| # taz.de -- Iranisches Sozialdrama im Kino: Mitschuld ohne Sühne | |
| > Vahid Jalilvand erzählt in seinem Kinofilm „Eine moralische Entscheidung“ | |
| > mit hohem Tempo die Geschichte eines Unfalls. | |
| Bild: Ein Unfall und seine Auswirkungen: Die Figuren scheinen im Laufe des Film… | |
| Als der Gerichtsmediziner Kaveh Nariman auf einer nächtlichen Straße einem | |
| Auto ausweicht, touchiert er ein Motorrad, das rechts neben ihm fährt. Er | |
| hält an, kümmert sich um die Familie, die zusammengedrängt auf dem Motorrad | |
| sitzt. Die Polizei zu rufen, versucht Nariman zu vermeiden – die | |
| Versicherung seines Autos ist seit Monaten abgelaufen. So weit scheint auch | |
| alles in Ordnung: Vater und Mutter sind wohlauf, der Vater macht sich | |
| schlecht gelaunt am geliehenen Motorrad zu schaffen, nur der Sohn klagt, | |
| dass der Arm schmerze. Nariman macht ein paar Tests und wartet mit dem | |
| Jungen im Auto. | |
| Als das Motorrad provisorisch wieder flottgemacht ist, will die Familie | |
| weiterfahren. Der Gerichtsmediziner gibt ihnen ein wenig Geld und erklärt | |
| noch einmal den Weg zur nahe gelegenen Klinik. Dann fährt die Familie los. | |
| Als Nariman am nächsten Tag in die Gerichtsmedizin kommt, liegt der junge | |
| Amir tot in der Leichenhalle. | |
| Der Unfall ist in „Eine moralische Entscheidung“, dem zweiten Spielfilm des | |
| iranischen Regisseurs Vahid Jalilvand, Ausgangspunkt einer Kette von | |
| tragischen Ereignissen. Bei der Autopsie, die Narimans Kollegin Sayeh | |
| Behbahani durchführt, stellt sich heraus, dass der Junge eine | |
| Lebensmittelvergiftung hatte. Wahrscheinlicher Grund ist der Verzehr von | |
| verdorbenem Fleisch; Fleisch, das Amirs Vater wenige Tage zuvor billig in | |
| einem Schlachthof gekauft hatte. Im Gespräch mit den Eltern bemerkt Sayeh, | |
| dass Moosa Khanroodi, der Vater des Jungen, etwas verschweigt. Im Gespräch | |
| mit Kaveh bemerkt Sayeh, dass dieser ebenfalls etwas nicht sagt. Zum | |
| Zeitpunkt der Autopsie und des Totenscheins weiß Sayeh weder vom Fleisch, | |
| das der Vater gekauft hat, noch von dem Unfall am Abend zuvor. | |
| Wegen des Fleisches macht Moosa Khanroodis Frau Leila ihrem Mann Vorwürfe. | |
| Nach der Trauerzeit will sie ihn verlassen. Wegen des Unfalls macht Nariman | |
| sich selbst Vorwürfe. Am nächsten Tag erzählt er Sayeh davon. Wegen des | |
| Fleisches macht Moosa Khanroodi dem Mann im Schlachthof Vorwürfe, der ihm | |
| das Fleisch verkauft hat. Ein paar Tage später fährt er zum Schlachthof und | |
| stellt ihn. Die beiden geraten in eine Prügelei, am Ende liegt der Mann aus | |
| dem Schlachthof im Koma. Was wäre, wenn der Junge gar nicht an der | |
| Lebensmittelvergiftung gestorben wäre, sondern an den Folgen des Unfalls, | |
| die bei der Autopsie unerkannt geblieben sind, fragt sich Nariman. | |
| ## Vielversprechender Anfang als Spielfilmregisseur | |
| „Eine moralische Entscheidung“ ist ein Film über unlösbare Fragen, über | |
| Antworten, die Raum lassen zum Zweifeln. In Nariman wachsen die Zweifel. | |
| Die Möglichkeit, dass er nicht nur den Tod des Jungen mitverursacht hat, | |
| sondern durch sein Schweigen Mitschuld hat an allem, was auf den Unfall | |
| gefolgt ist, wird immer unerträglicher. Für Moosa Khanroodi hingegen ist es | |
| durch die Autorität der Ärzte Gewissheit, dass er Schuld hat am Tod seines | |
| Sohnes. Den Folgen, die dabei sind, sein bisheriges Leben hinwegzufegen, | |
| ist er nicht gewachsen. | |
| Vahid Jalilvands Film feierte 2017 bei den Filmfestspielen in Venedig | |
| Premiere und eroberte danach die Festivals der Welt. Jalilvand hatte 20 | |
| Jahre beim iranischen Fernsehen gearbeitet und für mehr als 30 | |
| Dokumentarfilme und zwei Fernsehserien verantwortlich gezeichnet, als er | |
| 2014 über politische Differenzen seinen Hut nahm und Spielfilmregisseur | |
| wurde. 2015 präsentierte er seinen Debütfilm „Mittwoch, 9. Mai“ ebenfalls | |
| in Venedig. Wenn er im gleichen Tempo weiterarbeitet, darf man gespannt | |
| sein, ob sich sein Name im Herbst erneut im Programm von Venedig findet. | |
| Jalilvands erstes Regieleben als Dokumentarfilm-Regisseur ist in „Eine | |
