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# taz.de -- Holocaustüberlebender und TikTok-Star: „Erst ‚Like, like, like…
> Er hat den Holocaust überlebt und wurde zum TikTok-Star. Mit Co-Autorin
> Julie Gray veröffentlichte Gidon Lev seine Memoiren.
Bild: 2012 lernte die kalifornische Autorin Julie Gray den in einem Kibbuz lebe…
taz: Herr Lev, Frau Gray, bis kurz nach dem 7. Oktober 2023 betrieben Sie
einen erfolgreichen Tiktok-Account. Dort klärten Sie über den Holocaust auf
und warben für Toleranz. Wegen einer Flut an antisemitischen Kommentaren
verließen Sie die Plattform. Jetzt sind Sie zurück und haben sogar ein Buch
darüber gemacht. Wie kam es dazu?
Julie Gray: Das ist bereits unser zweites Buch, „The True Adventures of
Gidon Lev“ war das erste. Wir haben es im Selbstverlag veröffentlicht. Und
für diese Umstände lief es ganz gut. Aber erst durch TikTok wurde Gidons
Geschichte von Millionen Menschen wahrgenommen. Danach begann ich,
verschiedene Agenten in New York, Los Angeles und London zu kontaktieren,
ob nicht auch reguläre Verlage Interesse hätten, Gidons Geschichte als Buch
zu veröffentlichen. Und plötzlich fanden wir einen, der sofort zugesagt
hat, das erste Buch noch mal aufzulegen, unter einer Bedingung: mehr Fokus
auf die Hoffnung, die Gidon als [1][Überlebender des Holocaust] ausstrahlt.
Gidon Lev: Julie ist zu bescheiden. Es gäbe kein Buch ohne sie. Sie war der
Hauptantrieb. Ich habe meine Geschichte beigesteuert und die ersten
Entwürfe verfasst. Sie als Autorin hat die wirkliche Expertise und das
Wissen. Ohne sie säße ich heute nicht hier.
taz: Und welche Rolle spielte TikTok?
Gray: Das ist lustig. Nachdem ich das erste Buch 2019 bei vielen Agenten
und Verlagen angeboten hatte, bekam ich nur Absagen. Alle sagten: „Der
Holocaust ist zu deprimierend, niemand möchte mehr etwas über den Holocaust
lesen.“ Das konnte ich natürlich nicht akzeptieren, weshalb wir das Buch
selbst veröffentlichten und mit TikTok anfingen. Als ich jetzt vier Jahre
später noch mal anklopfte und sagte, ich habe dieses Buch hier von einem
Social-Media-Star, machten alle große Augen. Und das war noch vor dem
Krieg.
taz: Jetzt ist der Holocaust also wieder von Interesse?
Lev: Es ist mehr als das. Mein erstes Buch beschäftigte sich tatsächlich
gar nicht so sehr mit dem Holocaust. Es ging mehr um mein gesamtes Leben.
Klar, ich habe als Kind sieben Jahre meines Lebens unter Nazi-Herrschaft
verbracht, vier davon im Ghetto von Theresienstadt. Aber der Rest meines
Buches handelte vom Danach. Wissen Sie, ich habe auch ein Leben nach dem
Holocaust gehabt – mit guten wie schlechten, vor allem aber mit sehr vielen
erkenntnisreichen Erfahrungen. Viele wollten diesen Gedanken damals nicht
ernst nehmen. Vielleicht hat sich das jetzt geändert.
Gray: Ich als Autorin wollte Gidons Leben nie auf den Holocaust reduzieren.
Und das ist sehr wichtig zu betonen. Denn zu oft werden [2][Überlebende des
Holocaust] zu Instrumenten gemacht, reduziert darauf, Opfer zu sein. Gidon
weigert sich, so ein Abziehbild zu sein.
taz: Gerade in Deutschland scheint das oft zu geschehen. Dem Land, das den
Holocaust verantwortet – mit dessen Sprache Sie aufgewachsen sind. Wie
fühlt es sich an, Ihre eigenen Worte in dieser Sprache zu lesen?
Lev: Wie ein Triumph (lacht). Nach allem, was die Nazis Juden wie mir und
meiner Familie angetan haben, fühlt es sich an, wie ein [3][Triumph des
Guten] über das Böse.
taz: Findet das Böse Platz in Ihrem Buch?
