# taz.de -- Kairo-Roman „Die Stadt der Rebellion“: Die Revolution verliert … | |
> In „Die Stadt der Rebellion“ von Omar Robert Hamilton erwachen Triumphe | |
> und Niederlagen der ägyptischen Aufstände von 2011 zum Leben. | |
Bild: Proteste in der Nähe des Tahrir-Platzes am Tag des Rücktritts (11. Febr… | |
Ein glitzerndes Metallding fliegt durch die Luft, ein Blechspielzeug? Es | |
schlingert auf sie zu, bleibt an der Bordsteinkante hängen und verströmt | |
mit einem bösen Zischen sein Gift. Es ist Anfang 2011, eine der großen | |
Schlachten der ägyptischen Revolutionäre gegen das Regime. Ein junger Mann | |
rennt zur Gaskartusche, schleudert sie zurück und schreit vor Schmerz auf. | |
„Wir wussten nicht einmal, dass die Kanister heiß waren. Der 28. Januar. | |
Wir waren nur ein Haufen Kinder, draußen auf der Straße.“ Das sollte sich | |
ändern. | |
„Die Stadt der Rebellion“ ist das Romandebüt des britisch-ägyptischen | |
Filmemachers und Schriftstellers Omar Robert Hamilton. Realistisch, | |
beklemmend und atemlos legt er offen, warum der Ruf der Revolutionäre von | |
2011 nach „Brot, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit“ so schnell erstickt | |
wurde. Hamilton führt uns in die Kairoer Innenstadt, in das hektische Herz | |
dieser Metropole, das für einige Monate im Takt der Revolutionäre schlug. | |
Die Geschichte folgt Khalil und Mariam, einem Liebespaar, das sich in den | |
Tagen der ägyptischen Revolution im Januar und Februar 2011 gefunden hat. | |
Als der Langzeitdiktator Husni Mubarak endlich seinen Rücktritt bekannt | |
gab, schwappte das Land fast über vor Euphorie. Die Handlung im Buch setzt | |
einige Monate später ein. Der Freudentaumel ist einer Realität gewichen, | |
die von Scharmützeln mit der Staatsmacht bestimmt ist, die das Land wieder | |
an sich reißt. | |
## Tweets, Posts und Videos | |
Die meiste Zeit verbringen Khalil und Mariam auf Protesten und im Büro des | |
Chaos-Kollektivs, einer der Herzkammern der Aufstände: Hier rufen sie in | |
Tweets und Posts zu Versammlungen auf, veröffentlichen Videos, in denen die | |
Brutalität der Polizei zu sehen ist, und schneiden Interviews mit den | |
Müttern und Vätern ihrer erschossenen oder gefolterten Söhne. | |
Das alles ist so passiert – im Grunde sind in Hamiltons Roman nur die Namen | |
erfunden. Chaos ist angelehnt an das Mosireen-Kollektiv, einem 2011 | |
gegründeten losen Zusammenschluss von Aktivisten. Khalil trägt deutliche | |
Züge des Autors selbst: Beide gründeten das jeweilige Kollektiv mit, beide | |
sind Filmemacher und beide sind nur zur Hälfte Ägypter – ein Umstand, der | |
Khalil Themen wie Zugehörigkeit und Gemeinschaft hinterfragen lässt. Und | |
der ihn verdächtig macht: Mit Machtantritt des jetzigen Präsidenten al-Sisi | |
im Juli 2013 häufen sich Spionagevorwürfe. Gerade gegen Ausländer mit guten | |
Arabischkenntnissen. | |
Es ist kein Zufall, dass die Handlung mit einem brutal niedergeschlagenen | |
Protest vor dem „Maspero“ genannten Fernsehgebäude beginnt. Die Macht der | |
Medien, Bilder und Narrative, ist eines der Kernmotive im Buch. „Ich | |
wünschte, wir hätten Maspero eingenommen“, diesen Satz sagt Khalil immer | |
wieder. Je weiter die Handlung voranschreitet, desto stärker wird die | |
bittere Erkenntnis: Die sicher geglaubte Revolution gleitet ihm und seinen | |
