# taz.de -- Hitler-Putsch in München: Über das Schicksalsjahr 1923 | |
> In München ging der Nationalsozialismus seine ersten Schritte zur Macht. | |
> Der Hitler-Putsch in Bayern jährt sich zum hundertsten Mal. | |
Bild: 9. November 1923: Putschisten in München | |
Erster Verhandlungstag, 26. Februar 1924. Es ist womöglich der wichtigste | |
Prozess der deutschen Geschichte. Denn er mündet anstelle einer Ausweisung | |
des Österreichers Adolf Hitler in einer Haftstrafe, die bereits nach | |
wenigen Monaten endet. Unter luxuriösen Haftbedingungen wird Hitler nicht | |
nur [1][„Mein Kampf“] schreiben, sondern das vorbereiten, was ab 1933 in | |
Diktatur, Krieg und Konzentrationslagern endet. Der Auslöser des Prozesses | |
jährt sich am 8. November 2023 zum hundertsten Mal: Der Hitler-Putsch in | |
München. | |
Damals waren genau fünf Jahre seit der Zeitenwende vergangen: Im November | |
1918 endete der erste Weltkrieg, Kaiser und Könige hatten abgedankt, | |
Deutschland wurde Republik. Eine verhasste Republik. Die bedingungslose | |
Kapitulation, Reparationszahlungen, die Besetzung des Ruhrgebiets durch | |
Siegermächte, Inflation konnten rechtsextreme, gewaltbereite Strömungen | |
erfolgreich für ihre Propaganda nutzen. [2][In München wurde 1920 die NSDAP | |
gegründet.] | |
Abends am 8. November 1923 hatten sich im überfüllten Bürgerbräukeller | |
sogenannte vaterländische Verbände versammelt. Kurz nach Beginn wurde der | |
mächtigste Mann Bayerns, Generalstaatskommissar Dr. von Kahr, in seiner | |
Rede unterbrochen. Vom Eingang des Saales kam Geschrei. Und dann kam sein | |
filmreifer Auftritt: Adolf Hitler bahnte sich mit geladener Pistole in der | |
Hand den Weg durch die Menge. Hinter ihm sein Stoßtrupp, mit | |
Maschinenpistolen bewaffnet. Das Gebäude war bereits von 600 | |
Schwerbewaffneten umstellt. An der Eingangstür hatten sie ein | |
Maschinengewehr positioniert, das auf die Versammlungsgäste zielte. | |
Hitler stieg auf einen Stuhl und schoss in die Decke, um sich Gehör zu | |
verschaffen. Laut Prozessprotokoll schrie er: „Die nationale Revolution ist | |
ausgebrochen. Die bayerische Regierung ist abgesetzt. Die Reichsregierung | |
ist abgesetzt. Eine provisorische Reichsregierung wird gebildet. Reichswehr | |
und Reichspolizei rücken bereits unter den Hakenkreuzfahnen heran.“ | |
## Hitler kurz am Boden | |
Die Hälfte der bayerischen Minister wurde noch in der Nacht verhaftet. Die | |
anderen wurden von der erzkatholischen Abgeordneten Ellan Amman gewarnt und | |
versteckt. Aber Hitlers Überfall auf den Bürgerbräukeller hatte keinen | |
Erfolg. Bis auf die NSDAP-Gefolgschaft und den völkischen General | |
Ludendorff unterstützte niemand den Putsch. Die Regierung verlegte den Sitz | |
nach Regensburg, und weder Polizei noch Reichswehr schlugen sich auf seine | |
Seite. | |
Am nächsten Morgen entschied sich Hitler, mit mehreren tausend Bewaffneten | |
in die Münchner Innenstadt zu marschieren. Mehrere Ministerien wurden | |
besetzt, der Oberbürgermeister wurde entführt und sollte gehängt werden, es | |
gab Überfälle, Plünderungen und kleinere Kämpfe. Zwischen Residenz und | |
Odeonsplatz wurde der Marsch von der Landespolizei gestoppt. Als die ersten | |
