# taz.de -- GHF-Essensabgabestellen in Gaza: Das Gaza-Hunger-Experiment | |
> Hilfen für Gaza scheitern nicht an der Logistik, sondern an politischen | |
> Entscheidungen. Immer wieder sterben Menschen bei der Essensausgabe. | |
Bild: Palästinenser warten an einer Essensausgabe, Gaza-Stadt am 14. Juli 2025 | |
Kairo taz | Für die Khalaf-Familie haben sich die Essensausgabestellen der | |
amerikanisch-israelisch überwachten Gaza Humanitarian Foundation gleich | |
zweimal als Todesfalle erwiesen. Erst wurde der jüngere 15-jährige Sohn | |
Saqr auf dem Weg zur Ausgabestelle im Nezzarim-Korridor im zentralen | |
Gazastreifen erschossen. Kurz darauf wurde der Vater Muhammad Khalaf dort | |
von Granatsplittern getroffen und erlag am 28. Mai im Krankenhaus seinen | |
Wunden. | |
Jetzt ist es am letzten Sohn Ahmad jede zweite Nacht sein Leben zu | |
riskieren und sich vier Kilometer zu Fuß über eine unwegsame völlig | |
zerstörte Mondlandschaft dorthin auf den Weg zu machen. Der 24-Jährige | |
übernachtet dann vor der Ausgabestelle mit Tausenden anderen, mit denen er | |
die Hoffnung teilt, bei der Öffnung der Ausgabe einer der Ersten zu sein. | |
Er will seiner Verantwortung gerecht werden, seine Mutter, seine drei | |
Geschwister und sich selbst mit Nahrung zu versorgen. | |
Ahmads Mutter Ghada macht vor ihrem Zelt neben der Gargawi-Schule im | |
zentralen Gazastreifen auf offenem Feuer eine Dose Kichererbsen warm, die | |
ihr Sohn vor zwei Tagen ergattern konnte. Es ist ein mit viel Angst | |
erworbenes Mahl. „Ich habe Ahmad angefleht und gesagt, geh nicht mehr hin. | |
Aber er entgegnete, er müsse etwas zu Essen für seine Geschwister | |
organisieren. Aber dieses Essen ist in Blut getränkt“, sagt Ghada einem | |
lokalen Kontakt der taz. | |
## Traumatisiert durch die Erschießung des Vaters | |
Doch ihr Sohn lässt sich nicht abbringen. „Was soll ich machen, wenn ich | |
nicht gehe, haben wir nichts zu Essen und zu Trinken. Manchmal komme ich | |
mit leeren Händen heim, manchmal schaffe ich es, Speiseöl, etwas Mehl, | |
Pasta oder Linsen nach Hause zu bringen“, erzählt er. | |
Ahmad geht auf seine Mission, etwas zu Essen zu finden, obwohl er völlig | |
traumatisiert ist. „Die Nacht, in der ich zusammen mit meinem Vater zur | |
Ausgabestelle gegangen bin, als er tödlich verletzt wurde, war die | |
schlimmste meines Lebens“, erinnert sich Ahmad. „Es wurde geschossen, | |
Menschen sind vor mir tot zusammengebrochen. Die Angst, überall Tod, ich | |
wusste nicht, was ich machen sollte. Wir saßen in der Falle“, schildert er | |
diese tragische Nacht. | |
In dem Chaos hatte er seinen Vater aus den Augen verloren. Acht Stunden | |
habe er ihn überall gesucht. Er habe sich durch die Menge der Menschen | |
geschoben. Schließlich habe er gehört, dass einige der Verletzten [1][in | |
das Al-Aksa-Krankenhaus in Deir al-Balah] gebracht worden seien. Dort hat | |
er schließlich seinen Vater gefunden, um ihm die nächsten Tage beim Sterben | |
zuzusehen. | |
Ghada, die Mutter, ist ebenfalls ein emotionales Wrack. Über ihren jüngeren | |
Sohn spricht sie wenig, nur das er mutig war, alles andere scheint zu | |
schmerzhaft. Sie zeigt ein Foto von ihm auf ihrem Handy. In einem viel zu | |
großen gelben Sweatshirt, lächelt ein Kind in die Kamera. „Seit mein | |
jüngerer Sohn und mein Mann getötet wurden, hat das Leben keinen Geschmack | |
mehr, keine Farbe, keine Bedeutung. Das einzige Gefühl, das noch übrig ist, | |
ist eine unbändige Angst um meinen letzten Sohn“, sagt sie. | |
## Vier Essensausgabe für den ganzen Gaza-Streifen | |
Nachdem die israelische Armee es internationalen Hilfsorganisationen und | |
der UNO praktisch kaum mehr erlaubt, Güter in den Gazastreifen | |
hineinzubringen, wurden als vermeintliche Alternative im Mai die | |
Abgabestellen der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) gegründet. Vier davon, | |
alle im Süden oder im zentralen Küstenstreifen, wurden seitdem eröffnet. | |
Die Ausgabe selbst wird von US-Söldnern geleitet und im weiteren Umfeld von | |
