermisst. Bis Ende April konnten durch medizinisches Personal, selbst
Opfer der israelischen Invasion, [8][der Tod von knapp 8.000 Kindern] und
Jugendlichen mit Sicherheit verifiziert werden. Die tatsächliche Zahl
[9][dürfte noch deutlich höher liegen].
## Ehrliche Aufarbeitung der Gewalt weit entfernt
In vielen Fällen waren die minderjährigen Opfer keine zufälligen
Kollateralschäden, sondern eine einkalkulierte, vielleicht sogar gewollte
Konsequenz des massiven Bombardements durch die israelische Armee. Dies
haben Investigativjournalisten [10][des britischen Guardian] und des
israelischen [11][Magazins +972] in einer gemeinsamen Recherche
dargestellt.
Erst vergangene Woche gingen verifizierte Aufnahmen von durch Bomben
verkohlte Kinderleichen aus Rafah um die Welt. Besonders das Bild eines
schreienden Mannes, der ein kopfloses Baby in den Händen hält, sorgte für
Empörung. Die Drohung des israelischen Premierministers am Abend des 7.
Oktobers scheint sich bewahrheitet zu haben. Benjamin Netanjahu sagte
damals: „Die Rache für das Blut eines kleinen Kindes hat sich Satan noch
nicht ausgedacht.“
Angesichts dieser Situation ist es für die Mehrheit der Palästinenser
schwer zu glauben, dass die Hamas und andere Gruppen aus Gaza schreckliche
Taten begangen haben – Taten, die von keinem Recht auf Widerstand gedeckt
sind. [12][Behauptungen der Hamas, ihre Kämpfer hätten Kinder nicht
absichtlich getötet], sind nachweislich falsch.
Dass staatliche israelische Stellen in einigen Fällen bewusst Fake News
verbreitet haben und zahlreiche Medien ihre fehlerhafte Berichterstattung
bis heute nicht korrigiert haben, spielt indes all jenen in die Hände, die
die Brutalität der Hamas in Gänze leugnen. Solange es im Gazastreifen
keinen Waffenstillstand gibt und die Verbrechen der Hamas – real oder
fabriziert – weiterhin benutzt werden, um andere Verbrechen zu
rechtfertigen, scheint eine ehrliche Aufarbeitung der Gewalt beider
Kriegsparteien weit entfernt.
5 Jun 2024
## LINKS
[1] https://www.bundestag.de/mediathek?videoid=7609095#url=L21lZGlhdGhla292ZXJs…
[2] https://www.lemonde.fr/en/les-decodeurs/article/2024/04/03/40-beheaded-babi…
[3] https://www.businessinsider.com/biden-pictures-terrorists-beheading-childre…
[4] /Sexualisierte-Gewalt-der-Hamas/!5996758
[5] https://laad.btl.gov.il/Web/He/TerrorVictims/Default.aspx
[6] https://yuval-harpaz.github.io/alarms/oct_7_9.html
[7] https://www.ochaopt.org/
[8] https://www.ochaopt.org/content/reported-impact-snapshot-gaza-strip-31-may-…
[9] /Tote-in-Gaza/!6007459
[10] https://www.theguardian.com/world/2024/apr/03/israel-gaza-ai-database-hama…
[11] https://www.972mag.com/lavender-ai-israeli-army-gaza/
[12] https://www.palestinechronicle.com/wp-content/uploads/2024/01/PDF.pdf
## AUTOREN
Yossi Bartal
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