Chaos-Mitstreitern aus den Händen. | |
## Die Konterrevolution gewinnt an Macht | |
Anfangs werden ihre Filme und Podcasts noch tausendfach heruntergeladen, | |
ihre Tweets sind die virtuelle Lebenslinie des Aufstands. Dann gewinnt die | |
Konterrevolution an Macht. Zunächst setzt sich in den | |
Präsidentschaftswahlen Muhammad Mursi, der Kandidat der Muslimbrüder, gegen | |
einen Vertreter des alten Mubarak-Regimes durch. Für viele Ägypter die Wahl | |
zwischen Pest und Cholera. | |
Dann überdehnt Mursi seine demokratische Legitimierung und regiert von Tag | |
zu Tag autoritärer – bis er mit einer neuen Verfassung den Bogen überspannt | |
und vom Militär aus dem Amt geputscht wird. Danach beginnt die bleierne | |
Zeit: die Düsternis einer Militärdiktatur. Das Jetzt, in dem Menschen wie | |
Alaa Abdel Fattah, Mitglied einer berühmten Dissidentenfamilie und | |
Hamiltons Cousin, für mehrere Jahre hinter Gitter muss, weil das Regime an | |
ihm ein Exempel statuieren will. Ihm ist das Buch gewidmet. | |
Um die schrittweise Umkehrung der einst so hoffnungsfrohen Revolution zu | |
verdeutlichen, hat Hamilton die drei Teile des Buchs „Morgen“, „Heute“ … | |
„Gestern“ genannt. Anfangs besteht eine Aufgabe der Chaos-Aktivisten darin, | |
sich um die Eltern zu kümmern, deren Kinder von den Schergen des Regimes | |
ermordet wurden. Vor allem Mariam reibt sich in den Leichenschauhäusern | |
auf. In kurzen literarischen Vignetten wendet sich Hamilton diesen | |
traurigen Menschen zu. | |
## Erinnern an die Toten | |
Etwa Abu Bassem, der Analphabet, der nach dem Tod seines Sohns täglich ins | |
Internetcafé um die Ecke geht. „Klicken, den Pfeil hochziehen zu dem weißen | |
Feld ganz oben, noch einmal klicken und YouTube tippen. Ein Wort, das er | |
vor Monaten gelernt hat und dessen Bedeutung er nie hinterfragt hat.“ Wenn | |
sich Abu Bassem dann mit einstudierten Bewegungen zu einem Video seines | |
Sohns durchklickt, wenn er kurz vorher innehält und fürchtet, jemand habe | |
es gelöscht, bricht es einem das Herz. Das Erinnern an die Toten ist für | |
die Chaos/Mosireen-Aktivisten ein zentrales Element. Es spornt sie an. | |
In „Gestern“, dem dritten und letzten Teil, entfaltet der Roman seine ganze | |
erschütternde Kraft. Khalil und Mariam treiben langsam auseinander wie zwei | |
Eisschollen im Meer. Ihr Freund Hafez liegt im Koma, grausam gefoltert von | |
den Schergen des Regimes, und stirbt. Andere Mitstreiter des | |
Chaos-Kollektivs sitzen in Gefängnissen wie dem berüchtigten Tora-Knast, wo | |
die Einzelhaft nur durch Kakerlaken und Folter durchbrochen wird. | |
Und auch die Stadt, dieser fiebrige, hektische und zugleich die Trägheit | |
der Jahrhunderte in sich tragende Organismus, verschließt sich Khalil immer | |
mehr. „The City always wins“, die Stadt siegt am Ende immer. Das ist der | |
englische Titel des Romans; er macht die lebendige, wesenhafte Rolle Kairos | |
besser deutlich als der deutsche. | |
## Zeithistorisches Dokument | |
Dieser letzte Teil des Buchs ist in vielen Passagen großartig geschrieben. | |
Und er lässt das Blut in den Adern gefrieren, da bewusst wird: Die | |
willkürlichen Folterungen, die vor Horror berstenden Albträume, das | |
Auseinanderfallen der letzten Hoffnung, es ist ja real. Das hier ist kein | |
Roman. Hamiltons Buch ist ein zeithistorisches Dokument, ein höchstens im | |
