# taz.de -- Historikerin über Nato-Osterweiterung: „Die Ukraine im Stich gel… | |
> Putin begründet den Angriff auf die Ukraine auch mit der | |
> Nato-Osterweiterung. Historikerin Mary Elise Sarotte rekonstruiert, wie | |
> das damals genau war. | |
Bild: Auch Tupolev Tu-22M3 Bomber wurden in Absprache mit den USA 2006 verschro… | |
wochentaz: Frau Sarotte, Sie haben sich als Historikerin intensiv mit der | |
Geschichte der Nato-Osterweiterung und dem Zerbrechen des Warschauer Pakts | |
beschäftigt. Gibt es etwas, das sie dabei besonders überrascht hat? | |
Mary Elise Sarotte: Die Bedeutung der Ukraine. Als ich anfing, an meinem | |
Buch über die Nato-Osterweiterung zu arbeiten, habe ich zunächst gedacht, | |
dass es sich um Polen, Ungarn, Tschechien, die baltischen Staaten drehen | |
werde. Die sind jetzt auch alle drin. Aber die Mächtigen haben damals ganz | |
früh gesagt, sinngemäß: Der Frieden in Europa hängt von der Ukraine ab. Aus | |
heutiger Sicht ist es verblüffend, diese Einsicht in den historischen | |
Quellen zu lesen. | |
Damals ging es vor allem um die Atomraketen, die in der Ukraine stationiert | |
waren. | |
Als die Ukraine 1991 unabhängig wurde, war sie auf einmal die drittgrößte | |
Atommacht der Welt. Mehr als 1.000 nukleare Sprengköpfe lagerten dort. | |
US-Außenminister James Baker ist im Dezember 1991 Hals über Kopf nach Kiew | |
geflogen, um zu fragen: Wer hat, bitte schön, die Kontrolle über diese | |
Raketen? Es hieß, die Kontrolle sei noch in Moskau – aus technischen | |
Gründen, weil die Waffen zu Sowjetzeiten ja aus Moskau kontrolliert wurden. | |
Was aber nicht so bleiben musste. | |
Es war klar, dass die Ukraine die Ingenieure hat, das zu ändern. Baker kam | |
zurück und sagte seinem Freund und Präsidenten George H. W. Bush: Es gibt | |
keine wichtigere Herausforderung als die Sicherung der ehemaligen | |
sowjetischen nuklearen Waffen, die außer in Russland hauptsächlich in der | |
Ukraine lagerten. Er hat dann sehr viel dafür getan, [1][das Land und auch | |
Belarus und Kasachstan zu überzeugen, diese Waffen zu zerstören oder | |
abzugeben.] Bush hat aber 1992 überraschend die Präsidentschaftswahl gegen | |
Bill Clinton verloren, Baker musste gehen und hat seinem Nachfolger das | |
dringend zu lösende Problem hinterlassen. Es ging dabei um die Quadratur | |
des Dreiecks. | |
Wie meinen Sie das? | |
Man musste eine Lösung finden, mit der die Ukrainer, die Russen und die | |
Länder in Mittel- und Osteuropa leben konnten, die auf eine schnelle | |
Aufnahme in die Nato drängten. Die Idee war dann: Statt viele Länder sofort | |
in die Nato aufzunehmen, müssen wir eine Zwischenstation schaffen, zu der | |
alle dazugehören können. Das ist gesichtswahrend für Moskau, es ist eine | |
Zwischenlösung für die Ukraine, damit sie nicht außen vor bleibt – und es | |
hilft den Mittel- und Osteuropäern, sich technisch an die Nato-Standards | |
anzupassen. So entstand 1994 die „Partnerschaft für den Frieden“, der auch | |
Russland beigetreten ist. Das schaffte Handlungsmöglichkeiten. | |
Inwiefern? | |
Die mittel- und osteuropäischen Staaten konnten an die Nato herangeführt | |
werden und kurz vor der Mitgliedschaft stehen bleiben – wenn es mit der | |
Demokratisierung in Russland schlecht laufen sollte, könnten sie schnell | |
beitreten. 1994 arbeiteten die USA und Russland aber eng in der nuklearen | |
Abrüstung zusammen. US-Verteidigungsminister William Perry warnte deshalb | |
Präsident Bill Clinton, wenn er bei der Nato-Erweiterung zu schnell | |
vorgehe, würde das die Abrüstung gefährden. | |
Worauf sich Clinton zunächst einließ. Er wollte keine neue Trennlinie durch | |
Europa ziehen. | |
Ja, später hat er dann aber aus verschiedenen Gründen seine Meinung | |
geändert und ist bei der Nato nach der Alles-oder-nichts-Methode | |