| moralische Entscheidung“ der genauen Beobachtung der Orte und Abläufe | |
| anzumerken. Der Film war der iranische Beitrag zum „Oscar“ 2018, was im | |
| Iran auf Kritik konservativer Kreise stieß, die es vorgezogen hätten, wenn | |
| „Damascus Time“ des Kriegsfilmhaudegen Ebrahim Hatamikia für diesen Slot | |
| nominiert worden wäre. Hatamikias Film zeigt den heroischen Einsatz zweier | |
| iranischer Luftwaffenpiloten bei der Rettung von Zivilisten vor dem | |
| vorrückenden „Islamischen Staat“. | |
| Den Erfolg von „Eine moralische Entscheidung“ verdankt Jalilvand nicht | |
| zuletzt seinen Schauspielern. Amir Agha’ee, der Kaveh Nariman spielt, | |
| feierte sein Debüt 2001 in Hatamikias Luftpirateriedrama „Low Heights“. Die | |
| Filmografie verlief seitdem etwas mäandernd, seit ein paar Jahren ist | |
| Agha’ee aber immerhin nicht mehr vorrangig auf Fernsehserien zum Broterwerb | |
| angewiesen. Als Gerichtsmediziner schiebt er sich zu Beginn mit einer | |
| John-Boorman-esken Schrankhaftigkeit durch den Film, die im Verlauf mit | |
| wachsenden Zweifeln ihre Teflonbeschichtung verliert. Agha’ee ist unter den | |
| Protagonisten der Einzige, der schon bei Jalilvands Debüt dabei war. | |
| ## Der innere Halt scheint noch weiter zu zerbröseln | |
| Hedieh Tehrani ist eine der prominentesten Schauspielerinnen des Iran. Ihr | |
| Debüt feierte sie 1997 standesgemäß mit einer Hauptrolle, in der sie um ihr | |
| Erbe als Tochter eines kurz vor dem Tode beschenkten Hauswarts kämpft. | |
| Tehrani ist bekannt für die Verkörperung von Frauenfiguren, die sich | |
| durchzusetzen wissen. Gegenüber vielen anderen ihrer Rollen ist ihre | |
| Verkörperung von Sayeh Behbahani geradezu zurückgenommen – ohne dass sie | |
| Nariman deshalb nicht von Zeit zu Zeit in die Schranken weisen würde. | |
| Am meisten jedoch sticht Navid Mohammadzadeh als Moosa Khanroodi hervor. | |
| Khanroodi steht bei Mohammadzadeh schon zu Beginn leicht geneigt, vermeidet | |
| es während des Geschehens nach dem Unfall so weit wie möglich, Nariman ins | |
| Gesicht zu blicken. Er richtet sich nur in Momenten der Wut auf, erhebt | |
| sich im Kampf, um nicht übergangen zu werden. Im Verlauf des Films scheint | |
| der innere Halt dieser gebeugten Figur noch weiter zu zerbröseln. Selbst | |
| als er sich weit genug aufgerichtet hat, um den Mann vom Schlachthof zu | |
| konfrontieren, hält die Wut nicht lange, bevor sie der Verzweiflung weicht. | |
| Die ohnehin stets leicht heisere Stimme scheint zunehmend zu brechen | |
| (allein schon für diese Stimme sollte man die untertitelte Fassung der | |
| Synchronisierung vorziehen). | |
| Mohammadzadeh ist einer der markantesten jüngeren Schauspieler des | |
| iranischen Kinos. Spätestens seit er 2014 in Reza Dormishians „I’m not | |
| Angry!“ einen ehemaligen Studenten spielt, der nach den Unruhen von 2009 | |
| nicht mehr ins Leben zurückfindet, durchzieht Mohammadzadehs Rollen eine | |
| Sozialgeschichte der Verwerfungen im Iran. Für seine Verkörperung von Moosa | |
| Khanroodi erhielt er in Venedig den Preis für den besten Hauptdarsteller in | |
| der Sektion Orizzonti. | |
| ## Mehr deutsche Verleiher sollten iranisches Kino wagen | |
| „Eine moralische Entscheidung“ erzählt die Geschichte des Unfalls und | |
| seiner Auswirkungen mit beeindruckendem Tempo. Wer bedächtiges Rumlungern | |
| in hübschen Bildern erwartet, wird überrascht sein, wie bewegt Jalilvand | |
| erzählt. Gemeinsam mit Bildgestalter Peyman Shadmanfar hat Jalilvand Bilder | |
| mit einer sehr gedämpften Farbigkeit gefunden. Nur vereinzelt stechen bunte | |
| Elemente hervor. | |
| Jalilvands Film ist nach „A Man of Integrity“ von Mohammad Rasoulof, der | |
| Anfang Mai in deutschen Kinos startete, ein neuerlicher Beweis, dass mehr | |
| iranisches Kino auf deutschen Kinoleinwänden ein Gewinn ist. Wenn jetzt | |
| noch die Zuschauer_innen strömen, wagen nach dem Camino Filmverleih („A | |
| Man of Integrity“) und dem Farbfilmverleih („Eine moralische Entscheidung�… | |
| hoffentlich weitere deutsche Verleiher mehr iranisches Kino. | |
| 20 Jun 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Fabian Tietke | |
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