# taz.de -- Historie des Crossdressing: Facettenreich gegen Konventionen | |
> Crossdressing gibt es schon lange. Seit Jahrhunderten hinterfragen | |
> Menschen mit Kleidung gängige Geschlechterrollen. | |
Bild: Bambi and the Cross-Dresser’s Band of The Carrousel of Paris, 1958 | |
Kaiser Elagabal lebte kurz, aber turbulent als Herrscher im antiken Rom. | |
Durch eine Militärrevolte gelangte er im Jahr 218 im Alter von nur 14 | |
Jahren an die Macht. Während seiner vierjährigen Regentschaft machte sich | |
der junge Kaiser viele Feinde. Sein unangepasster Führungsstil führte zu | |
einem Soldatenaufstand, der schließlich mit seiner Ermordung endete. Doch | |
nicht nur Elagabals autoritäre Herrschaft brüskierte das römische Volk, | |
auch sein unkonventionelles Aussehen sorgte für Aufruhr. Wie der römische | |
Konsul Cassius Dio in seinen Aufzeichnungen berichtet, soll sich der | |
Imperator geschminkt, mit Perücken geschmückt und als Venus verkleidet | |
haben. Als sein Weggefährte Aurelius Zoticus den Kaiser einmal als „mein | |
Herr“ ansprach – so wird es überliefert –, erwiderte er: „Nennen Sie m… | |
nicht Herr, ich bin eine Dame.“ | |
Ähnlich wie Elagabal nutzen Menschen seit Jahrhunderten Kleidung, um die | |
ihnen zugeschriebene Geschlechtsidentität zu hinterfragen. Das Tragen von | |
Mode, die im binären Alltagsverständnis mit dem jeweils anderen Geschlecht | |
assoziiert wird, bezeichnet man als Crossdressing. Die persönlichen Motive | |
sind dabei so vielfältig wie die Menschen selbst. Crossdressing kann dem | |
politischen Protest, der Selbstdarstellung, Theaterkonventionen, dem Schutz | |
oder der Befriedigung sexueller Fantasien dienen. Beim Drag, der wohl | |
populärsten Spielart des Crossdressings, steht vor allem die kunstvolle | |
Inszenierung im Vordergrund. „Wir sind Gestaltenwandler“, erklärt Drag | |
Queen RuPaul in der Talkshow „The Real“. Dabei wird ein wichtiger | |
Unterschied zu trans* Personen deutlich. Während es Drags wie RuPaul um | |
das Performen einer Identität vor Publikum geht, identifizieren sich trans* | |
Personen nicht mit dem ihnen zugewiesenen Geschlecht. | |
Im Fall von Elagabal können wir über die Motive nur spekulieren. Die | |
Äußerung, eine Dame zu sein, jedenfalls kann auch als Statement einer | |
trans* Frau gelesen werden. Klar ist: Wie sich eine Person kleidet, ist für | |
die innere Geschlechtsidentität erst mal unerheblich. | |
Crossdresser:innen können sowohl trans* als auch cis sein. | |
Eine besonders lange Historie hat Crossdressing in der europäischen | |
Theaterkultur. Bereits lange vor Elagabals Wirken war genderübergreifendes | |
Schauspiel in griechischen Amphitheatern verbreitet – wenn auch zunächst | |
nur unter männlichen Schauspielern. Da strikte patriarchale Regeln Frauen | |
den Auftritt vor Publikum nicht gestatteten, verwandelten sich männliche | |
Darsteller auf der Bühne in Figuren wie Medea und Antigone. | |
## Schauspielverbot für Frauen | |
Auch zur Blütezeit des Shakespeare-Theaters war es weiblichen | |
Darstellerinnen zunächst verboten, als Schauspielerinnen zu arbeiten. | |
Theatergruppen wie die Lord Chamberlain’s Men griffen bei der Darstellung | |
von Frauenrollen daher auf die jugendlichen sogenannten Boy Actors zurück. | |
Als ein gewisser Henry Jackson 1610 in Oxford eine Othello-Aufführung sah, | |
schrieb er über den jungen Desdemona-Darsteller: „Sie hat die Sache immer | |
sehr gut gespielt, in ihrem Tod hat sie uns noch mehr gerührt.“ Erst mit | |
der Aufhebung des gesetzlichen Schauspielverbots für Frauen Mitte des 17. | |
Jahrhunderts verloren die Boy Actors an Relevanz. | |
Und nun begannen auch Schauspielerinnen mit Crossdressing: In sogenannten | |
Hosenrollen mimten sie männliche Figuren. Besonders eindrucksvoll gelang | |
das Ende des 19. Jahrhunderts der französischen Schauspielerin Sarah | |
Bernhardt, die als erster weiblicher Hamlet internationale Aufmerksamkeit | |
erregte. „Es gibt fünf Arten von Schauspielerinnen: schlechte, | |
mittelmäßige, gute und großartige – und dann gibt es noch Sarah Bernhardt�… | |
soll der Schriftsteller Mark Twain über die Schauspielerin gesagt haben. | |
In Bernhardts Heimat fand Crossdressing zur selben Zeit auch auf | |
Kleinkunstbühnen immer mehr Anklang. Im Jahr 1881 eröffnete der Künstler | |
Rodolphe Salis auf dem Pariser Montmatre das berühmte Kabarett Le Chat | |
Noir. In den folgenden Jahren wurden die französischen Cabarets zu Orten | |
des Aufbegehrens gegen Geschlechternormen und der performativen | |
Ausgestaltung von Gender und Identität. Auf der Bühne begeisterten die | |
