# taz.de -- Indikatoren für Coronapolitik: Zeit für neue Werte? | |
> Lange wurde auf die Inzidenz geschaut, jetzt soll der Blick geweitet | |
> werden. Taugen R-Wert, Krankenhauszahl und Impfquote als Frühindikatoren? | |
Bild: Tut nicht weh und hilft allen: Impfung to-go in Berlin | |
Es klingt nach einem heftigen Streit: „Mit steigender Impfrate verliert die | |
Inzidenz an Aussagekraft“, sagt Gesundheitsminster Jens Spahn in dieser | |
Woche [1][in der Bild]. Es brauche „zwingend weitere Kennzahlen, um die | |
Lage zu bewerten“. Damit reagierte der CDU-Mann auf einen Bericht der | |
Zeitung über ein angebliches [2][„geheimes Panik-Papier“], in dem der | |
Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, für ein | |
Festhalten an der Inzidenz als „Leitindikator“ plädiert hatte. | |
Doch das Papier, eine zehnseitige Power-Point-Präsentation, ist weder | |
geheim, noch wird darin Panik geschürt. Für ein Festhalten an der Inzidenz | |
als wichtigstem Indikator, der weiterhin möglichst niedrig gehalten werden | |
sollte, plädiert das RKI darin aber tatsächlich, und dafür gibt es auch | |
gute Gründe. Die Forderung steht auch keinesfalls im Gegensatz zur von | |
Spahn geforderten zusätzlichen Betrachtung weiterer Indikatoren – soweit | |
diese überhaupt verfügbar sind. Ein kurzer Überblick: | |
## Der Inzidenzwert | |
Zur Erinnerung: Die Inzidenz gibt an, wie viele Neuinfektionen es innerhalb | |
von sieben Tagen bezogen auf 100.000 Einwohner*innen gibt. Durch diese | |
festen Bezugsgrößen ist der Wert theoretisch über verschiedene Zeiträume | |
und Regionen gut vergleichbar. In der Praxis gab es schon immer ein paar | |
Einschränkungen. So wird die Inzidenz davon beeinflusst, wie viele Menschen | |
unter welchen Voraussetzungen getestet werden. Außerdem werden Fälle, die | |
mit mehr als einer Woche Verzögerung gemeldet werden, für die Inzidenz | |
nicht berücksichtigt. | |
Doch solange die Bedingungen einigermaßen vergleichbar bleiben, vermittelt | |
der Inzidenzwert ein recht gutes und vor allem [3][aktuelles Bild] vom | |
Infektionsgeschehen. In Deutschland liegt er aktuell bei 17 – weitaus | |
niedriger als im Dezember, als der bisherige Spitzenwert von knapp 200 | |
gemessen wurde, aber schon wieder mehr als dreimal so hoch wie vor gut drei | |
Wochen. | |
Diese Entwicklung zeigt bereits: Mindestens ebenso wichtig wie die | |
Infektionszahl ist ihre Veränderung. Denn weil der Anstieg zumindest | |
zeitweise exponentiell verläuft, können aus kleinen Zahlen ziemlich schnell | |
große werden. Zuletzt lag die Wachstumsrate in Deutschland bei gut 30 | |
Prozent pro Woche. Wenn es dabei bliebe, entspräche das einer Verdopplung | |
innerhalb von zweieinhalb Wochen. | |
Alternativ kann man das Wachstum auch am sogenannten R-Wert erkennen. Der | |
gibt an, wie viele weitere Menschen ein Infizierter im Schnitt ansteckt. | |
Weil sich dies auf einen Zeitraum von vier Tagen bezieht, ist er schwerer | |
interpretierbar; eine wöchentliche Wachstumsrate von 30 Prozent entspricht | |
ungefähr einem R-Wert von 1,17. Dieser Wert wird bei politischen | |
Entscheidungen schon jetzt regelmäßig berücksichtigt, etwa in Berlin, wo er | |
Teil der Corona-Ampel ist. | |
## Krankenhauszahlen | |
Im Mittelpunkt der aktuellen Debatte um neue Corona-Indikatoren steht die | |
Zahl der Patient*innen, die aufgrund einer Coviderkrankung im Krankenhaus | |
