# taz.de -- Kairos Rechtsgelehrte als Sozialarbeiter: Scheichs gegen Islamisten | |
> Neuerdings gehen Kairos Rechtsgelehrte statt in die Moschee in die | |
> Kaffeehäuser. Als Streetworker sollen sie Muslime vor radikalen Ideen | |
> bewahren. | |
Bild: Die Scheichs wollen im Gespräch bleiben – zumindest mit denen, die daz… | |
KAIROtaz | Sie sind sozusagen die mobile Anti-Radikalisierungs-Einheit der | |
islamischen Al-Azhar-Universität in Kairo: das halbe Dutzend studierter | |
islamischer Rechtsgelehrter, die eine Straße im Scharabija-Viertel in | |
Ägyptens Hauptstadt entlangziehen. | |
Sie fallen auf: Die Einwohner des Viertels, meist Arbeiter der | |
nahegelegenen Werkstätten der ägyptischen Eisenbahnen, drehen sich | |
verwundert um zu den Scheichs in ihren dunklen Galabija-Beinkleidern und | |
dem klassischen weiß-roten Turban der Al-Azhar-Graduierten. | |
Das Ziel der Scheichs ist ein Kaffeehaus. Sie arbeiten als eine Art | |
theologische Streetworker und sind Teil eines neuen Programms der Al-Azhar | |
mit dem Ziel, die Menschen an ihren Freizeitstätten zu erreichen. Das neue | |
Motto der über tausend Jahre alten Universität, die sich als eine der | |
wichtigsten Rechtsautoritäten im sunnitischen Islam sieht: „Aus den | |
Moscheen raus auf die Straße“. | |
Rasch kommen im Café Sultana die Besucher zusammen, schütteln den Scheichs | |
die Hände, setzten sich zu ihnen. Schnell entwickelt sich an mehreren | |
Tischen ein Gespräch. Meist werden alltägliche Probleme besprochen, Fragen | |
des Beziehungslebens oder der Arbeit. Oft geht es auch um wirtschaftliche | |
Nöte: Wie kann man sich auf ehrliche Weise eine Wohnung leisten, um zu | |
heiraten; wie das Überleben seiner Familie sichern, ohne auf falsche Wege | |
zu geraten? | |
## Reden gegen radikale Ideen | |
„Die Idee ist, dass wir alle Menschen erreichen, nicht nur die, die in eine | |
Moschee gehen“, erklärt Scheich Ahmad Nagib die Initiative, die nun schon | |
seit mehreren Wochen in verschiedenen Vierteln angelaufen ist. „Wenn wir zu | |
den Menschen kommen, dann fühlen sie sich zu Hause und können leichter ins | |
Gespräch kommen. So kommen wir ihnen nahe und können sie auch vor radikalen | |
Ideen bewahren.“ | |
Für die Scheichs geht es in diesem Programm auch darum, radikalen und | |
militanten Islam-Interpretationen an der Kaffeehaus-Front Einhalt zu | |
gebieten. Aber lässt sich so tatsächlich ein Sympathisant der | |
Terrororganisation des sogenannten Islamischen Staates (IS) überzeugen? | |
„Wir wollen die Saat der Radikalität in den Menschen eliminieren. Wenn es | |
keine Saat gibt, die aufgehen kann, dann gibt es auch keine Radikalität. In | |
den Cafés finden wir vielleicht jene, in denen die Saat vielleicht | |
vorhanden, aber noch nicht aufgegangen ist. Aber die überzeugten Militanten | |
hängen dort nicht ab“, erklärt Scheich Nagib. | |
Manche mögen es merkwürdig finden, das Al-Azhar-Gelehrte mit ihren Turbanen | |
im Kaffeehaus sitzen, „aber die Realität zwingt uns diese Maßnahme auf. | |
Denn wenn wir als Al-Azhar diese Menschen nicht erreichen, dann könnten das | |
andere tun, die ihre Köpfe mit radikalen Ideen verdrehen“, so Nagib weiter. | |
Muhammad Ahmad, einer der jungen Kaffeehausbesucher, stimmt dem zu. „Es ist | |
wichtig, dass wir uns gegenseitig zuhören. Viele können nicht lesen und | |
schreiben, andere haben eine schlechte Ausbildung. Wenn die Menschen | |
richtig religiös angeleitet werden, dann sind sie nicht mehr für die Ideen | |
des IS anfällig.“ | |
## IS-Anhänger zu Ungläubigen erklären? | |
Die Al-Azhar hat diese Initiative begonnen, weil ihr Kritiker immer wieder | |
vorgeworfen haben, nicht eindeutig gegen radikale islamistische Positionen | |
Stellung zu nehmen. Einige ihrer konservativen Scheichs und von ihr | |
gelehrte Schriften seien selbst Teil des Problems, heißt es immer wieder. | |
Seit Monaten findet in Ägypten eine Debatte über die Frage statt, ob | |
IS-Terroristen von der Al-Azhar zu Ungläubigen erklärt werden sollen. Sie | |
entbrannte nach mehreren [1][blutigen Anschlägen] auf Kirchen und im | |
November letzten Jahres bei einem Attentat auf eine Moschee im Nordsinai, | |
bei dem 311 Menschen ums Leben kamen. | |
Eine Woche nach dem Anschlag hielt Ahmad al-Tayyeb, der Großscheich der | |
Al-Azhar, in der gleichen Moschee im Nordsinai demonstrativ die | |
Freitagspredigt und verurteilte die Anschläge des IS. „Es ist eine | |
religiöse Pflicht, diese Feinde Gottes und unseres Propheten zu | |
bekämpfen“, predigte er. Doch für viele ist die Al-Azhar-Verurteilung der | |
