# taz.de -- Hamburger Streit um Pädagogik: Psycho-Druck gegen Klassenkasper | |
> Das Fortbildungsmodul der „Neuen Autorität“ soll junge Lehrer*innen für | |
> den Schulalltag fit machen. Kritiker sehen einen Verstoß gegen die | |
> Kinderrechtskonvention. | |
Bild: Wo geht's in die richtige Richtung? Junge Lehrerin im Schulalltag | |
HAMBURG taz | Die junge Lehrerin fordert Schüler Paul auf, in der großen | |
Pause zur Bank vor dem Schulleitungsbüro zu kommen. Dort sitzt er ein paar | |
Minuten, bevor sie beginnt, auf ihn einzureden. „Du weißt, dass es nicht in | |
Ordnung ist, andere Kinder beim Lernen zu stören.“ Es sei ihre Pflicht, die | |
anderen Kinder zu schützen. Er werde sich so keine Freunde machen. Es sei | |
seine „Verantwortung“, sein Verhalten zu ändern. | |
Vier- bis fünfmal wöchentlich bekommt Paul diese Predigt am Pausenanfang. | |
So beschrieben in einem Text des Behördenmagazins [1][Hamburg macht | |
Schule]. | |
Die Lehrerin hat sich an ihren Kurs für Berufseinsteiger erinnert: „Neue | |
Autoritäten“ heißt das Fortbildungsmodul, das junge Lehrer in Hamburg fit | |
für den Schulalltag machen soll. Und statt sauer zu werden und aus der Haut | |
zu fahren, setzt sie auf dort geschulte Prinzipien wie die des „einseitigen | |
Handelns“. Sie geht den Dingen nach, „wenn der Dampf aus der Situation raus | |
ist“. | |
„Ich muss nicht gewinnen – nur beharren“, sagt sie. Das habe sie aus dem | |
Konzept von Haim Omer, klinischer Psychologe der Uni Tel Aviv, gelernt. | |
Eltern und Lehrer hätten immer wieder mit „ungewöhnlich destruktivem und | |
gewalttätigen“ Verhalten von Kindern zu tun, so der Behördentext. Das | |
Prinzip der „Neuen Autorität“ biete einen Rahmen, mit dem Erziehende ihre | |
„Handlungsfähigkeit“ wieder herstellen, Beziehungen stabilisieren und | |
„Grenzen“ ziehen könnten. | |
Was Paul eigentlich dazu bewegt hat, im Unterricht zu stören, erfährt der | |
Leser nicht. Das Konzept ist eigentlich für überforderte Eltern entwickelt | |
worden, seine Übertragung auf den Schulalltag ist hoch umstritten. Die | |
Erwachsenen, die sich so aus der „Ohnmachtsfalle“ lösen wollen, bedienen | |
sich Methoden des gewaltfreien Widerstands von Mahatma Gandhi und Martin | |
Luther King. Etwa ein „Sit-in“ im Kinderzimmer, die „Befehlsverweigerung�… | |
die „Elternpatrouille“ oder das Öffentlichmachen der Vergehen eines | |
Kindes. | |
Es könne passieren, dass ein Mädchen, das seine Mutter beschimpft und | |
schlägt, binnen weniger Minuten Dutzende SMS aus einem „Netzwerk“ von | |
Unterstützern erhält, die seine Mutter aus dem Bekanntenkreis rekrutiert | |
hat, schreibt der Erziehungswissenschaftler Stefan Dierbach in der Zeitung | |
[2][Forum für Kinder und Jugendarbeit]. Er sieht darin eine „kalkulierte | |
Beschämung des Kindes“. | |
Auch Lehrer werden dazu animiert, „Grenzverletzungen öffentlich“ zu machen | |
und sich ein „Netzwerk“, ein „Bündnis gegen schädigendes Verhalten“ | |
aufzubauen. Bei Haim Omer heißt es „Dokumentierung der Gewalt“, das sei | |
eine wichtige Art „aufzuhören, ein passives Opfer zu sein“. | |
## Machtverhältnisse auf dem Kopf | |
Indes kritisiert Dierbach, dass hier die Machtverhältnisse auf dem Kopf | |
stehen, da sich gewaltloser Widerstand à la Ghandi gegen die Mächtigen | |
richtete. Das Kind solle aus Angst vor der Form der öffentlichen | |
Sanktionierung sein Verhalten ändern. Die Frage nach Ursachen für den | |
Ausraster des Mädchens werde nicht gestellt. | |
„Haim Omer macht das Kind dafür verantwortlich, dass die Erwachsenen sich | |
besser fühlen. Das ist eine Form der Parentifizierung“, kritisiert auch | |
