# taz.de -- Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin: Die Neue im Kiez | |
> Seyran Ateş hat eine liberale Moschee gegründet – und dafür Lob, Kritik | |
> und Morddrohungen erhalten. Wie hat sich die Gemeinde entwickelt? | |
Bild: Erleuchtet: Christian Hermann ist konvertiert, nachdem er in der Moschee … | |
Berlin taz | Wenn Menschen von ihrer religiösen Erweckung berichten, dem | |
Moment, in dem sie zum Glauben fanden, tragen diese Erzählungen oft | |
mystische Züge. Bei Christian Hermann klingt das so: Als er im Juli zum | |
ersten Mal diese Moschee betrat, sich die Schuhe auszog, die Füße auf den | |
weichen, weißen Teppich setzte, sah er eine Lichtbrechung, ganz klein, | |
hervorgerufen durch einen schrägen Winkel in der Wand, genau da, wo Mekka | |
ist. In dem Moment, sagt er, fühlte er sich am Ziel, zu Hause. Ihm wurde | |
klar: „Ich werde Muslim.“ | |
Er hatte in den Medien von dieser Moschee erfahren, die allen offen steht, | |
in der Frauen neben Männern beten und sogar predigen dürfen. Eine Moschee, | |
die auch Menschen wie ihn willkommen heißt: Als Homosexueller habe er sich | |
vom Islam vorher nie eingeladen gefühlt, sagt Hermann. | |
Dann ging alles recht schnell: Im August sprach er die Schahāda, das | |
Glaubensbekenntnis der Muslime. Aus Hermann, 47, gelernter | |
Industriekaufmann und ehemaliger Projektmanager, ein großer, kräftiger Mann | |
mit Bart und fränkisch rollendem R, der mit 19 aus der evangelischen Kirche | |
ausgetreten war und seitdem „frei mit Gott“ lebte, wurde Awhan. | |
Kurz darauf begann er, Videos zu drehen und ins Netz zu stellen, in denen | |
er über sich und seine neue Religion spricht. Angst, dafür verspottet zu | |
werden, habe er nicht, sagt er. Er ist sich seiner Lage bewusst: „Viele | |
Muslime nehmen das Projekt eh nicht ernst.“ Für die seien sie keine | |
Muslime, die Moschee sei keine Moschee. Eine Ansicht, der er natürlich | |
widerspricht. | |
Über 80 Moscheen gibt es in Berlin, sieben allein im Ortsteil Moabit. Meist | |
sind es unauffällige Bauten: ehemalige Fabrikgebäude, leere Garagen, | |
ehemalige Büros. Schlagzeilen machen sie nur, wenn es um Islamismus geht, | |
wie bei der Al-Nur-Moschee in Neukölln, die lange als Treffpunkt radikaler | |
Salafisten galt, oder der Fussilet-Moschee in Moabit, dem „Terrornest“, in | |
dem auch Anis Amri verkehrte. | |
## Den Islam von der Politik trennen | |
Die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee, in die Christian Hermann geht, machte auch | |
Schlagzeilen, aber andere. Als die Anwältin Seyran Ateş, bekannt für ihr | |
Engagement für Frauenrechte, mit ihrem Plan an die Öffentlichkeit trat, in | |
den Räumen einer evangelischen Kirche eine liberale Moschee zu eröffnen, | |
kamen Reporter aus ganz Europa, Nahost und den USA. Cem Özdemir war da, | |
Renate Künast, Berlins Bürgermeister Michael Müller. | |
Seyran Ateş fragt: Wie kann man dafür sorgen, dass der Islam nicht immer | |
mit Terror in Verbindung gebracht wird? Sie will mit ihrer liberalen | |
Moschee eine Antwort darauf geben. Der Islam soll reformiert, von der | |
Politik getrennt werden. Suren sollen nicht umgeschrieben, wie einige | |
Kritiker befürchteten, sondern der Koran in seinem historischen Kontext | |
verstanden werden. | |
Dafür tourte Ateş durch Talkshows, gab Interviews, hielt Reden. Viele | |
nichtmuslimische Politiker, Journalisten und Islamwissenschaftler liebten | |
sie dafür, lobten ihr Engagement. Viele Muslime hingegen kritisierten sie. | |
Einige, weil ihnen Ateşs Reformanspruch zu weit ging, andere, weil sie ihre | |
