# taz.de -- Handbuch zum Klimaschutz: „Drastische Einschnitte notwendig“ | |
> Die Maßnahmen reichen nicht, um das Pariser Klimaziel einzuhalten. Es | |
> fehlt ein Gesamtszenario, um Nachhaltigkeit langfristig umzusetzen. | |
Bild: Nachhaltige Landschaftspflege: mit Arbeitspferd und Walze wird Adlerfarn … | |
Macht zu viel Wissen handlungsunfähig? In den Bereichen Klimaschutz und | |
Nachhaltigkeit ist der Graben unübersehbar: zwischen den zahlreichen | |
Forschungsergebnissen über den kritischen Zustand der Umwelt und den | |
vergleichsweise geringen praktischen Anstrengungen in Politik und | |
Wirtschaft, das Öko-Ruder wirkungsvoll herumzureißen. Ein neues Buch will | |
diese Trennung überbrücken, das [1][„Handbuch Klimaschutz“] (Oekom-Verlag… | |
indem es aus der wissenschaftlichen Diagnose praktische | |
Handlungsanleitungen in unterschiedlichen Bereichen herausfiltert: vom | |
privaten Konsum über Kommunen und Industrie bis hin zu den Rahmensetzungen | |
der Politik. | |
„Angesichts der ökologischen Entwicklungstrends brauchen wir mehr denn je | |
drastische Einschnitte“, betonte Ortwin Renn, Direktor des Potsdamer | |
[2][Instituts für Nachhaltigkeitsforschung (IASS)] bei der Vorstellung der | |
Publikation in der vergangenen Woche. Immer deutlicher werde, dass es | |
allein mit technischen Lösungen zur Emissionsreduktion nicht getan sei. Die | |
Beendigung des klimaschädlichen Ressourcenverbrauchs sei auch ein | |
„gesellschaftliches Gemeinschaftswerk“, wie es die Transformations-Studie | |
des [3][Wissenschaftlichen Beirats für Globale Umweltveränderungen (WBGU)] | |
schon 2011 gefordert hatte. | |
Leitschnur für das „Handbuch Klimaschutz“ ist die Frage: „Wie kann | |
Deutschland [4][das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens] noch | |
erreichen?“ In Auftrag gegeben wurde es von den zivilgesellschaftlichen | |
Organisationen [5][„Mehr Demokratie“] und [6][„BürgerBegehren | |
Klimaschutz“], die damit auch die Etablierung eines „Klima-Bürgerrats“ | |
vorbereiten wollen. Ein Expertenteam unter Leitung von Karl-Martin | |
Hentschel wertete dazu mehr als 300 Studien aus und entwickelte auf 125 | |
Seiten konkrete Vorschläge, wie die Gesellschaft in den Bereichen Energie, | |
Wärme, Verkehr, Industrie, Landwirtschaft, Bodennutzung und Abfälle | |
klimaneutral werden kann. | |
„In den vergangenen zwanzig Jahren wurden in Deutschland Hunderte von | |
Studien zu allen Bereichen der Klimapolitik erstellt“, erklärt Hentschel, | |
von der Ausbildung Mathematiker, der als Grünen-Abgeordneter im Landtag | |
Schleswig-Holstein politische Erfahrungen sammelte. Aber nahezu alle | |
Untersuchungen gehen der Frage nach, wie bis 2050 eine Reduzierung der | |
Treibhausgasemissionen um 80 oder 95 Prozent erreicht werden kann. „Es gibt | |
jedoch kein Gesamtszenario, das sich an dem Pariser Klimaziel einer | |
maximalen Erderwärmung von 1,5 Grad orientiert.“ | |
## Tipping-Point der Weltökonomie | |
Im Ergebnis zeigen zahlreiche Studien, dass diese Aufgabe zu bewältigen ist | |
– sowohl technisch als auch finanziell. „Außerdem sind sich die Studien | |
einig: Die Umstellung Deutschlands auf Klimaneutralität kann und muss | |
sozial gerecht gestaltet werden“, hebt Hentschel hervor. „Sie schafft neue | |
Arbeitsplätze, reduziert Importabhängigkeiten und kann als gemeinsames Ziel | |
den geschädigten gesellschaftlichen Zusammenhalt wiederherstellen.“ | |
Für Maja Göpel, bisherige Generalsekretärin des WBGU, war schon vor der | |
Coronakrise erkennbar, dass nicht nur die globale Umwelt, sondern auch die | |
Welt-Ökonomie auf bestimmte „Tipping Points“ zusteuert, die radikale und | |
nichtrückholbare Umbrüche darstellen. „Solche Disruptionen zeichnen sich | |
etwa für die Autoindustrie ab“, bemerkte Göpel bei der Buchvorstellung. Ein | |
anderes Beispiel ist der Niedergang der fossilen Industrien, die immer | |
weniger Gewinne abwerfen. | |
Ein Handlungsbereich, auf den das Handbuch eingeht, ist die | |
[7][Digitalisierung.] „Eine offensive Nutzung der Informationstechnologien | |
