# taz.de -- Impfstoff und Verteilungsgerechtigkeit: You first, me second | |
> Wer bekommt den Impfstoff gegen Covid-19 zuerst? Impf-Prioritäten müssen | |
> an universelle Menschenrechte gekoppelt sein. | |
Pünktlich zum Advent erreichen uns ermutigende Nachrichten: Die Zulassung | |
der ersten neu entwickelten [1][Anti-Covid-19-Impfstoffe] ist beantragt. | |
Sobald die Zulassung auf der Basis der üblichen Kriterien von Sicherheit | |
und Wirksamkeit erfolgt ist, kann spätestens zu Beginn des nächsten Jahres | |
mit umfangreichen Impfkampagnen begonnen werden. Freilich ist zumindest in | |
den ersten Monaten von erheblichen Knappheitsproblemen auszugehen. Denn | |
selbst wenn schnell ausreichende Mengen an Impfstoffen produziert werden | |
könnten, müssen diese erst noch mittels einer komplizierten Logistik | |
verteilt und dann von Impfteams den Impfwilligen verabreicht werden. Und | |
diese Knappheiten betreffen nicht nur Deutschland, sondern die | |
internationale Gemeinschaft insgesamt. | |
Staatlich autorisierte Rangfolgen sind notwendig. Wer priorisiert, der will | |
das Windhund- und Ellenbogenprinzip verhindern: Nicht die Schnellsten oder | |
Rücksichtslosesten kommen in den Genuss des Gesundheitsvorteils Impfschutz, | |
sondern diejenigen, die nach akzeptablen Kriterien bevorzugt werden. Wer | |
bestimmte Personen vorzieht, stellt andere hintan. Deshalb müssen die | |
Kriterien hierfür gut begründet und dann auch konsequent angewendet werden. | |
Sonst sind sie inakzeptabel. Priorisierungsentscheidungen berühren | |
medizinisch-epidemiologische wie ethische und rechtliche Aspekte. In | |
Deutschland hat der Bundesgesundheitsminister deshalb eine „Gemeinsame | |
Arbeitsgruppe“ aus Mitgliedern der Ständigen Impfkommission beim RKI, der | |
nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina sowie des Deutschen | |
Ethikrates beauftragt, solche Kriterien zu entwickeln, der Öffentlichkeit | |
zur Diskussion und dem Gesetzgeber für seine Entscheidungen zur Verfügung | |
zu stellen. | |
Die ethischen Prinzipien, die die Gemeinsame Arbeitsgruppe ihren | |
Priorisierungsempfehlungen zugrunde legt, sind zwar nicht sonderlich | |
originell, dafür aber evident und weitgehend konsensfähig. Im Mittelpunkt | |
steht – neben Nichtschädigung und Wohlergehen – Gerechtigkeit in Form von | |
Fairness und Rechtsgleichheit. Diese Grundprinzipien begründen das | |
Kriterium der höheren Dringlichkeit einer Gefahrenabwehr durch | |
[2][Impfschutz]: zuerst diejenigen mit einem extrem hohen Risiko, an | |
Covid-19 schwer zu erkranken oder gar zu sterben (zum Beispiel Hochaltrige | |
und spezifisch Vorerkrankte); sodann diejenigen, die anlass- oder | |
berufsbedingt sich selbst und in der Folge andere besonders Gefährdete | |
anstecken können (etwa in Gesundheitsberufen Tätige); und schließlich | |
Personen(gruppen), die in anderen öffentlichkeitsrelevanten Berufen und | |
Funktionen einem hohen Ansteckungsrisiko ausgesetzt sind und bei | |
krankheitsbedingtem Ausfall nur mit großen Problemen ersetzt werden können. | |
Kein Kriterium bildet die bessere Erfolgsaussicht. Das mag überraschen. | |
Sollten nicht möglichst die zuerst geimpft werden, die schnell erreicht | |
werden, bei denen die Immunantwort möglichst stark ist, deren | |
Leistungsfähigkeit das Gemeinwohl am meisten sichert und fördert? Aber | |
dieses Kriterium führte unweigerlich dazu, dass Jüngere (deren Immunantwort | |
ist im Schnitt stärker, und sie leben durchschnittlich noch länger) oder | |
Fittere (deren Leistungsfähigkeit ist besser geschützt) bevorzugt werden | |
