# taz.de -- Krieg in Gaza: Schüsse auf hungernde Menschen | |
> Die Welt schaut auf den Krieg zwischen Israel und Iran, doch das Leiden | |
> in Gaza geht weiter. Palästinenser berichten von ihrem Überlebenskampf. | |
Bild: Palästinenser trauern im Schifa-Krankenhaus in Gaza um Menschen, die auf… | |
Jerusalem taz | Es ist Freitagmorgen, eigentlich noch Nacht, als Israel | |
Iran aus der Luft attackiert. Militärposten, Atomanlagen, | |
Forschungszentren und private Wohnungen von hochrangigen Militärs sind das | |
Ziel. Etwas, mit dem keiner zum diesem Zeitpunkt gerechnet hätte. Die Augen | |
der Welt sind wie gebannt, fixiert auf diese 2.500 Kilometer lange | |
Luftlinie, die sich von Israel zu Iran spannt. Und alles andere, alles, | |
was darüber und darunter liegt, wirkt wie vergessen. | |
Doch während Iran und Israel Luftangriffe austauschen, sterben wieder | |
Menschen in Gaza. Keine Kämpfer im Gefecht, sondern Männer und Frauen, die | |
verzweifelt versuchen, an eine Verteilstelle der USA-Israel-unterstützten | |
Gaza Humanitarian Foundation (GHF) in Rafah zu gelangen, um Nahrungsmittel | |
zu finden. Mindestens 20 waren es laut Nachrichtenagenturen am Montag, 200 | |
weitere verletzt. Die Kugeln, die sie getroffen haben, sollen aus den | |
Gewehren israelischer Soldat*innen stammen. | |
Das israelische Militär (IDF) schreibt auf Nachfrage, trotz Warnungen | |
hätten „Verdächtige mehrfach versucht, sich IDF-Streitkräften zu nähern“ | |
und eine Gefahr dargestellt. Die Soldat*innen hätten daraufhin | |
Warnschüsse abgefeuert. Ob die Menschen durch israelische Schüsse getötet | |
wurden, beantwortet das Militär nicht. | |
Sie sind indes nicht die ersten – und vermutlich nicht die letzten | |
Todesopfer. So starben am Dienstag schon wieder Menschen. Diesmal | |
mindestens 51, so viele wie noch nie. Sie warteten nach palästinensischen | |
Angaben auf UN-Lastkraftwagen voller Nahrungsmittel. Stattdessen fanden sie | |
den Tod. Von einem „Massaker“ sprechen Augenzeuge. | |
## Schüsse auf eine Menschenansammlung | |
Das israelische Militär soll das Feuer auf die Menge eröffnet haben, die | |
Gründe sind unklar. Ein*e IDF-Sprecher*in schreibt auf Nachfrage, es habe | |
eine Menschenansammlung neben einem Hilfs-Lkw gegeben, der in Khan Younis | |
stehengeblieben war. Die Berichte über Verletzte durch israelische Schüsse | |
seien dem Militär bekannt, eine Untersuchung wurde eingeleitet. Die IDF | |
bereuten jegliche Schäden an Unbeteiligten. | |
In den vergangenen Wochen, als eine nahezu dreimonatige Blockade von | |
Hilfslieferungen durch Israel zu Ende ging, sind nach Angaben des | |
Gesundheitsministeriums in Gaza etwa 300 Menschen in der Nähe von | |
GHF-Verteilstellen ums Leben gekommen. Und doch nehmen Gazaner*innen | |
weiterhin den gefährlichen Weg auf sich. Weil die Alternative das | |
Verhungern ist. | |
## „Essen, das kaum Nahrungswert hat“ | |
„Unsere Tage vergehen, während wir Essen auf einem Feuer zubereiten, das | |
uns den Atem raubt. Es ist ein Essen, das kaum Nahrungswert hat, doch den | |
Magen unserer Kinder für eine Weile beruhigt. Unsere tägliche Mahlzeit – | |
ohne Übertreibung – ist ein Teller Reis. Oder ein Teller Linsen. Es gibt | |
keine andere Option. Die hohen Preise bringen uns um. Humanitäre Hilfe | |
erreicht nicht diejenigen, die sie brauchen. Die knurrenden Mägen unserer | |
Kinder haben der Seele der Menschen den Wert einer Scheibe Brot verliehen. | |
Entweder kommen sie mit einer Scheibe Brot zurück – oder sie kehren gar | |
nicht zurück.“ | |
Das schreibt die 29-jährige Yasmine Jaarour aus der Wohnung eines Nachbarn | |
in Gaza City, im Norden des Streifens. Jaarour sagt, ein Kilo Mehl koste | |
gerade 16 Dollar – wenn man es findet. In einem Videoanruf zeigt die | |
zweifache Mutter in schwarzem Hidschab den Ausblick aus ihrem Fenster: | |
Trümmer und gewundene Bleche im Hof, soweit das Auge reicht. | |
Im Oktober 2023 sei hier eine Rakete eingeschlagen. Im Hintergrund hallen | |