Terroranschläge nicht genug. | |
Der ägyptische Autor und Al-Azhar-Kritiker Ahmad Abdu Maher richtet in | |
einem Gespräch mit dieser Zeitung eine klare Forderung an die Scheichs. | |
„Erklärt den IS und alle die dazugehören zu Ungläubigen, denn sie geben | |
vor, im Namen des Islam zu sprechen“, verlangt er. „Wir müssen der Welt | |
sagen, dass das keine Muslime sind. Wir müssen unseren Islam verteidigen“, | |
sagt er. Der IS bringe den Islam um. „Sie sind eine Katastrophe für unsere | |
Religion. Wir müssen sie isolieren, und das können wir nur, wenn wir | |
Muslime sie zu Ungläubigen erklären.“ | |
Muhammad Abdel Fadil leitet in der Al-Azhar eine Abteilung, die die | |
Internetdiskussion der radikalen Islamisten beobachtet und versucht | |
theologische Gegenantworten zu geben. Der junge Scheich hat auch als | |
Islamwissenschaftler promoviert – an der deutschen Universität Münster. Er | |
verteidigt im Gespräch mit der taz die Position der Al-Azhar. | |
## „Ungläubig“ – eine Kategorie im Kampf gegen den Terror? | |
„Mit jedem Anschlag wächst der Druck auf die Al-Azhar, die terroristischen | |
Gruppen zu Ungläubigen zu erklären“, so Fadil. Doch das habe Al-Azhar | |
abgelehnt. „Al-Azhar distanziert sich von terroristischen Gruppen und sagt, | |
dass diese sich von den islamischen Prinzipien und dem Geist des Islam | |
entfernt haben“, sagt Fadil. Sie habe sogar mehrmals unterstrichen, dass | |
gegen den IS ein Krieg geführt werden müsse, weil dieser unschuldige | |
Zivilisten töte. | |
Die Entscheidung aber, wer gläubig und wer ungläubig ist, liege nicht bei | |
den Menschen – sondern einzig bei Gott, argumentiert der Scheich. Für ihn | |
ist die Kategorie „ungläubig“ eine theologische, die im Kampf gegen Terror | |
nichts zu suchen hat. „Im Islam kann man andere Menschen bekämpfen, auch | |
wenn sie Muslime sind, und kann andere Menschen gut behandeln, auch wenn | |
sie keine Muslime sind“, sagt er. Das sei der Grund, warum die Al-Azhar | |
die Terroranschläge zwar als unislamische Taten verurteilt – aber die Täter | |
nicht zu Ungläubigen erklärt. | |
Diesen Unterschied zwischen Tat und Täter will der Al-Azhar-Kritiker Ahmad | |
Abdu Maher nicht gelten lassen. „Ungläubig, das ist eine Tat, die einen | |
Täter hat. Jeder, der Ungläubiges tut, ist ein Ungläubiger“, meint er. | |
Jemand, der angeblich im Namen der Gemeinschaft spricht, müsse von dieser | |
auch ausgeschlossen werden können. „Solange jemand im Namen des Islam | |
spricht und unislamisch handelt, ist es mein Recht zu sagen, dass er vom | |
Islam abgefallen ist. Der IS, das sind Ungläubige, gerade weil sie im Namen | |
meiner Religion sprechen“, begründet Maher. | |
Doch das ist eine Ebene, auf die sich die Al-Azhar nicht einlassen will. | |
„Wir kritisieren die Terroristen, weil sie aus ihrer Laune heraus alle | |
möglichen Menschen zu Ungläubigen erklären. Wir wollen nicht das Gleiche | |
tun“, erklärt Scheich Abdel Fadil. Ein wichtiger Einwand. Der IS bezeichnet | |
nicht nur Christen als Ungläubige, sondern auch alle Muslime, die nicht | |
ihrer radikalen Lesart des Islam folgen. „Die haben diese Türe geöffnet, | |
wir wollen sie verschließen“, sagt der Al-Azhar-Gelehrte. | |
## Wo ist die Grenze? | |
Eine damit zusammenhängende Frage ist, wo die Grenze gezogen würde, bis zu | |
der andere zu Ungläubigen erklärt werden. Beim IS mag das noch relativ klar | |
sein – aber so manches arabische Regime geht recht inflationär mit dem | |
Terroristenbegriff um. „Es besteht auch die Gefahr dass das darauf | |
hinausläuft, jeden, der anders denkt, als Terroristen zu bezeichnen – und | |
damit auch als Ungläubigen“, fürchtet Fadil. | |
Statt mit Begriffen wie „Ungläubige“ um sich zu werfen, müsse die Al-Azhar | |
den Umgang mit den islamischen Quellen selbst reformieren, fordert der | |
Scheich von seiner Institution. Vieles, mit dem die militanten Islamisten | |
heute argumentieren, hätte in einem bestimmten historischen Kontext | |
durchaus seine Bedeutung gehabt, argumentiert der Gelehrte. Scheich | |
Muhammad Abdel Fadil fordert: Statt darüber zu diskutieren, wer zum | |
Ungläubigen erklärt werden sollte, müsse mehr daran gearbeitet werden, die | |
Interpretation der historischen Quellen des Islam an die heutige Zeit | |
anzupassen. | |
Aber das ist eine andere, noch viel größere Diskussion. | |
29 Jan 2018 | |
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## AUTOREN | |
Karim El-Gawhary | |
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