Darsteller:innen mit glamourösen Kleidern und exzentrischen Accessoires | |
das urbane Publikum. Hinter der Bühne bildeten sie Banden und | |
Freund:innenschaften, die sie auch im Privaten begleiteten und teilweise | |
bei einer Geschlechtsangleichung stützten. | |
Aufnahmen aus dieser Zeit sind aktuell in der Ausstellung „Under Cover – A | |
Secret History of Cross-Dressing“ im C/O Berlin zu sehen. In eindrücklichen | |
Fotografien dokumentiert das Ausstellungshaus die vielfältige Geschichte | |
des Crossdressings: von den frühen Wegbereiter:innen der Drag Queens | |
bis hin zu den ersten Tomboys, die mit Kleidung und Habitus gegen die | |
soziale Ordnung des Patriarchats aufbegehrten. | |
## Fotokollektion von Crossdresser:innen | |
Kuratiert wurde die Ausstellung von dem französischen Regisseur Sébastien | |
Lifshitz. Als er als Jugendlicher im Paris der 1980er Jahre begann, sich | |
mit der eigenen queeren Identität auseinanderzusetzen, zog es ihn immer | |
wieder auf die Flohmärkte der Stadt. Dabei stieß er auf Bilder von | |
Personen, die mit Gender und Mode experimentierten. „Niemand interessierte | |
sich für diese Aufnahmen. Queerness wurde als etwas Lächerliches gesehen“, | |
sagt der Filmemacher im Interview mit der taz. Doch die allgemeine | |
Ablehnung, auch in der eigenen schwulen Community, weckte das Interesse des | |
damals 13-Jährigen. Über mehrere Jahrzehnte hinweg entstand in seinem | |
privaten Archiv eine facettenreiche Fotokollektion, die | |
Crossdresser:innen im Spiegel der Zeit seit 1860 zeigt. „Diese Menschen | |
lebten in Zeiten mit strengen moralischen Werten, in denen es unmöglich | |
war, die eigene innere Identität auszudrücken“, erklärt er. Denn die | |
westlichen Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts waren von einer | |
streng binären Geschlechterordnung geprägt. Menschen, die den sozialen | |
Geschlechterkonventionen trotzten, wurden verfolgt, pathologisiert – und | |
schließlich vergessen. | |
[1][In der Ausstellung] möchte Lifshitz ihre Geschichten wieder zum Leben | |
erwecken. Dabei wirft er vor allem ein Licht auf jene, die der breiten | |
Öffentlichkeit bislang verborgen blieben. So etwa die | |
Crossdresser:innen in den Kriegsgefangenenlagern des Ersten und Zweiten | |
Weltkrieges. Mit selbst organisierten Amateurtheatern versuchten einige | |
inhaftierte Soldaten, sich vom Grauen des Krieges abzulenken. Für die | |
Darstellung weiblicher Rollen griffen die Männer auf zeitgenössische | |
Damenmode zurück. Burschikoser Kurzhaarschnitt und ein dezentes Make-up | |
machten die Illusion perfekt. „Das Schauspiel war für sie ein Weg, um die | |
Erinnerung, die sie an Weiblichkeit hatten, neu zu interpretieren“, so | |
Lifshitz. Während der beiden Weltkriege wurde ihr Schauspiel öffentlich | |
kaum beachtet, doch heute gehen Historiker:innen davon aus, dass | |
Frauenimitationen integraler Bestandteil des Lagerlebens in der | |
Sowjetunion, in Deutschland, Frankreich und den USA waren. | |
Während Crossdressing in der darstellenden Kunst – und selbst in | |
Kriegsgefangenenlagern – weitgehend akzeptiert wurde, war das Tragen | |
genderfluider Mode im Alltag weiter verpönt. Erst im Laufe des 20. | |
Jahrhunderts veränderte sich in der westlichen Welt der Blick auf | |
Geschlecht und Identität. Heute wird die Existenz einer binären | |
Geschlechterordnung in den Gender Studies als veraltet betrachtet, | |
Geschlecht wird als Spektrum begriffen und die sozialen | |
Kleidungskonventionen lösen sich zunehmend auf. Während es für weiblich | |
gelesene Personen noch vor einigen Jahrzehnten ein emanzipatorischer Akt | |
war, Hosen zu tragen, gehören traditionell männlich konnotierte | |
Kleidungsstücke heute in die Garderobe vieler Frauen. Und wenngleich Männer | |
noch immer einem höheren gesellschaftlichen Sanktionsdruck unterliegen, | |
verschieben sich auch bei ihnen die Grenzen des Tragbaren. | |
Nicht zuletzt durch eine popkulturelle Aufarbeitung scheint Crossdressing | |
heute im Mainstream angekommen zu sein. Popstars wie Harry Styles oder Lil | |
Nas X brechen mit Geschlechterklischees, die Castingshow „RuPaul’s Drag | |
Race“ erzielt Millionenquoten und Instagram-Kanäle wie | |
„butchisnotadirtyword“ haben Tausende Follower:innen. Auch Ausstellungen | |
wie die von Sébastien Lifshitz tragen zur zunehmenden Akzeptanz bei. | |
„Queere Geschichte war zu lange unsichtbar“, so der Kurator. „Es ist unse… | |
Aufgabe, ihnen heute die Aufmerksamkeit zu schenken, die ihnen lange | |
verwehrt blieb.“ | |
1 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Alina Schneider | |
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