vorgegangen. Die Ukraine wurde dabei im Stich gelassen. Ich persönlich | |
halte die Partnerschaft für den Frieden in der damaligen Zeit für eine sehr | |
gute Lösung. Ich wünschte mir, es wäre dabei geblieben. Es kam anders. Ich | |
werde manchmal als Gegnerin der Nato-Osterweiterung dargestellt. Das bin | |
ich nicht. Die mittel- und osteuropäischen Länder hatten jedes Recht, ihr | |
Bündnis frei zu wählen, die Nato hatte das Recht, sie aufzunehmen. Ich | |
kritisiere nur die Methode, es war zu schnell und zu konfrontativ. | |
Das lag aber nicht nur an Clinton. | |
Nein, der russische Präsident Boris Jelzin sollte eigentlich der große | |
Demokrat sein, hat dann aber wieder mit dem Blutvergießen angefangen. | |
[2][Im Oktober 1993 hat er sein eigenes Parlament beschießen lassen,] 1994 | |
hat er den extrem blutigen ersten Tschetschenienkrieg begonnen. Da haben | |
die Polen und Ungarn gesagt: Die Methode kennen wir – und drängten auch | |
deshalb, umso vehementer auf die Nato-Mitgliedschaft. | |
Mit dem [3][Budapester Memorandum hat die Ukraine 1994 dann auf ihre | |
Atomwaffen verzichtet.] Dafür wurde ihr von den USA, Großbritannien und | |
Russland zugesichert, ihre Souveränität und ihre bestehenden Grenzen zu | |
achten. Eine Vereinbarung, die Wladimir Putin dann 2014 mit der Annexion | |
der Krim erstmals gebrochen hat. | |
Ich bin überzeugt, dass wir im Westen viel schärfer auf die Annexion der | |
Krim hätten reagieren sollen. Das Budapester Memorandum heißt aber | |
Memorandum, weil es kein Vertrag ist. Es ist nicht wie Artikel 5 der Nato, | |
der alle Mitgliedstaaten zum Beistand im Falle eines Angriffs auf ein | |
Nato-Land verpflichtet. Das Memorandum war eine Anerkennung, die die | |
Ukraine dafür bekam, ihre Waffen abzugeben. Als es hart auf hart ging, war | |
es dann aber nur ein Stück Papier. | |
Heute gibt es zur Nato-Osterweiterung zwei Erzählungen. Auf russischer | |
Seite heißt es, 1990 sei als Preis für die deutsche Wiedervereinigung | |
versprochen worden, die Nato nicht weiter nach Osten auszuweiten. Das sei | |
nur nicht schriftlich fixiert worden. Auf westlicher Seite heißt es, ein | |
solches Versprechen habe es nicht gegeben und am Ende von Verhandlungen | |
zähle das, was im Vertrag steht. | |
Ob es ein Versprechen gab oder nicht, hängt stark davon ab, was man unter | |
einem Versprechen versteht. Insofern ist das eher eine psychologische | |
Frage. Laut den Quellen ist eindeutig klar: Das Thema Nato-Osterweiterung | |
kam in den Verhandlungen auf. Ende 1989, Anfang 1990 hat man auf westlicher | |
Seite überlegt: Was kann man Michail Gorbatschow anbieten, damit er der | |
Wiedervereinigung zustimmt? Vielleicht will er, dass wir ihm versprechen, | |
dass die Nato sich nicht ausdehnt? Dann haben US-Außenminister Baker und | |
BRD-Außenminister Hans-Dietrich Genscher beide mit ihm darüber gesprochen. | |
Gorbatschow meinte: Ja, hört sich gut an, wir werden weiter darüber | |
sprechen. | |
Wie ging es dann weiter? | |
Nach seinem Treffen mit Gorbatschow im Februar 1990 kam Baker zurück nach | |
Washington und hat Präsident Bush von den Gesprächen berichtet. Bush sagte, | |
er sei schwer enttäuscht. Das sei ein Fehler gewesen, er sei nicht der | |
Ansicht, dass über die Zukunft der Nato verhandelt werden solle. Baker | |
solle das zurücknehmen. Baker meldete sich daraufhin schriftlich beim | |
Auswärtigen Amt, er schrieb Folgendes – ich paraphrasiere, die genauen | |
Zitate und Quellennachweise stehen in meinem Buch –: Tut mir leid, ich habe | |
für Verwirrung gesorgt; ich habe eine klare Linie vom Chef, wir verhandeln | |
nicht über das zukünftige Ausmaß der Nato-Jurisdiktion. Genscher hat diesen | |
Brief aber mehr oder weniger ignoriert. | |
Und Helmut Kohl? | |
Als Kohl Bush in Washington traf, sagte er zu ihm, wenn man Gorbatschow | |
