| # taz.de -- Heimatstadt, die keine ist: Nur eine Touristin in Sarajevo | |
| > Unsere Autorin sucht nach Ausreden, nicht in die alte Heimat fahren zu | |
| > müssen. Es kostet sie schon genug Energie, ihren Platz in Österreich zu | |
| > finden. | |
| Bild: Die „Lateinerbrücke“ in der Altstadt von Sarajevo ist ein beliebter … | |
| Letzten Sommer hatte ich eine gute Ausrede, nicht nach | |
| [1][Bosnien-Herzegowina], in das Land, in dem ich geboren wurde, zu fahren: | |
| Coronapandemie. Sogar meine Mutter setzte aus, das erste Mal seit | |
| Kriegsende, das sie nicht „runter“ zu ihrer Schwester fuhr. Eine Schwester, | |
| deren zwei Söhne, ein paar Cousinen und die Erinnerungen an ein Leben vor | |
| dem Krieg sind alles, was sie noch „unten“ hat. | |
| Ich aber habe keine eigenen Erinnerungen an die Stadt vor dem Krieg, und | |
| die Verwandtschaft und ich haben uns auseinandergelebt. Ich habe keinen | |
| Grund, in die alte Heimat zu fahren, und so suche ich nur noch nach | |
| Ausreden, es nicht zu tun. Diesen Sommer ist es noch immer zu gefährlich, | |
| sage ich mir, dabei wär ich jederzeit bereit, ans Meer nach Italien zu | |
| fahren. In Bosnien, da muss ich mich mit meinen immer schlechter werdenden | |
| Sprachkenntnissen auseinandersetzen, damit, dass ich mich in Sarajevo, | |
| meiner „Heimatstadt“, ständig verirre, mit entfernten Verwandten, die sich | |
| an mich erinnern, obwohl ich keine Ahnung habe, wer sie sein sollen. | |
| „Lass uns gemeinsam nach Bosnien fahren“, fordern meine nicht | |
| bosnischstämmigen Freundinnen seit Jahren von mir. Ich aber will nicht. Ich | |
| sollte sie dort rumführen können, den Touriguide spielen, dabei bin ich | |
| doch selbst nicht viel mehr als eine Touristin in Sarajevo. Keine Ahnung, | |
| wo es die besten Cevapcici in Sarajevo gibt. Keine Ahnung, wann genau die | |
| Filmfestspiele sind. Keine Ahnung, an welcher Station wir am besten | |
| aussteigen, um am schnellsten in die Altstadt zu kommen. | |
| Als letzten Sommer [2][mein Buch „Generation haram“ erschien], wurden auch | |
| bosnische Medien auf mich aufmerksam, ich schrieb auf die Interviewanfragen | |
| nicht zurück. Zunächst, weil es mir schwerfiel, eine grammatikalisch | |
| richtige, eloquente Antwort zu verfassen. Dann weil mir klar wurde, wenn | |
| ich selbst dabei Schwierigkeiten hatte, wie sollte ich dann erst ein | |
| Interview über Bildungsgerechtigkeit auf Bosnisch geben? | |
| ## Angst vor der Blamage | |
| Zu groß war die Angst vor der Blamage. Vor den abfälligen Kommentaren im | |
| Netz zu meinem österreichischen „r“, zu meiner falschen Fallsetzung. Ich | |
| schlug auch eine Lesung in Sarajevo aus. Ich brauche ja keinen weiteren | |
| Grund, um nach Sarajevo zu reisen, sondern Ausreden, es nicht zu tun. | |
| Wenn ich Fotos und Videos aus Sarajevo auf Instagram sehe, wird mir warm | |
| ums Herz. Die Architektur, die schicken Menschen, die Kaffeehauskultur, und | |
| gleichzeitig ist da ein riesengroßer Schmerz. Wachstumsschmerz. Von Jahr zu | |
| Jahr wird mein Platz in Österreich für mich klarer: Ich fühle mich wie ein | |
| eingewachsenes Haar, das bleibt, obwohl man versucht, es rauszureißen. Sich | |
| mit dieser Rolle auseinanderzusetzen, fordert all meine Energie. Daneben | |
| bleibt kein Raum für die Auseinandersetzung mit meinem Platz in Bosnien. | |
| Nur ein schlechtes Gewissen einem Land gegenüber, das ich nicht wirklich | |
| kenne. Nach der Pandemie muss ich mir eine neue Ausrede suchen. | |
| 28 Jul 2021 | |
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| Melisa Erkurt | |
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