Schüsse fielen, marschierte Max Scheubner-Richter, Offizier und | |
Hauptorganisator des Putsches, in der ersten Reihe neben Hitler. Tödlich | |
getroffen riss er Hitler zu Boden, der sich dabei die Schulter ausrenkte. | |
Unter den Putschisten gab es fünfzehn Tote, der spätere Kriegsverbrecher | |
Hermann Göring überlebte schwerverletzt. Hitler floh im Chaos in ein | |
Versteck am Staffelsee, wurde aber nach wenigen Tagen verhaftet. Am 23. | |
November 1923 wurde die NSDAP im Deutschen Reich verboten, der Spuk schien | |
vorbei. | |
Doch die „auf dem rechten Auge erblindeten Richter und Politiker in Bayern | |
versäumten es“ durch ihre „extreme Harmlosigkeit, Unbedarftheit und | |
Hilflosigkeit“, den Nationalsozialismus auf juristischem Weg an dieser | |
Stelle zu stoppen, analysierte der Münchner Rechtsanwalt Dr. Otto | |
Gritschneder, der den Hitler-Prozess historisch aufarbeitete. Den Vorsitz | |
im Hitler-Prozess, der im Speisesaal der Infanterieschule stattfand, führte | |
der oberste Richter am Bayerischen Volksgericht Georg Neithardt. Er | |
sympathisierte offen mit den Putschisten und war bereits im Prozess gegen | |
den Mörder von Kurt Eisner als extrem rechts gesinnt aufgefallen. | |
Bereits am ersten Verhandlungstag bekam der angeklagte Hitler die | |
Möglichkeit, einen vierstündigen Monolog zu halten. Die | |
nationalsozialistische Presse jubelte: „Hitler wird vom Angeklagten zum | |
Ankläger.“ Im Verlauf des Prozesses übernahm er immer wieder ungehindert | |
das Wort, befragte Zeugen, kommentierte deren Aussagen und kehrte seine | |
Opferrolle heraus. Der Prozess wurde fehlerhaft geführt. Etliche | |
Anklagepunkte wurden gar nicht behandelt, darunter der Tatbestand, dass | |
Hitler auf Bewährung war, als er den Putsch unternahm. Vereidigt wurden nur | |
die Entlastungszeugen. | |
Am 1. April 1924 wurde das Urteil verkündet. Hitlers letzter Satz: „Mögen | |
Sie uns tausendmal schuldig sprechen, die Göttin des ewigen Gerichtes der | |
Geschichte wird lächelnd den Antrag des Staatsanwaltes und das Urteil des | |
Gerichts zerreißen; denn sie spricht uns frei.“ Hitler war zwar zu fünf | |
Jahren Festungshaft verurteilt, kam aber schon am 20. Dezember desselben | |
Jahres frei, wegen „guter Führung“. Obwohl die Anzahl und die Dauer von | |
Besuchen in Haftanstalten gesetzlich begrenzt war, setzte bei Hitler ein | |
Besucherstrom ein, „wie man ihn in Landsberg am Lech noch nie erlebt hat.“ | |
Bis zu seiner Entlassung empfängt [3][Hitler] 317 Besuche, weit über dem | |
erlaubten Ausmaß. Die Besucherkarten des Gefängnisses geben einen Überblick | |
über seine Unterstützer, zu denen Parteigenossen, Künstler und Industrielle | |
genauso gehörten wie Ehepaare, die ihm ihre Tochter als zukünftige Braut | |
vorstellen wollten. Kurz vor Ende der Haftzeit bestellt sich Hitler einen | |
Mercedes. Wenige Wochen nach seiner Entlassung gründet er die NSDAP neu. Im | |
Juli 1925 erscheint die erste Ausgabe von „Mein Kampf“ und im Dezember | |
beginnt Hitler mit dem Aufbau der SS. Die NSDAP hat knapp 30.000 | |
Mitglieder, sieben Jahre später 850.000. | |
8 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
christian springer | |
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