keine Zugeständnisse bei der Nato mache, müsse man ihm etwas anderes | |
anbieten. Dann werde es eine Frage des Geldes. Bush antwortete: Na und, Sie | |
haben tiefe Taschen. Kohl akzeptierte das. Genscher sprach unterdessen aber | |
immer weiter über die Nato. Kohl hat sich dann mehrmals bei Genscher | |
gemeldet und ihn sinngemäß aufgefordert: Hören Sie damit auf. Es ging sogar | |
so weit, dass er ihm einen offiziellen Brief schickte. Kohl schrieb: „[…] | |
möchte ich Dir in aller Form mitteilen“, dass er Genschers Position nicht | |
teile und nicht unterstütze. „Darüber hinaus bin ich nicht bereit zu | |
akzeptieren, daß die Bundesregierung in diesen Fragen ohne jede Rücksprache | |
festgelegt wird.“ | |
Wie wurde das dann gelöst? | |
Als es im September 1990 darum ging, den Zwei-plus-Vier-Vertrag zu | |
unterzeichnen und schon Politiker für die Zeremonie nach Moskau reisten, | |
gab es richtig Streit zwischen den westlichen Alliierten und Genscher. Am | |
Ende einigte man sich auf eine Protokollnotiz. Sie legte fest, dass | |
ausländische Nato-Truppen die frühere deutsche Grenzlinie überschreiten | |
durften, sofern dies nicht eine Verlegung genannt würde. Was als solche | |
definiert werde, sollte die Regierung des vereinten Deutschlands | |
entscheiden. Das gilt heute noch. | |
Was die russische Seite ein Versprechen nennt, war also nur ein | |
Gedankenspiel, das durch Uneinigkeit auf westlicher Seite in den | |
Verhandlungen aber ein langes Leben hatte? | |
So kann man das sagen. Ich bin der Meinung, was am Ende im Vertrag steht, | |
ist wichtig. Wir reden hier nicht von unerfahrenen Menschen oder Kindern. | |
Wir reden von internationalen Beziehungen zwischen Moskau und dem Westen, | |
es ging um sehr viel, um die Einheit Deutschlands, des ehemaligen | |
Nazideutschlands. Die sowjetischen Diplomaten haben das damals nicht | |
vergessen aufzuschreiben. Moskau hat den Vertrag unterschrieben, | |
ratifiziert und die Überweisungen dafür erhalten. Sie bekamen ja 15 | |
Milliarden D-Mark. Auf Englisch würden wir sagen: They cashed the cheque. | |
Das vergisst Putin immer. | |
Putins Umgang mit der Nato-Osterweiterung hat sich im Laufe der Jahre | |
stark verändert. [4][2004, bei der zweiten Runde der Erweiterung, als mit | |
den baltischen Staaten auch frühere Sowjetrepubliken dem Bündnis | |
beitraten,] hat er noch gesagt, es gebe keine Probleme in den Beziehungen | |
zwischen der Nato und Russland. | |
Putin hat sich radikalisiert. Je mehr Gewalt er angewendet hat, um so | |
nützlicher war dieses Thema für ihn als Rechtfertigung für Gewalt. Er | |
begann mit dem Tschetschenienkrieg und den Morden an Journalisten wie | |
[5][Anna Politkowskaja]. Dann gab es seine Rede auf der Münchner | |
Sicherheitskonferenz 2007, worin er sich beklagte, dass die Nato mit ihrer | |
Osterweiterung angeblich gegebene Garantien nicht eingehalten habe. Genauso | |
beschwerte er sich über den angeblichen Verrat in seiner Rede zur Annexion | |
der Krim 2014 und in seinen Äußerungen Ende 2021 vor dem großflächigen | |
Überfall auf die Ukraine. | |
Jetzt stellt sich Europa darauf ein, dass der Konflikt mit Russland auch | |
lange nach einem möglichen Kriegsende in der Ukraine weitergehen wird. | |
In meinem Buch geht es um die Wechselwirkungen deutscher, russischer, | |
amerikanischer Politik und jener der mittel- und osteuropäischen Staaten. | |
Und da sieht man, dass es am Ende eine Tragödie war, dass das Fenster der | |
Möglichkeiten nicht besser genutzt wurde. Kalte Kriege sind nicht | |
kurzlebig, sie halten lange an. Und wenn es Tauwetter gibt, muss man das | |
schätzen. Das haben wir damals nicht genug getan. Jetzt sind wir wieder da, | |
wo wir sind. | |
24 Sep 2023 | |
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