Art als zu provokant, ihre Kritik an den Islam-Verbänden als zu laut | |
empfanden. | |
Über ein halbes Jahr ist seit der Eröffnung vergangen, das mediale | |
Interesse ist abgeebbt. Was ist seitdem geschehen? Wird die neue Moschee | |
überhaupt besucht und wenn ja, von wem? Und wie finden die anderen | |
Moschee-Gemeinden im Kiez das, was dort ausprobiert wird? | |
Im Schatten von Seyran Ateşs Prominenz hat sich inzwischen eine Gemeinde | |
gesammelt, die sich deutlich von den meisten anderen unterscheidet. Sie | |
sind die Neuen im Viertel: Männer und Frauen, jung und alt, deutsche | |
Konvertiten wie Christian Hermann, aber auch Araber, die schon lange in | |
Deutschland leben und mit dem konservativen Islam hadern. | |
Wer die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee regelmäßig besucht, bemerkt eine gewisse | |
Unbeständigkeit. Neugierige Gesichter, die auftauchen und wieder | |
verschwinden – einige nach ein paar Minuten, andere, nachdem sie mehrmals | |
zu Besuch waren, sich teils sogar in der Gemeinde engagiert haben. | |
## Die Mitgliederzahl bleibt konstant, die Gesichter nicht | |
Zeitweise bröckelte sogar das Gründer-Team. Einen Tag nach der Eröffnung | |
verließ der Neurologe Mimoun Azizi die Moschee: Auf Facebook gerierte er | |
sich als Spion, der die Bewegung nur unterwandert habe. Ateşs Projekt gehe | |
eindeutig zu weit, sagte er am Telefon, der Reformanspruch sei nicht mit | |
dem Islam vereinbar. Im Herbst verließ ein weiteres Gründungsmitglied, der | |
Arzt Akram Nasaan, das Team, weil er fand, die Moschee sei nicht liberal | |
genug. Kritik kam auch aus dem Ausland: Die türkische Religionsbehörde | |
Diyanet rückte die Moschee in die Nähe der Gülen-Bewegung, um sie zu | |
diskreditieren. Das ägyptische Fatwa-Amt erklärte sie für unislamisch. | |
Seyran Ateş wurde mit dem Tod bedroht und darf seitdem nur mit verstärktem | |
Polizeischutz aus dem Haus. Währenddessen kamen neue Gemeindemitglieder, | |
alte gingen. Nur die Anzahl blieb annähernd konstant, nicht die Gesichter. | |
Die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee, am 6. Oktober 2017. Es ist Freitag, vor zwei | |
Tagen hat der Wirbelsturm Xavier Bäume entwurzelt und Bahnverbindungen | |
gekappt. Etwa dreißig Leute sind gekommen, viele davon Journalisten. Sie | |
warten auf Abdel-Hakim Ourghi, einen Mitgründer der Moschee, der hier sein | |
neues Buch präsentieren will, und auf Ludovic-Mohamed Zahed, einen schwulen | |
Imam aus Frankreich. Die beiden kommen nicht, sie stecken irgendwo fest – | |
Xavier ist schuld. | |
Stattdessen tritt Christian Hermann vor die Gemeinde, in den Händen ein | |
Stück Papier, seine Predigt. Das Thema: die Unvorhersehbarkeit des Lebens, | |
passend zum Sturm. | |
„Wie sollen wir damit umgehen, dass wir Pläne machen, es dann aber doch | |
anders kommt?“, fragt er. „Gott weiß ja längst, was geschieht. Steht das | |
nicht in Konflikt zum freien Willen des Menschen?“ Hermann, weißer | |
Gebetskittel, graue Mütze, liest mit ruhiger Stimme. Immer wieder schaut er | |
kurz von seinen Notizen auf, blickt ins Publikum. „Man muss akzeptieren, | |
dass man nicht alles erklären kann“, sagt er. „Dann hat dieser Gedanke auch | |
etwas Tröstliches: Zu wissen, es gibt da eine Kraft, auf die man sich | |
stützen kann.“ | |
## Wird die Gemeinde wachsen? | |
Etwa zwanzig Minuten dauert Hermanns Predigt, danach beginnt das | |
Mittagsgebet. Erst jetzt zeigt sich, wer Besucher und wer Gemeindemitglied | |
ist. Die Mitglieder versammeln sich in der Mitte des Raums, knien nieder. | |
Sie sind an diesem Tag, wie so häufig, in der Unterzahl, zu zehnt. | |