der israelischen Armee überwacht. Sie liegen allesamt in Gebieten, die von | |
der israelischen Armee kontrolliert werden. | |
Doch abgesehen davon, dass das neue System für die zwei Millionen Einwohner | |
des Gazastreifens vollkommen unzulänglich ist, haben sich die | |
[2][GHF-Ausgabestellen] als lebensgefährlich erwiesen. Laut Angaben des | |
UN-Büros für Humanitäre Angelegenheiten (OHCHR) sind fast 800 Menschen im | |
Gazastreifen bei dem Versuch, an Essen zu kommen, getötet worden, darunter | |
615 in unmittelbarer Umgebung der GHF-Ausgabestellen. OHCHR erklärte, dass | |
diese Zahlen auf Angaben aus Krankenhäusern im Gazastreifen, Friedhöfen, | |
Aussagen von Familien, palästinensischen Gesundheitsbehörden und anderer | |
Hilfsorganisationen basieren. Die GHF streitet diese Zahl ab und sagt, sie | |
sei irreführend. | |
„Wir haben Bedenken hinsichtlich begangener Gräueltaten sowie des Risikos | |
weiterer Gräueltaten geäußert, insbesondere dort, wo Menschen Schlange | |
stehen, um überlebenswichtige Güter wie Nahrungsmittel zu erhalten“, | |
antwortete OHCHR-Sprecherin Ravina Shamdasani bei einer Pressekonferenz. | |
„Es ist nicht hilfreich, unsere Bedenken pauschal zurückzuweisen. Notwendig | |
sind vielmehr Untersuchungen darüber, warum Menschen getötet werden, | |
während sie versuchen, humanitäre Hilfe zu erhalten“, fügte sie hinzu. | |
Die israelische Armee gibt zu, in der Umgebung von Hilfszentren auf | |
Menschen geschossen zu haben, wenn sie sich bedrohlich näherten, bestreitet | |
aber, absichtlich auf Zivilisten zu schießen und zweifelt die | |
veröffentlichte Anzahl der Getöteten an. Zwei Whistle Blower unter den | |
US-Söldnern, die für die GHF arbeiten, gaben gegenüber der amerikanischen | |
Nachrichtenagentur AP an, dass einige ihrer Kollegen ohne Bedrohungslage | |
auf die hilfesuchenden Menschen geschossen hätten. Zahlreiche | |
palästinensische Augenzeugen berichten, dass sowohl von der israelischen | |
Armee vor Ort, kleinen bewaffneten israelischen Drohnen, sowie den | |
US-Söldnern auf sie geschossen wurde. | |
Goher Rahbour, ein britischer Chirurg, der im Juni im Nasser Krankenhaus im | |
Süden des Gazastreifens als Freiwilliger gearbeitet hat, berichtet | |
gegenüber der Financial Times, dass sich die dortigen Operationsräume | |
regelmäßig mit Menschen gefüllt haben, die von den GHF-Ausgabestellen mit | |
Schusswunden eingeliefert worden seien. | |
## Bericht der International Crisis Group über Ausgabestellen | |
Auch ein im Juni veröffentlichter Bericht des renommierten Thinktanks | |
International Crisis Group (ICG), mit dem Titel: „Das | |
Gaza-Hunger-Experiment“ befasst sich mit den vier GHF-Ausgabestellen und | |
vergleicht sie mit den einst über 400, über die die UNO vor der neusten | |
israelischen Offensive Hilfslieferungen verteilte. „Die Welt scheint Zeuge | |
eines Experiments: Dabei geht es um den Versuch, die Bevölkerung Gazas auf | |
unbestimmte Zeit knapp über der Hungerschwelle zu halten, während | |
Nahrungsmittel zur Waffe des Krieges gemacht werden“, beschreibt die ICG | |
die Funktion der viel zu wenigen GHF-Ausgabestellen. | |
Das Aushungern der Bevölkerung sei kein Nebeneffekt, sondern Strategie. Die | |
entstandenen Engpässe seien nie eine Frage der Logistik, sondern immer eine | |
von politischen Entscheidungen gewesen, analysiert der Bericht. Tatsächlich | |
sind die Lagerhallen in Ägypten in unmittelbarer Nachbarschaft zum | |
Gazastreifen bis zur Decke gefüllt. Mitarbeiter des Internationalen Roten | |
Kreuzes berichten, dass man nur die israelische Genehmigung brauche, um die | |
Hilfslieferungen über Nacht wieder hochfahren zu können. | |
Stattdessen erreicht die Menschen über die GHF zu wenig zum Leben und zu | |
viel zum Sterben. „Gaza ist zu einem Experiment geworden, bei dem genau | |
getestet wird, an welchem Punkt eine Strategie des kontrollierten | |
Aushungerns in eine unkontrollierbare Hungersnot umschlägt“, beschreibt der | |
ICG-Bericht. Zweiteres Szenario, eine Hungersnot, gilt es für Israels Armee | |