helle Kinderstimmen. Der neue Krieg in Iran lässt sie verzweifeln: Eine | |
Lösung für den Krieg in Gaza wird nicht mehr im internationalen Rampenlicht | |
stehen. Derweil verlieren ihre Kinder an wichtigen Jahren. Das dritte | |
Schuljahr kommt, in dem sie nichts gelernt haben. „Bis wann denn noch?“, | |
fragt sie. | |
Die 29-Jährige sagt, sie wolle nicht viel. Nicht in Konflikte reingezogen | |
zu werden, kein Opfer von Kriegen zu werden, in denen sie nichts zu sagen | |
habe. „Wir wollen nur eine sichere Lösung, die Menschenleben rettet. Lasst | |
diejenigen, die kämpfen wollen, kämpfen. Aber beschützt das Recht der | |
Zivilist*innen aufs Leben. Wir sind keine Nummern, wir sind keine | |
Schlagzeilen. Wir sind Seelen – und haben ein Leben verdient.“ | |
## „Wir mussten unsere Mahlzeiten reduzieren“ | |
„Während des Kriegs lebte ich in einem Zelt und zog mit meiner Familie von | |
einem Ort zum nächsten, bis wir vor etwa einem Monat in eine Wohnung | |
einzogen. Die Lage ist viel besser jetzt, verglichen mit dem Leben im Zelt, | |
wo wir keinen Strom oder Wasser hatten, von Insekten geplagt wurden, | |
Privatsphäre und Sauberkeit Mangelwaren waren und wir den harschen | |
Wetterbedingungen ausgeliefert waren. Nachdem wir hierhergezogen sind, | |
haben sich die Verhältnisse verbessert. Aber wir kämpfen noch, wir leiden | |
unter Essensmangel und steigenden Preisen. Wir haben uns dazu gezwungen, | |
die Anzahl der Mahlzeiten zu reduzieren. Und wir teilen uns einen einzigen | |
Brotlaib (kleine, runde Scheibe arabisches Brot; Anm. d. Red.) am Tag.“ | |
Aus einer Wohnung an der Küste berichtet die 20-jährige Journalistin Malak | |
Tantash, Hungersnot sei gerade das größte Problem in Gaza. | |
Gemeinschaftsküchen hätten geschlossen, Gemüsepreise seien prohibitiv hoch, | |
der Weg zu den Verteilungsstellen viel zu riskant. So isst sie Reis, Nudeln | |
und Linsen – täglich. | |
„Es gibt keinerlei Vielfalt in unseren Mahlzeiten. Ich habe weder Eier noch | |
Fleisch oder Käse gegessen, seitdem der Grenzübergang geschlossen wurde.“ | |
Luftangriffe habe es in letzter Zeit nicht gegeben, dafür aber Granaten von | |
Kriegsschiffen, die gelegentlich in Richtung Land schossen. Und jetzt | |
[1][der Krieg Israel-Iran], der die Nachrichten aus Gaza komplett weggefegt | |
habe. „Alle Augen sind auf jene Ereignisse gerichtet – was ein Desaster | |
ist, für die Menschen in Gaza.“ | |
## „Die Reise zu den Hilfszentren ist lang und gefährlich“ | |
„Grundnahrungsmittel wie Mehl, Reis und Konserven sind gelegentlich | |
verfügbar, aber oft können wir uns sie nicht leisten. Wir verlassen uns auf | |
Spenden und Hilfen, wenn wir sie bekommen. Ich habe es versucht, zu den | |
Hilfszentren zu gehen, aber die Reise dahin ist lang und gefährlich. Diese | |
Zentren sind oft überfüllt und die Menschen sind verzweifelt. Es macht mir | |
Sorgen, so lange von meinen Kindern weg zu sein, vor allem in diesen | |
unsteten Zeiten.“ | |
Nicht nur der Hunger sei gefährlich, sondern auch der neue Konflikt | |
zwischen Israel und Iran, findet Saed Hassouneh. „Wir fühlen uns bereits | |
vergessen und sind extrem besorgt. Niemand gewinnt in solchen Kriegen. Nur | |
die Zivilist*innen verlieren“, sagt der 35-jährige Medienberater, der | |
gerade im vergleichsweise ruhigen Deir al-Balah lebt. Im April 2024 hat ein | |
Luftangriff seine Ehefrau, die Journalistin Amna Homaid, und seinen | |
elfjährigen Sohn getötet. Sie waren gerade dabei, Essen zuzubereiten. | |
Jetzt versucht er seine fünf Kinder, physisch und emotional verletzt, durch | |
den Krieg zu bringen. In einem zerbombten Gebäude, mit Blackouts und | |
Essensknappheit. „Wenn ich eine sichere Gelegenheit hätte zu gehen, würde | |
ich sie wahrnehmen – für meine Kinder mehr als für mich selbst“, sagt er. | |
Er schickt dann Bilder. Einige stammen aus einem Workshop im Jahr 2022, da | |
sieht man einen schlanken Mann in Wildlederjacke an einem Arbeitstisch. Und | |