Hermann stört das nicht. 24 Ehrenamtliche würden sich derzeit in der | |
Moschee engagieren, sagt er, hinzu kämen Besucher, die regelmäßig | |
vorbeischauen. Er geht davon aus, die Gemeinde wird wachsen. | |
Andere Gemeindemitglieder sehen das weniger entspannt. An einem Freitag im | |
Dezember sitzt Mohamed El-Asra auf dem weißen Teppich. Er hat gerade das | |
Gebet gesprochen und bleibt noch, um sich mit den anderen auszutauschen. | |
El-Asra ist von Anfang an dabei. Ein zurückhaltender, höflicher Mann. 54 | |
Jahre alt, Architekt, in Ägypten geboren, seit 30 Jahren in Deutschland. | |
Sein Nachname ist geändert, er möchte lieber anonym bleiben. „Ich habe mich | |
in den konservativen Moscheen nie wohl gefühlt“, sagt er, zu politisch | |
seien die Predigten, zu oft gegen das Leben in Deutschland gerichtet. Zwei | |
Jahre sei er deshalb in keiner Moschee mehr gewesen. Dann erfuhr er von | |
Seyran Ateşs Projekt. | |
„Wir werden nicht mehr, vor allem Junge fehlen und das beunruhigt mich“, | |
sagt El-Asra. „Ich habe Angst, dass die Idee von einem deutschen Islam dann | |
stirbt.“ Ein deutscher Islam, das bedeutet für ihn: den Wurzeln verbunden | |
und doch der Gesellschaft zugewandt. | |
## Skepsis, Ablehnung, Druck | |
Die Berichte im Fernsehen und in den Zeitungen, sie hätten der Moschee | |
schon gutgetan, sagt Mohamed El-Asra und überlegt einen Moment. „Die | |
meisten Muslime aber erreicht man damit nicht. Man müsste in die Moscheen | |
gehen und die Leute direkt ansprechen.“ Und wohl auch für die Idee kämpfen. | |
So wie Seyran Ateş es bei ihren öffentlichen Auftritten tut. Er selbst sei | |
aber kein Kämpfer, sagt El-Asra. | |
Neben ihm steht ein junger Mann und hört aufmerksam zu. Er hat schwarzes, | |
krauses Haar und Bartflaum. „Einige Muslime sind einfach noch nicht so | |
weit“, sagt er, „und andere – das ist die Mehrheit – haben einfach Angs… | |
Er klingt wie seine Tante, wenn er das sagt. Der junge Mann, Tugay Tunc, | |
20, ist der Neffe von Seyran Ateş. | |
Es gibt ein Video von der Moschee-Eröffnung, da umarmt er seine Tante. | |
Ehemalige Mitschüler haben es auf YouTube gesehen. Einige, sagt Tunc – sein | |
Name ist zu seinem Schutz auch geändert –, hätten ihn daraufhin gemieden. | |
„Für die war ich ein Verräter.“ Es habe in seiner Klasse Schüler gegeben, | |
Mädchen vor allem, die wären gern in die Moschee gekommen, trauten sich | |
aber nicht. Die Skepsis, die Ablehnung, der Druck – sie müssen groß sein in | |
der Community. | |
Keine 800 Meter von der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee entfernt, in einem | |
unscheinbaren Wohnblock in der Rathenower Straße, liegt das Haus der | |
Weisheit, Darul Hikma heißt es auf Arabisch. Eine Glastür führt in einen | |
schmalen Flur, von dort geht es links in einen großen Raum mit niedriger | |
Decke. Durchquert man ihn, gelangt man in den nächsten Raum. Das Gebäude | |
wirkt wie eine riesige Wohnung, in der man alle Türen aus den Angeln | |
gehoben hat. Und in der es an diesem Freitag von Menschen wimmelt. | |
Es ist halb eins, Zeit fürs Mittagsgebet. Männer sitzen, Schulter an | |
Schulter, auf dem roten, goldverzierten Teppich. Die meisten sind über 30, | |
einige tragen Mäntel, andere Sakko oder Blaumann, sie haben gerade | |
Mittagspause. Lange Bärte und traditionelle Gewänder sind die Ausnahme, | |
Frauen sieht man keine. | |
## Heikle Auseinandersetzung | |
Das arabische Gemurmel verstummt erst, als der Imam, ein älterer Mann mit | |
grauem Bart und weißer Kappe, den Raum betritt. Er geht die schmale, etwa | |