müssten. Nützlichkeitserwägungen dürfen bei Impfstrategien zweifellos eine | |
Rolle spielen. Welche Verteilungssysteme oder Impfzentren sind möglichst | |
effizient? Welche Impfstoffe sind für welche Personengruppe besonders | |
effektiv? Nützlichkeitserwägungen dürfen aber nicht in utilitaristischer | |
Manier die Oberhand gewinnen. Sie sind eingeklammert durch die universale | |
Geltung der Menschenwürde und der Menschenrechtsansprüche aller. Das heißt: | |
Jede Form einer Bewertung des Lebens und jede Form der Diskriminierung | |
aufgrund des Alters, der Lebenserwartung, der Leistungsfähigkeit und so | |
weiter ist kategorisch ausgeschlossen. | |
Dies gilt auch im internationalen Kontext. Die Pointe universaler ethischer | |
Prinzipien ist: Sie gelten nicht nur überall, sondern vor allem für alle. | |
Menschenrechte bilden eine Klammer um wirklich alle Menschen. Sie lassen | |
sich nicht auf Nationalstaaten begrenzen, sondern setzen nationalen | |
Grenzziehungen selbst eine Grenze: Nur innerhalb globaler | |
Menschheitsinteressen haben nationale Regelungen einen legitimen Platz. Das | |
gilt gerade auch für Impf(stoff)-Priorisierungen. | |
Die Versuchung ist groß, das eigene Knappheitsproblem und mit ihm die | |
Notwendigkeit von Priorisierungen zu mildern, indem man sich für das eigene | |
Land privilegierte Zugriffsrechte auf Impfstoffe sichert und dabei die | |
berechtigten Ansprüche anderer stumpf übergeht. Diese Gefahr ist real: In | |
den vergangenen Monaten wurden wir und wir werden bis heute Zeug*innen | |
solch brachialer Egoismen des „Me first“. Prominentes Beispiel: der Versuch | |
der abgewählten US-Administration, sich durch den Erwerb des Tübinger | |
Biotech-Unternehmens Curevac das ausschließliche Zugriffsrecht auf den dort | |
entwickelten Impfstoff zu sichern. Dagegen gilt: Der Verschaffungsanspruch | |
von Bürger*innen gegenüber ihrem eigenen Staat auf Schutz ihrer Gesundheit | |
entpflichtet niemals von jenen Verbindlichkeiten, die um der Menschenrechte | |
aller willen einen gerechten [3][Zugang zu Impfstoffen] für alle Staaten | |
ermöglichen. Gelegentlich wird um Akzeptanz mit dem Argument geworben, die | |
deutsche Gesundheit würde auch am Kap der guten Hoffnung gesichert und | |
verteidigt. Das mag sachlich vielleicht zutreffen, weil neue Coronahotspots | |
auf Deutschland zurückwirken. Deshalb sei eine großzügige Belieferung im | |
eigenen Interesse. Das ist ethisch aber nur nachgeordnet bedeutsam. Was | |
letztlich allein zählt, ist der menschenrechtliche Anspruch auf | |
Gesundheits- und Lebensschutz der dort bedrohten Bevölkerung – um ihrer | |
selbst willen und nicht unseretwegen. | |
Erfreulich ist deshalb: Die deutsche Bundesregierung, die Europäische | |
Kommission und die Weltgesundheitsorganisation setzen derzeit vieles in | |
Bewegung, damit die künftig verfügbaren Impfstoffe allen Menschen | |
gleichermaßen zur Verfügung gestellt und nationale Egoismen unterbunden | |
werden. Dies kann handels- wie patentrechtlich sogar so weit gehen, dass in | |
Zeiten der Pandemie Zwangslizenzen für die Produktion von Impfstoffen | |
erteilt und diese für wenig zahlungskräftige Drittstaaten etwa des globalen | |
Südens kostengünstig zur Verfügung gestellt werden. Zwar hat sich die | |
Bundesregierung auch über die EU eine erhebliche Anzahl von Impfdosen | |
vertraglich gesichert. Gleichwohl unterstützt sie mit der EU und der WHO | |
die internationale Global Alliance for Vaccines and Immunisation, die die | |
Impfstoffverteilung an rund 2 Milliarden Menschen auch in nicht | |
zahlungsfähigen Ländern sicherstellen soll. Hier gilt die klassische | |