behandelt werden müssen. Denn sie könnte zuverlässig anzeigen, wie viele | |
schwere Verläufe es gibt – zumindest theoretisch. In der Praxis konnte die | |
sogenannte Hospitalisierungsrate in Deutschland bisher nicht wirklich | |
genutzt werden, weil es Zahlen dazu nur unvollständig, einmal pro Woche und | |
mit großer Zeitverzögerung gab. Tagesaktuell gemeldet wurden bisher nur | |
Zahlen von den Intensivstationen. Erst seit Mitte Juli sind Krankenhäuser | |
durch eine neue Verordnung verpflichtet, die Zahl aller aufgenommenen | |
Coronapatient*innen kurzfristig und vollständig zu melden. | |
Wie gut das gelingt, ist offen. Bisher sind sich die zuständigen Stellen | |
noch nicht mal einig, wer unter die Verordnung fällt: nur Patient*innen, | |
die aufgrund einer Coviderkrankung aufgenommen werden – so stellt es das | |
Bundesgesundheitsministerium auf taz-Anfrage dar. Oder alle | |
Krankenhauspatient*innen, die unabhängig vom Aufnahmegrund positiv auf | |
Corona getestet wurden – davon gehen die Deutsche Krankenhausgesellschaft | |
und das RKI aus. | |
Seit gut einer Woche [4][veröffentlicht das RKI] auf Grundlage der | |
erfassten Zahlen eine neue Hospitalisierungsinzidenz; sie zeigt, angelehnt | |
an die 7-Tage-Inzidenz der Neuinfektionen, wie viele | |
Coronapatient*innen innerhalb der letzten sieben Tage pro 100.000 | |
Einwohner*innen ins Krankenhaus aufgenommen wurden. Die wenigen Werte, | |
die es dafür bisher gibt, zeigen auch für diesen Indikator einen deutlichen | |
Anstieg um 35 Prozent innerhalb einer Woche. | |
Eine ähnliche Entwicklung ist in [5][Großbritannien] zu beobachten, wo der | |
Anstieg der Infektionszahlen schon früher begonnen hatte: Auch dort folgt | |
die Zahl der Krankenhauspatient*innen mit etwa einer Woche | |
Verzögerung der Inzidenz, sodass diese weiterhin als Frühindikator gut | |
geeignet ist. Was sich dort dagegen stark verändert hat, ist das Verhältnis | |
der Werte zueinander: Die Zahl der Krankenhausfälle pro Infektionsfall ist | |
im Vergleich zum Januar um etwa 80 Prozent gesunken. | |
## Die Impfquote | |
Grund dafür, dass es pro Infektionsfall weniger | |
Krankenhauspatient*innen und Tote gibt, sind natürlich die | |
Impfungen. Wie gut sie gegen eine Infektion mit der Deltavariante schützen, | |
ist nach unterschiedlichen Studienergebnissen zwar nicht mehr ganz klar. | |
Doch gesichert ist, dass vollständig Geimpfte im Fall einer Infektion sehr | |
viel seltener schwer erkranken oder sterben. Zudem ist in den Risikogruppen | |
ein überdurchschnittlicher Anteil der Menschen geimpft; auch das führt | |
dazu, dass die gleiche Zahl an Infektionen zu weniger schweren Verläufen | |
führt. | |
Wenn es darum geht, die Überlastung der Krankenhäuser zu verhindern, kann | |
sich eine Gesellschaft also um so mehr Infektionen „leisten“, je mehr | |
Menschen geimpft sind. In Nordrhein-Westfalen hat die vom | |
CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet geführte Regierung deshalb härtere | |
Auflagen bei einer Inzidenz ab 50 bereits ausgesetzt. Und | |
Gesundheitsminister Spahn erklärte kürzlich, bei einer Impfquote von 75 | |
Prozent gelte in Bezug auf die Inzidenz: [6][„200 ist das neue 50.“] | |
Diese Rechnung ist jedoch aus mehreren Gründen fraglich. Erstens kann sie | |
in falscher Sicherheit wiegen – denn eine Vervierfachung der Inzidenz kann | |