für den Klimaschutz erfordert insbesondere eine ausreichende Regulierung | |
der Datennutzung“, wird betont. Von staatlicher Seite brauche es einen | |
Datenschutz, „der das Recht auf die Nutzung der Daten eines Menschen regelt | |
und die Vertraulichkeit privater Daten sichert“, ergänzt um eine | |
„Steuerpolitik, die internationale Konzerne in einer angemessenen Weise | |
besteuert“. | |
Weitere Regeln und Standards sollten unter anderem die Transparenz aller | |
Daten des Staates für die Bürgerinnen und Bürger sichern. „Diese Aufgaben | |
müssen rasch angepackt werden“, heißt es im Handbuch. „Nicht nur angesich… | |
der knappen Zeit, die uns zur Verfügung steht – genauso wichtig ist es | |
auch, dem politischen Druck, der durch die IT-Wirtschaft ausgeübt wird, zu | |
begegnen und den Einfluss der Konzerne auf politische Entscheidungsprozesse | |
zu verhindern.“ | |
## „Anthropozän“ kommt nicht in Handbuch vor | |
Ein anderes Handlungsfeld ist die Landwirtschaft. Die Empfehlungen für den | |
Agrarsektor lauten unter anderem, eine Ausweitung des Ökolandbaus auf | |
mindestens 30 Prozent der Ackerfläche bis 2040 zu erreichen und die | |
Förderung von landwirtschaftlicher Produktion, vor allem Fleisch und | |
Milchprodukten, für den Export auslaufen lassen. | |
Die Vorschläge gehen bis ins Detail, wenn es etwa heißt: „Elektrifizierung | |
oder Umstellung auf E-Brennstoffe der Geräte, Fahrzeuge, Ställe und | |
sonstigen Gebäude der Landwirtschaft Biogasanlagen sollten auf Reststoffe | |
umgestellt werden. Außerdem sollten sie nicht mehr im Dauerbetrieb laufen, | |
sondern nur dann, wenn Wind- und Sonnenkraftwerke alleine zu wenig Strom | |
abgeben.“ So könnten sie zur Stabilität des Energiesystems beitragen. | |
„Hierfür muss die Förderung angepasst werden.“ Womöglich auch ein | |
Handlungsauftrag an die in dieser Woche eingesetzte Zukunftskommission | |
Landwirtschaft. | |
Bei der Aufarbeitung von so viel Wissen kann auch manchmal etwas | |
durchrutschen. Das Stichwort [8][„Anthropozän“] kommt im Handbuch gar nicht | |
vor, obwohl dies in der Wissenschaft wie auch in ersten Diskursen in der | |
Politik eine neue Rahmung für erdpolitisches Handeln darstellt. Auch das | |
wichtige Grundlagenbuch von Uwe Schneidewind und den Wissenschaftlern des | |
Wuppertal Instituts für Klima Umwelt Energie „[9][Die Große | |
Transformation“] (2018) findet keine Erwähnung. Ein Lapsus. | |
Um die Klima-Empfehlungen praktisch werden zu lassen, sollen auch neue | |
Instrumente zur Umsetzung ausprobiert werden. Nach Vorbildern im Ausland | |
hat der Verein Mehr Demokratie zusammen mit der [10][Schöpflin Stiftung] | |
2019 in Deutschland den ersten Bürgerrat auf Bundesebene initiiert: 160 | |
ausgeloste Bürger:innen konnten miteinander beratschlagen, welche Rolle | |
Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie auf Bundesebene spielen sollen. | |
„Das Experiment gelang und erhielt viel Aufmerksamkeit von Medien, Politik | |
und Zivilgesellschaft“, wird im Handbuch berichtet. „Die Fraktionen des | |
Bundestags haben die 22 Empfehlungen entgegengenommen und | |
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat zugesagt, das Gespräch über | |
Bürgerräte voranzutreiben.“ | |
Im Juni 2020 hat der Ältestenrat des Bundestages sich für einen weiteren | |
[11][Bürgerrat] in Deutschland ausgesprochen. Das Thema: „Deutschlands | |
Rolle in der Welt“. | |
13 Sep 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://handbuch-klimaschutz.de/ | |
[2] https://www.iass-potsdam.de/de | |
[3] /Nachfolgeregelung-im-Umweltbundesamt/!5610216 | |
[4] /UN-Bericht-zu-Klimawandel-und-Corona/!5713339 | |
[5] https://www.mehr-demokratie.de/ | |
[6] https://buerger-begehren-klimaschutz.de/ | |
[7] /Studie-zur-digitalen-Technik/!5584865 | |
[8] /Neue-geologische-Epoche/!5423392 | |
[9] /Nachhaltigkeit-und-Wissenschaft/!5330897 | |
[10] https://www.schoepflin-stiftung.de/ | |
[11] https://www.buergerrat.de/ | |
## AUTOREN | |
Manfred Ronzheimer | |
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