anderthalb Meter hohe Kanzel hinauf, in der Hand ein paar Blätter dicht | |
beschriebenen Papiers. Etwa dreißig Minuten dauert seine Predigt, er hält | |
sie auf Arabisch. Der Imam legt ruhig los, wird dann schneller, lauter, | |
beginnt wild zu gestikulieren. Seine Stimme bricht fast, so aufgewühlt | |
wirkt er in einem Moment. Die Augen der Männer sind die ganze Zeit auf ihn | |
gerichtet. | |
Es ist neben den fehlenden Frauen der wohl deutlichste Unterschied zwischen | |
der Ibn-Rushd-Goethe-Gemeinde und der im Haus der Weisheit: Hier darf nicht | |
jeder predigen, es gibt eine klare Hierarchie – der Imam predigt, die | |
Gemeinde horcht. | |
Für Interviews hat der Imam vom Haus der Weisheit keine Zeit, nicht an | |
diesem Freitag, nicht in den drei Wochen danach. Dafür ist ein | |
Gemeindemitglied zu einem Gespräch bereit: Mustafa Nasser, 68, kariertes | |
Hemd, ernster Blick, höflich, aber reserviert, sitzt zwei Wochen später in | |
einem Nebenraum der Moschee und lädt zu Manakish, der arabischen Pizza, und | |
Ayran. Wie die meisten anderen will auch er in diesem Text nur anonym | |
auftauchen – ein Zeichen dafür, wie heikel die Auseinandersetzung mit den | |
verschiedenen Auslegungen des Islam oft ist. | |
Nasser kam Anfang der Sechziger aus Ägypten nach Deutschland. Er arbeitete | |
als Bauingenieur, später beim Bezirksamt, heute ist er im Ruhestand. Warum | |
er gerade in diese Moschee komme? Weil sie nicht politisch sei, sagt er. | |
„Hinter dieser Moschee steht kein Staat. Sie ist nicht einmal Mitglied in | |
einem Verband“, sagt er. Um unabhängig zu sein, lebe die Moschee allein von | |
Spenden. | |
Das Haus der Weisheit ist eine Institution in Moabit. 1995 in einem | |
Hinterhof in der Waldstraße gegründet, kamen schnell mehr Menschen, als das | |
Haus fassen konnte. Freitags drängten sie sich auf der Straße, die Nachbarn | |
beschwerten sich. Als die Räume in der Rathenower Straße frei wurden, | |
übernahm die Gemeinde auch sie. Zwei Standorte hat sie seitdem und 400 | |
Mitglieder. Die meisten sind Palästinenser, geflohen vor dem Bürgerkrieg im | |
Libanon; es kommen aber auch Ägypter, Jordanier, Syrer. 2015 schliefen | |
viele Geflüchtete in den Räumen der Moschee. | |
## Eine unsichtbare Grenze | |
Deutsche ohne Migrationshintergrund, sagt Mustafa Nasser, sehe man hier | |
selten, weil die Predigten auf Arabisch seien. „In den Ferien, wenn auch | |
die Kinder zum Gebet kommen, werden sie auch auf Deutsch übersetzt.“ Dann | |
wird Nasser unterbrochen. Die Lautsprecher knacken kurz, dann: der Rhythmus | |
von Trommeln, über den sich eine Männerstimme legt. | |
Wie jeden Freitagabend trifft sich die Gemeinde zum Musizieren. Etwa | |
zwanzig Männer sitzen vor der Kanzel im Kreis, einige auf Stühlen, andere | |
auf dem Boden. Direkt neben der Kanzel: ein etwa 30-jähriger Mann mit einem | |
Mikrofon, die Augen geschlossen, versunken im Gesang. | |
Rechts gelangt man in den hinteren, versteckten Teil des Raums. Hier sitzen | |
die Frauen. Zehn sind es an diesem Abend. Sie knien, das Haar verschleiert, | |
auf dem Teppich. Plötzlich löst sich ein kleines Mädchen aus der Gruppe, | |
vielleicht sechs Jahre alt, mit roten Locken. Es läuft in den vorderen Teil | |
des Raums, legt ihrem singenden Vater freudestrahlend die Hand auf den | |
Rücken. Nicht ahnend, dass es gerade eine unsichtbare Grenze überschritten | |
hat. | |
Mustafa Nasser bezeichnet seine Gemeinde als liberal. Zum Beispiel, weil | |
hier musiziert wird. Für erzkonservative Muslime ist Musik haram, verboten. | |
Doch es gibt einen Unterschied zwischen liberal und liberal, eine | |