Lev: Ich spreche nur über ganz bestimmte Dinge, die mir und meiner Familie
angetan wurden. Es gab Situationen, die ich erlebt habe, die ich noch immer
nicht schildern kann. Erfahrungen, die mein Vorstellungsvermögen heute noch
übersteigen. Es mag komisch klingen, aber ich sage immer, ich bin
flabbergasted – verblüfft, wie ein Mensch einem anderen so etwas antun
kann.
taz: Ihr Buch trägt trotzdem den Titel „Let’s make things better“ und ist
der Hoffnung gewidmet. Woher kommt dieser Wille zum Guten?
Gray: Wenn ich wüsste, woher Gidon immer diese Hoffnung nimmt … jeder fragt
sich das.
Lev: Wenn ich Ihnen erzählen würde, was ich alles durchstehen musste in
meinen fast 90 Jahren – als 10-Jähriger ohne Vater und Familie, oder
später, während des Sechstagekriegs 1967 … Aber wo stünde ich, wenn ich
nicht immer einen Funken Hoffnung gehabt hätte? Daran geglaubt hätte, dass
sich wirklich etwas ändern wird, dass ich das Schlechte in meinem Leben
überwinden kann?
taz: Heute leben Sie beide in der Nähe von Tel Aviv. Behalten Sie auch die
Hoffnung, dass zwischen Israelis und Palästinensern Frieden herrschen kann?
Gray: Zehn Tage, nachdem der Krieg begonnen hatte, bekam ich große Angst.
Fünfmal am Tag mussten wir in den Bunker rennen und dann war da noch der
Schock des 7. Oktober. Gidon aber blieb ruhig. Er sagte einfach: „Julie,
kannst du dir etwas Besseres vorstellen als das?“ „Ja, natürlich, aber ich
sehe nicht, wie“, sagte ich. Gidon bewahrte immer noch Ruhe und sagte zu
mir: „Das ist egal. Das Einzige, was zählt, ist, dass du es dir vorstellen
kannst.“
Lev: Es stimmt. Das war auch immer schon mein Problem mit Bibi, mit
Netanjahu: Er ist ein Re-Visionär. Er kann sich die schlimmste Zukunft für
uns alle vorstellen. Er kann sich vorstellen, wie er am besten Schaden
anrichten kann oder Menschen umbringt. Aber eine Vision, wie es anders sein
könnte, wie wir den Krieg und den Konflikt beenden können, hat er nicht.
Ihm mangelt es an Visionen. Die einzige Vision, die er hat, lautet, Israel
„from the river to the sea“. Und als die Hamas uns am 7. Oktober überfiel,
sagte die das Gleiche. Auch wenn sie natürlich etwas anderes damit meinte.
Beide sind eine Gefahr für das demokratische, offene Israel – für die
Vision des Zionismus.
taz: Was empfehlen Sie denen, die Visionen wollen und nicht Fatalismus oder
Angst?
Lev: Sie sollten sich selbst fragen: Will ich wirklich, dass es besser
wird? Zu oft hängen Menschen in dieser düsteren Stimmung fest – sind
süchtig danach. Gerade auch durch Social Media. Sie tauschen Visionen gegen
Bedürfnisse. Und die sollen möglichst schnell erfüllt werden. Aber wir
müssen starrköpfiger sein. Uns immer wieder bewusst gegen die
Hoffnungslosigkeit entscheiden; gegen das Bedürfnis, der Angst, der Wut und
dem Hass nachzugeben. Auf Social Media heißt das beispielsweise, immer und
immer wieder zu hinterfragen, was wir da sehen, was es eigentlich mit uns
und unseren Gefühlen macht.
Gray: Als wir auf Tiktok anfingen, dachte ich wirklich, wir könnten
Fortschritte machen mit der Aufklärung über den Holocaust. Wir könnten
Leute wirklich erreichen. Aber Social Media funktioniert nur auf zwei
Weisen: Cuteness oder Hass. Anfangs liebten die Menschen Gidon übertrieben.
Nur: Like, Like, Like. Dann kam der 7. Oktober und es kippte: Hass, Hass,
Hass.
taz: Was entgegnen Sie dem Hass?
Lev: Als ich in der Highschool war, zwang uns unser Lehrer, ein 20 Zeilen
langes Gedicht auswendig zu lernen. Ich wählte Marcus Antonius’ Rede zum
römischen Volk von Shakespeare: „Mitbürger! Freunde! Römer! Begraben will
ich Cäsar, nicht ihn preisen.“ So bringt Marcus Antonius innerhalb weniger
Minuten die Menge gegen Brutus auf – ohne ihn direkt anzugreifen. Ich mache
das Gleiche. Die Menschen müssen selbst erkennen, warum Judenhass falsch
ist. Ich kann ihnen nur zeigen, wohin er führt. Und auch das ist nur ein
Anfang.
29 Dec 2024
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## AUTOREN
Jonathan Guggenberger
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