Mantel des Romans steckender Beleg auch dafür, dass diese Kunstform viel | |
mehr Realitäten offenlegen kann, als es der Journalismus vermag. | |
Auch die Aktivisten des Mosireen-Kollektivs sehen sich als Künstler. In | |
diesen Tagen, kurz bevor sich der Beginn der ägyptischen Revolution zum | |
siebten Mal jährt, hat Mosireen ein Archiv von Videos online gestellt. | |
Unter www.858.ma kann man sich durch 858 Stunden Filmmaterial klicken. Zu | |
sehen sind Demonstrationen, Proteste, Tote. Schüsse fallen, Sirenen heulen. | |
Die Regierung soll Gegenwind bekommen in ihrem Versuch, dies vergessen zu | |
machen und Menschenrechtsverletzungen wie das Massaker am Rabaa | |
al-Adawija-Platz im Juli 2013 aus den Geschichtsbüchern zu tilgen. Als | |
damals die Regierung ein Protestcamp der Anhänger des abgesetzten | |
Präsidenten Mursi räumen ließ, starben tausend Menschen. Eine Zahl, die der | |
Staat herunterspielt, und überhaupt: Ägypten werde von Terroristen | |
bedroht, da seien harte Maßnahmen eben erforderlich. | |
## Der Zynismus des Regimes | |
In „Die Stadt der Rebellion“ sagt Hafez dazu: „Rabaa war ein Spektakel. S… | |
wollen, dass wir es sehen, dass wir Angst bekommen, dass wir verstehen, wie | |
weit sie gehen können.“ Ein kluger Satz über die Macht der Bilder, der ein | |
Licht auf den Zynismus des Regimes wirft und zugleich den Kampf beschreibt, | |
den die Mosireen-Aktivisten führen. | |
Sie wollen dem Narrativ der Regierung etwas entgegensetzen, eine von | |
mehreren Geschichten zwar, aber wenigstens eine, die wahr ist. Denn der | |
2011 von Zehntausenden Demonstrierenden geäußerte Ruf nach „Brot, Freiheit, | |
sozialer Gerechtigkeit“ gilt immer noch. Vielen Ägyptern geht es so | |
schlecht wie lange nicht. | |
5 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Christopher Resch | |
## TAGS | |
Tahrir-Platz | |
Husni Mubarak | |
Zehn Jahre Arabischer Frühling | |
Ägypten | |
Ägypten | |
Ägypten | |
Ägypten | |
Scheich | |
Ägypten | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Arabischer Frühling: Eigentümlich ironiefrei | |
Kitschige Prosa und affektierte Figuren. Der ägyptische Schriftsteller Alaa | |
al-Aswani holt in seinem neuen Roman weit aus. | |
Wiederentdeckter Roman aus Ägypten: Das schwarze Schaf der Familie | |
Ein Taugenichts aus gutem Hause: Waguih Ghalis Roman „Snooker in Kairo“ | |
legt nicht zuletzt auch die Brüche des heutigen Ägyptens offen. | |
Wahlfarce in Ägypten: Platz zwei für die ungültigen Stimmen | |
Ex-Militärschef al-Sisi erhält 90 Prozent der Stimmen. Sechs Prozent der | |
Wähler*innenn votierten ungültig. Der einzige Gegenkandidat erhielt drei | |
Prozent. | |
Vor der Wahl in Ägypten: Kaum einer da außer al-Sisi | |
In Ägypten sind Kandidaten für die Präsidentschaftswahl hinter Gittern | |
verschwunden. Raum für eine politische Debatte gibt es derzeit nicht. | |
Kairos Rechtsgelehrte als Sozialarbeiter: Scheichs gegen Islamisten | |
Neuerdings gehen Kairos Rechtsgelehrte statt in die Moschee in die | |
Kaffeehäuser. Als Streetworker sollen sie Muslime vor radikalen Ideen | |
bewahren. | |
Kommentar Freispruch Husni Mubaraks: Die alten Kräfte regieren weiter | |
Die Freilassung Mubaraks zeigt, Repression zahlt sich aus. Kaum ein Protest | |
ist zu hören, obwohl Ägyptens Ex-Diktator jetzt doch straffrei bleibt. |