Trennlinie. Und die verläuft genau hier in diesem Raum. Für Nasser bedeutet | |
liberal auch: an der deutschen Gesellschaft orientiert. Projekte wie die | |
Moschee von Seyran Ateş findet er daher gut, er war auch selbst schon mal | |
da. | |
Die Medien, sagt er, hätten ein Riesending daraus gemacht. „Dabei ist die | |
Moschee gar nicht so anders: Es gibt eine Predigt, ein Gebet, danach Zeit | |
zum Reden.“ Das Einzige, was ihm zu weit geht: „Männer und Frauen dürfen | |
nicht zusammen beten. Das ist gegen die Religion.“ | |
## Die Sache mit den Frauen | |
Egal, ob man konservative oder vermeintlich liberale Muslime fragt, | |
letztlich haben die meisten von ihnen dasselbe Problem mit der neuen | |
Moschee: die Sache mit den Frauen, dass sie predigen dürfen und mit den | |
Männern in einer Reihe beten. Viele kritisieren auch die fehlende | |
Ausbildung von Ateş. Ein Imam findet, ihrer Moschee fehle das theologische | |
Fundament. Andere argumentieren weltlich: Frauen, die sich beim Gebet nach | |
vorn beugen, lenken die Männer ab. | |
In der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft hingegen hat genau dieser | |
Aspekt die Moschee von Ateş so beliebt gemacht. In regelmäßigen Abständen | |
kommen dort Schulklassen vorbei, Bürgerinitiativen, Mitglieder | |
verschiedenster Parteien. Längst ist die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee zu einem | |
Anlaufpunkt für Nichtmuslime geworden, an dem sie Fragen zur Religion | |
stellen können. Sie gilt vielen als Gegenentwurf zu einem vermeintlich | |
rückschrittlichen Islam. | |
Das macht sie auch für die sogenannten Islam-Kritiker interessant. Hamed | |
Abdel-Samad war hier, Henryk M. Broder. Vereinzelt gab es auch Beifall von | |
der AfD. | |
Viele Imame und Besucher traditioneller Moscheen stören sich am gewaltigen | |
Medienecho. Der Islam, der in der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee gepredigt werde, | |
ist dann häufig zu hören, sei einer, der sich den Nichtmuslimen anbiedere. | |
Ein Islam, so drückt es ein Imam der Ahmadiyya-Gemeinschaft aus, der „die | |
Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft erfüllt“. | |
Ateşs Projekt wird von einigen Muslimen aber auch aus einem ganz anderen | |
Grund kritisch beobachtet, nicht wegen des Revolutionären, | |
Aufgeschlossenen. Sondern weil die Idee gar nicht so neu ist, wie sie | |
scheint. Reformistische Moschee-Gemeinden gibt es weltweit, in den USA, | |
Großbritannien, Malaysia. Und in Moabit. | |
## „Die Einteilung in Gut und Böse ist zu simpel“ | |
Geht man von der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee zwei Kilometer in Richtung | |
Westen, steht man vor einem Backsteinbau. Die Reformationskirche. An einem | |
Sonntag Anfang Juli sitzen hier in einem Nebenraum etwa dreißig Menschen | |
auf Bierbänken. Teller werden herumgereicht, es gibt Hummus, Salat, | |
Baklava. | |
Die Leute, die sich hier treffen, gehören zum Liberal-Islamischen Bund | |
(LIB), einer Vereinigung von Muslimen, die sich als progressiv verstehen. | |
Der Verein, 2010 von der Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor gegründet, | |
lebt schon seit Jahren das, was Seyran Ateş postuliert: Imaminnen sprechen | |
das Gebet, Frauen beten neben Männern, Homosexuelle sind willkommen. | |
Nushin Atmaca, 33, ist die Vorsitzende des Vereins. „Die Predigten in | |
traditionellen Moscheen sind mir zu realitätsfern, die Einteilung in Gut | |
und Böse zu simpel. Und das Bild vom strafenden Gott ist einfach zu | |
einseitig“, sagt sie, während sie durch den Raum führt. „Man kann da nicht | |