bei hohen Wachstumsraten innerhalb von einer Woche geschehen, wie kürzlich | |
in den [7][Niederlanden] zu sehen war. | |
Zweitens ist unklar, ob die Entwicklung in Deutschland genauso läuft wie in | |
Großbritannien, denn dort ist die Impfquote unter den älteren Menschen | |
deutlich höher als in Deutschland. | |
Und zum Dritten kann man die Frage stellen, ob man die Maßnahmen wirklich | |
darauf ausrichten will, dass die Krankenhäuser wie bei der letzten Welle | |
kurz vor der Überlastung stehen, nur um wenige Wochen auf einige Maßnahmen | |
verzichten zu können. | |
## Langzeitschäden | |
Ein weiterer Grund, der gegen die Akzeptanz hoher Infektionszahlen sprechen | |
könnte, sind die Langzeitschäden, die durch die Erkrankung entstehen | |
können. So fordert etwa Gérard Krause, Leiter der Epidemiologie am | |
Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, auch die durch | |
Corona verursachte Arbeitsunfähigkeit als Indikator zu berücksichtigen. | |
Tatsächlich fließt in die derzeit genutzten Werte nicht ein, dass ein Teil | |
der Covid-19-Patient*innen, und zwar nicht nur solche mit schweren | |
Verläufen, nach der akuten Infektionsphase Wochen oder gar Monate braucht, | |
um wieder gesund zu werden. Gibt es viele Long-Covid-Patient*innen, ist das | |
nicht nur individuell dramatisch, sondern könnte auch eine Belastung für | |
die Wirtschaft und die Sozialsysteme darstellen. | |
Das bislang diffuse Krankheitsbild [8][Long Covid] ist allerdings noch zu | |
wenig erforscht, um medizinisch genaue Angaben zu Ursachen und Verbreitung | |
zu machen. Auswertungen der Krankenversicherungen AOK und Barmer haben | |
ergeben, dass im Frühjahr 5 bis 6 Prozent der registrierten Infizierten mit | |
der Diagnose „Post-Covid-19-Zustand“ länger krankgeschrieben waren. | |
Das Problem bei diesen Zahlen: Sie ergeben sich aus den Abrechnungen der | |
Hausärzt*innen. Weil diese Daten aber gewöhnlich erst Monate nach der | |
Diagnose zur Verfügung stehen, eignet sich der Indikator | |
„Arbeitsunfähigkeit“ wohl kaum zur Steuerung kurzfristiger politischer | |
Maßnahmen. | |
Womöglich aber als Argument für die Forderung des Robert Koch-Instituts, | |
Schutzmaßnahmen nicht vorschnell aufzugeben. Und die wären übrigens gar | |
nicht so umfangreich. Anders als Bild schreibt, fordert in dem Papier das | |
RKI nämlich nicht „Lockdown statt Freiheit“, sondern plädiert vor allem | |
dafür, die Basisschutzmaßnahmen wie Maskenpflicht und Abstand in | |
Innenräumen beizubehalten, Schulen mit Lüftungen und besseren Tests | |
auszustatten und die Impfkampagne durch leichter zugängige Impfungen für | |
bestimmte Gruppen zu verbessern. Von einem Lockdown ist in der Präsentation | |
dagegen keine Rede. | |
30 Jul 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&… | |
[2] https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&… | |
[3] /Coronakrise-in-Deutschland/!5785759 | |
[4] https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberi… | |
[5] /Coronainfektionen-in-Grossbritannien/!5786141 | |
[6] https://www.aerztezeitung.de/Politik/Spahn-zur-Inzidenz-200-ist-das-neue-50… | |
[7] /Coronavirus-in-den-Niederlanden/!5781601 | |
[8] /Spaetfolgen-von-Covid-19/!5777303 | |
## AUTOREN | |
Malte Kreutzfeldt | |
Manuela Heim | |
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