Priorisierungsregel: statt der privilegierten Bestversorgung einiger | |
weniger (Länder), zuerst die Basisversorgung möglichst aller. | |
Gelegentlich wird solches Handeln für bedürftige Dritte Solidarität | |
genannt. Auch der Gemeinsame Arbeitskreis bezieht sich auf dieses ethische | |
Prinzip: Stärkere stellen ihre berechtigten Ansprüche zugunsten Schwächerer | |
zurück: You first, me second! Viele fühlen sich zur Solidarität motiviert, | |
weil sie die Menschheit in einem Boot sitzend wähnen. Doch dieses Bild | |
trügt. Die Pandemie mag uns zwar alle treffen; sie trifft uns aber höchst | |
ungleich. | |
Schon im globalen Norden vertiefen sich die sozialen Spaltungen: Die einen | |
haben wie schon in Zeiten der Pest oder Cholera ausreichend | |
Rückzugsmöglichkeiten, wo sie die durch Lockdowns verursachten | |
Sekundärschäden der Pandemie ausreichend materiell abgesichert abfedern | |
können. Andere hingegen verlieren mit ihrer Erwerbstätigkeit die Grundlage | |
ihrer Existenz. Und während im globalen Norden die Kapazitäten an | |
Intensivbetten ausgebaut werden, wäre jeder Euro, den ein Land wie Mali in | |
die Beschaffung von Beatmungsgeräten steckte, eine Investition in die | |
Schutzprivilegien einer kleinen Oberschicht und eine weitere Schwächung der | |
elementaren Gesundheitsversorgung für den überwiegenden Teil einer ohnehin | |
verarmten Bevölkerung. | |
Solche sozialen Spaltungslinien sind auch für Covid-19-Impfstrategien | |
relevant. National wäre tatsächlich zu fragen, ob sich die Impfziele auf | |
die Verhinderung schwerer Covid-19-Verläufe, auf weitere Übertragungen oder | |
auf die Aufrechterhaltung staatlicher Funktionen und des öffentlichen | |
Lebens beschränken können. Die Weltgesundheitsorganisation geht in ihren | |
Impfpriorisierungsempfehlungen deutlich weiter. Sie ergänzt die | |
medizinischen Impfziele durch die Orientierung an der Wiederherstellung der | |
psychosozialen Entwicklung sowie elementarer sozialer und ökonomischer | |
Sicherheit. Man mag diese Impfziele in Deutschland für entbehrlich halten, | |
weil staatliche Unterstützungen solche Folgeschäden abfedern. Für viele | |
Länder des globalen Südens hingegen sind sie für das Gros der Bevölkerung | |
aber an dringlichsten. | |
In den meisten Ländern Afrikas nimmt die Covid-19-Pandemie einen anderen | |
Verlauf als in unseren Breitengraden. Schon die erheblich jüngere | |
Bevölkerung oder die geringe Verbreitung ernährungsbedingter Stoffwechsel- | |
und Herz-Kreislauf-Erkrankungen dämpft offensichtlich das Ausmaß schwerer | |
Covid-19-Verläufe. Auf der anderen Seite dürfte das pandemiebedingte | |
Aussetzen von Impf- und Behandlungsmaßnahmen gegen Durchfallerkrankungen, | |
HIV, Lungenentzündungen, Masern oder Polio ein Vielfaches mehr an | |
Todesopfern fordern. | |
Bleibt die Frage, wer über die Priorisierungen entscheiden soll – weltweit | |
und in den einzelnen Ländern. Es geht weltweit um fundamentale | |
menschenrechtliche Ansprüche. In Deutschland müssen die Bevorzugungs- und | |
Hintanstellungskriterien – weil grundrechtsrelevant – vom parlamentarischen | |
Souverän legitimiert werden. Was globale Verteilungskriterien angeht, muss | |
jedes einzelne Land mitentscheiden können – selbst wenn es in den Genuss | |
kostengünstiger oder sogar kostenloser Impfstoffe käme. Alles andere wäre | |
die ewige Wiederkehr kolonialer Bevormundung, auch wenn sie sich nunmehr im | |
Gewand uneigennütziger Solidarität zu kleiden mühte. | |
29 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Andreas Lob-Huedepohl | |
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