Cornelia Klioba, begabungspsychologische Beraterin in Hamburg. Er lasse den | |
Kindern keinen Raum, um Ängste und Gefühle auszudrücken. | |
Omer, der früher Soldaten in Deeskalation trainiert habe, setze darauf, | |
Distanz aufzubauen, egal wie das Kind sich fühle. Für Lehrkräfte, die unter | |
hohem Druck stünden, wäre das Programm eine „Verheißung“. Doch es gebe v… | |
geeignetere Konzepte wie etwa das „Zürcher Ressourcen-Modell“, die Lehrern | |
helfen, ihre Stärken und Schwächen zu analysieren und ihre Rolle zu finden. | |
Diese bauten nicht auf Patentrezepte, sondern gingen auf die einzelne | |
Person ein. | |
## Die Schulbehörde steht hinter dem Programm | |
„Ich finde es schlimm, dass junge Lehrer in der Berufseingangsphase hier in | |
die falsche Richtung gepolt werden“, sagt Sabine Boeddinghaus, | |
Schulpolitikerin der Hamburger Linksfraktion. Sie nennt das Programm einen | |
„Psycho-Rohrstock“. Die Handlungsfähigkeit der Erwachsenen zur Unterordnung | |
des Kindes werden mit „repressiven Maßnahmen“ durchgesetzt, einzig begrenzt | |
vom „Verbot körperlicher Gewalt und verbaler Herabsetzungen“. Dies sei | |
bedauerlich, zumal die klassische Schulsozialarbeit aufgrund eines neuen | |
Dienstzeitmodells kaum noch eigenständig arbeiten könne. | |
Boeddinghaus stellte nun eine [3][Anfrage an den Senat], wollte wissen, wie | |
dieser zur Kritik stehe, verstoße das Konzept doch gegen die | |
UN-Kinderrechtskonvention. Die Schulbehörde ist von dem Konzept offenbar | |
angetan. Seit 2014 nun habe das Landesinstitut für Lehrerbildung das | |
Angebot in sein Programm aufgenommen, „aufgrund der großen Nachfrage“. | |
## Unbeeindruckte Jugendliche | |
Die Lehrkräfte hätten nun mal dafür zu sorgen, dass Klassen „Umgangsformen, | |
Regeln und Rituale“ reflektiert und einhalten werden. Das Konzept der | |
„Neuen Autorität“ helfe Berufseinsteigern, die nötigen „Routinen“ | |
aufzubauen, und ermögliche allen an der Schule einen „wertebasierten“ | |
Dialog. Die pädagogische Arbeit werde durch die „Neue Autorität“ gestärkt | |
und nicht gefährdet, schreibt der Senat. „Auch entspricht das Konzept der | |
UN-Kinderrechtskonvention.“ Und eine „Beschämung“ von Kindern sei „kein | |
ausdrückliches Mittel“ und werde „in jedweder Form abgelehnt“. | |
„Ich finde die Antworten wenig zufriedenstellend“, sagt Boeddinghaus. Der | |
Senat habe sich nicht wirklich der Kritik gestellt. Drum überlege sie, eine | |
Fachveranstaltung zu organisieren. Eine kontroverse Debatte gab es bereits | |
in besagtem [4][Forum für Kinder und Jugendarbeit]. | |
Zumindest ältere Jugendliche wissen sich wohl auch zu wehren. Dierbach | |
moniert, dass die auch der „konfrontativen Pädagogik“ nahestehenden | |
Methoden beschwörenden Charakter hätten. Die empfohlenen Formulierungen | |
seien von einer „seltsam pathetischen Künstlichkeit“ und werden | |
mantraähnlich wiederholt. So habe ein Vertreter der Methode von einem | |
Jugendzentrumsmitarbeiter berichtet, der Jugendliche vom Kiffen abhalten | |
wollte und seinen Satz dazu minutenlang wiederholte. Einer der Jugendlichen | |
habe das wie folgt kommentiert: „Ey, kommt, lass uns gehen, der fickt mein | |
Ohr.“ | |
Der Beitrag wurde um den Hinweis auf die Fachdebatte in der Zeitschrift | |
Forum aktualisiert. | |
25 Jan 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.hamburg.de/contentblob/10711846/f0aad947d326ae512be948680184e80… | |
[2] https://www.kinder-undjugendarbeit.de/index.php?id=5 | |
[3] https://www.buergerschaft-hh.de/parldok/dokument/65283/psycho_rohrstock_gew… | |
[4] http://www.vkjhh.de/index.php?id=37 | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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