aufgrund des internationalen Aufschreis zu vermeiden. | |
Offiziell von israelischer Seite gerechtfertigt wird das neue GHF-System | |
mit dem Argument, dass verhindert werden solle, [3][dass die Hamas | |
Hilfslieferungen stiehlt]. Auch darauf geht der ICG-Bericht ein. Israel | |
habe trotz seiner Aufklärungsmöglichkeiten bisher kaum Beweise dafür | |
vorgelegt. Auch laut internationaler Hilfsorganisationen sei das bei | |
früheren Hilfslieferungen eine vernachlässigbare Größe gewesen. Dagegen | |
zeigten sie immer wieder auf die Abu-Shabab-Miliz, als größten Plünderer, | |
einer mit der israelischen Armee verbündeten bewaffneten palästinensischen | |
Gruppe, die auch rund um die GHF-Ausgaben eingesetzt wird. | |
Doch der Bericht geht noch weiter. Er zeigt, dass die UNO bereits im Mai | |
nach intensiven Konsultationen mit der israelischen Armee überarbeitete | |
Verteilungspläne vorgelegt hatte, um den Bedenken entgegenzukommen. Danach | |
sollten die zu verteilenden Hilfsgüter mit QR-Codes versehen werden. | |
Transportiert werden sollten sie auf GPS-überwachten Lkws, auf von der | |
Armee bestimmten Routen. Im Gegenzug forderte die UNO volle operative | |
Kontrolle über die Lieferungen auf sicheren Wegen. Begleitetet werden | |
sollten die Konvois, laut dem UN-Plan, von in Übereinstimmung mit der Armee | |
ausgesuchtem bewaffnetem palästinensischem Personal, anstelle der von der | |
Hamas kontrollierten Polizei. | |
## Absichtliche Verknappung von Lebensmitteln | |
Einer der Knackpunkte soll gewesen sein, dass in dem UN-Plan nicht | |
vorgesehen war, Daten von allen Hilfsempfängern an die israelische Armee zu | |
liefern, mit denen sich diese wichtige Informationen für ihr | |
Gaza-Überwachungssystem erhoffte. Die UNO hat auf ihre Vorschläge nie eine | |
offizielle israelische Antwort bekommen. | |
Stattdessen werden Nahrungsmittel in Gaza absichtlich knappgehalten. Das | |
sei laut dem ICG-Bericht Teil der israelischen Kriegsführung. So hofft die | |
israelische Armee die Hamas als Machtfaktor ausschalten zu können. „Da es | |
Israel nicht gelingt, die Hamas entscheidend zu besiegen, hat es eine | |
Strategie der Verweigerung von Ressourcen angenommen und behandelt Gaza als | |
ein undifferenziertes feindliches Gebiet, in dem jeder Sack Mehl dem Gegner | |
zur Unterstützung dienen könnte. Nahrung, Treibstoff, Medizin: Alles wird | |
als Waffen angesehen, die vorenthalten werden, statt als ein Bedürfnis, das | |
gedeckt werden muss“, beschreiben die Autoren des Berichts diese Logik. | |
Um dann auch gleich anzuzweifeln, dass die Strategie, die Menschen mithilfe | |
von Lebensmitteln dazu zubringen, ihre Loyalitäten zu ändern, erfolgreich | |
sein wird. Auch wenn die Hamas derzeit militärisch stark unter Druck stehe, | |
heißt es in dem Bericht klar und deutlich: „Der Glaube, die Macht der Hamas | |
beruhe auf der Lebensmittelverteilung, ist eine Fantasie. | |
Israelische Beamte verwechseln biologische Verzweiflung mit politischer | |
Transformation. Hungernde Menschen, die sich auf Nahrung stürzen, zeigen | |
Überlebensinstinkt, das ist noch lange keine politische Neuorientierung.“ | |
Die GHF-Ausgabestellen machten eines deutlich, schlussfolgert der Bericht: | |
„Nahrungsmittel sind Macht, und zentral für die israelischen Kriegspläne.“ | |
Unterdessen bereitet sich die Khalaf-Familie und die Mutter Ghada auf die | |
nächste Tour ihres Sohnes zur GHF-Ausgabestelle vor. „Wir verlieren den | |
Verstand. Wir sind gebrochene Menschen“, sagt sie. Die nächste Nacht wird | |
Ghada wieder wachliegen. Es wird ein langes, unruhiges Warten für die | |
Mutter sein: Wird ihr Sohn Ahmad lebend zurückkommen und – wird er etwas zu | |
Essen dabeihaben? | |
Anmerkung: Dieser Text basiert in Teilen auf Material eines vom Autor | |
beauftragten Kameramanns im Gazastreifen. Internationalen Journalisten ist | |
der Zugang untersagt. | |
17 Jul 2025 | |
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## AUTOREN | |
Karim El-Gawhary | |
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