wirklich diskutieren.“ Atmaca hat die Berliner Gemeinde des LIB mit | |
aufgebaut. Eine eigene Moschee hat der Verein zwar nicht, die | |
Reformationskirche Moabit überlässt ihnen aber seit drei Jahren den | |
Nebenraum. Einmal im Monat kommen die Mitglieder hier zusammen, besprechen | |
gesellschaftliche und religiöse Themen und beten. | |
An diesem Sonntag steht noch etwas anderes auf dem Programm. Die Gruppe | |
steht auf, geht hinüber in den Kirchensaal. Die anderen sind schon da: die | |
Christen. Alle singen, erst christliche Lieder, auf Deutsch, dann | |
muslimische, auf Arabisch. | |
Die Berliner Gemeinde des Liberal-Islamischen Bunds ist, ähnlich wie die | |
Ibn-Rushd-Goethe-Moschee, überschaubar: 25 Mitglieder sind es zur Zeit. | |
Warum nicht mehr Menschen kommen? Es gebe viele liberale Muslime, sagt | |
Nushin Atmaca, „die leben ihren Glauben aber für sich und gehen nicht in | |
die Moschee“. | |
Das Verhältnis zwischen dem Liberal-Islamischen Bund und der | |
Ibn-Rushd-Goethe-Moschee ist – aller inhaltlichen Parallelen zum Trotz – | |
kühl. Atmaca hält einige von Ateşs Positionen für problematisch: ihr | |
Eintreten für ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen zum Beispiel oder ihre | |
ständige Kritik an konservativen Muslimen. Eine progressive Auslegung des | |
Islam, sagt Atmaca, müsse auch konservative Sichtweisen respektieren. | |
## Menschen, die von sich aus zusammenkommen | |
Eine Kooperation zwischen LIB und Ateşs Moschee gibt es nicht, zumindest | |
nicht auf Leitungsebene. Bei den Mitgliedern sieht es schon anders aus. | |
Da ist zum Beispiel Regine Zabel. Graues T-Shirt, locker ums Haar | |
gebundenes Tuch; sie singt an diesem Sonntag auch in der Kirche. Drei | |
Monate später trifft man sie in der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee. „Ich fühle | |
mich hier wohl“, sagt sie. Und das, obwohl auch sie manches hier für falsch | |
und kontraproduktiv hält: Ateşs vehementer Kampf gegen das Kopftuch oder | |
Abdel-Hakim Ourghis „Thesenanschlag“ an einer Neuköllner Moschee, mit dem | |
er sein Buch „Reform des Islam: 40 Thesen“ bewerben wollte. | |
Regine Zabel, Mitte 40, ihr Nachname ist ein anderer, sagt, sie habe in | |
traditionellen Moscheen mitunter das Gefühl, die Männer würden sie nur als | |
Frau, nicht als Menschen wahrnehmen. Einmal hat sie den Islam-Unterricht | |
für Frauen in einer solchen Moschee besucht. Die Frau hat dem Mann zu | |
gehorchen, hieß es da. Vorgetragen von einer Frau wohlgemerkt. „Da dachte | |
ich: Was soll das denn? Ich war mein Leben lang Feministin, ich habe noch | |
nie einem Mann gehorcht.“ | |
Dem Liberal-Islamischen Bund bleibt Zabel treu, sie geht inzwischen aber | |
auch regelmäßig in die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee, vor allem freitags, zum | |
Unterricht. Dort lernt sie, den Koran zu rezitieren. | |
Wird Seyran Ateşs Projekt dem Liberal-Islamischen Bund die Aufmerksamkeit | |
der Öffentlichkeit und vielleicht sogar Mitglieder streitig machen? Ateş | |
sagt, es sei nicht ihr Problem, dass ihr Projekt das bekanntere sei. Die | |
Vorsitzende des LIB Nushin Atmaca sagt: „Wir verschließen uns einem Dialog | |
mit der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee nicht.“ Irgendwann will der LIB aber auch | |
eine eigene Moschee, nicht nur einen Nebenraum. | |
Regine Zabel ist vor allem eines wichtig: Eine Gemeinde, die sich bewegt. | |
Menschen, die von sich aus zusammenkommen. | |
8 Jan 2018 | |
## AUTOREN | |
Sascha Lübbe | |
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