dann gibt es noch ein Bild, das wurde jüngst aufgenommen. Hier steht | |
derselbe Mann mitten auf einer Straße, [2][das Gesicht eingefallen], die | |
Wangenknochen hervortretend, die Augenhöhlen vertieft. | |
## „Und die Luftangriffe gehen weiter“ | |
„Die Lage verschlimmert sich mit jeder Minute, die vergeht. Weil es eine | |
virtuelle Blockade von humanitärer Hilfe gibt. Es gibt einen kritischen | |
Mangel an ankommenden Nahrungsmitteln. Und den gefährlichsten Wassermangel | |
seit dem Horror des 7. Oktober, seitdem dieser Krieg begann. Treibstoff ist | |
ebenso kritisch. Seit mehr als 100 Tagen kam keiner rein. Er wird benötigt, | |
um Wasseraufbereitungsanlagen und Krankenhäuser in Betrieb zu halten. Stell | |
dir diesen Durst vor, gepaart mit Hunger. Und die Luftangriffe gehen | |
weiter, Nacht auf Nacht.“ | |
James Elder ist Sprecher der UN-Agentur Unicef. Gerade ist er unterwegs im | |
Gazastreifen, in Krankenhäusern und auf den Straßen von Gaza City. Er soll | |
sich einen Überblick verschaffen über die Nöte und den Bedarf der Menschen | |
– vor allem Kinder – in Gaza. Und was er sieht, lässt ihn verzweifeln. Es | |
gebe ganze Räume in den Kliniken, die voller Kinder mit Kriegswunden sind. | |
„In meinen über 20 Jahre Arbeit bei Unicef habe ich noch nie so etwas | |
gesehen.“ Ein verletztes Mädchen, dessen Eltern bei einem Luftangriff | |
gestorben waren, hatte sechs Monate gebraucht, um nach dem Schock wieder zu | |
sprechen. Dann wurde das Haus, in dem sie mit Verwandten lebte, wieder | |
getroffen. Erneut lag sie im Krankenhaus. Ein endloser Kreis des Traumas. | |
Und dann gebe es die Probleme mit den Hilfsgütern. Weniger als zehn Prozent | |
der Hilfe, die die Bevölkerung braucht, käme rein in den Streifen. | |
Praktisch tagtäglich gebe es [3][Massentötungen in der Nähe von | |
Verteilstellen]. Minderjährige seien dabei ums Leben gekommen. Ältere, | |
Kranke, Kinder hätten kaum Zugang, diese Hilfe erreiche sie nicht. | |
„Es ist das tiefe Leiden von Menschen, die bereits am Rande des Abgrunds | |
stehen.“ Elder beschuldigt das jüngste US-israelisch unterstützte | |
Hilfssystem um die GHF, das die Vereinten Nationen de facto außen vor | |
lässt. Die GHF weist jede Schuld von sich. | |
## „Das Überleben des Stärkeren“ | |
„Es fehlt an allem. Medikamente unserer Partnerorganisation reichen nur bis | |
zum nächsten Monat. Das neue Verteilungssystem ist zutiefst | |
dehumanisierend. Und militarisiert, von einer Kriegspartei kontrolliert – | |
Israel. Es ist „survival of the fittest“, Überleben des Stärksten. | |
Menschen, die eigentlich ausgehungert sind, müssen rennen, um an die Güter | |
zu kommen. Sie müssen teilweise an Zäunen warten, bis sie zugelassen | |
werden. Es ist ein Bruch damit, wie humanitäre Hilfe geleistet werden | |
darf.“ | |
Radwa Khaled-Ibrahim ist Referentin bei der Menschenrechtsorganisation | |
Medico International. Sie steht im regelmäßigen Austausch mit Partnern vor | |
Ort und sieht das neue Hilfssystem um die Gaza Humanitarian Foundation sehr | |
kritisch. Alleine die Tatsache, dass es nun wenige Verteilstellen gibt, | |
führe zu einem Kampf, in dem nur die Gesündesten ans Essen gelangen. „Die | |
Hilfe sollten zu den Menschen kommen, nicht sie zu ihr“, sagt sie. | |
Über die GHF gab es in letzter Zeit Kontroversen. Sein Ex-Manager Jake Wood | |
verließ die Stiftung kurz vor der Eröffnung wegen Bedenken, diese halte | |
humanitäre Prinzipien nicht ein. Eine Onlinepräsenz hat die Stiftung kaum, | |
unklar ist, wer sie finanziert. Die GHF wirft jede Anschuldigung zurück und | |
betont, dass keine Menschen in nächster Nähe ihrer Verteilstellen | |
umgekommen sind. Dabei sollte man wissen, dass die Vorfälle offenbar | |
teilweise einige Hundert Meter entfernt geschehen sind. | |
Hinweis: Im letzten Satz war von Hunderten Kilometern die Rede. Es handelt | |
sich natürlich um Meter. Wir haben das korrigiert. | |
18 Jun 2025 | |
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