# taz.de -- Freie „Nena“-Schule etabliert sich: Freiheit wie '68 | |
> Keine Noten, keine Tests und keine Fächer, dafür Selbstverwaltung als | |
> „Lernanlass“: Vor zehn Jahren hat die Sängerin Nena Kerner die Neue | |
> Schule Hamburg gegründet. | |
Bild: Freiheit mit Sicherheitsnetz: Die Neue Schule Hamburg | |
HAMBURG taz | Manchmal geht ein Pressetermin in die Hose. Im Oktober war | |
die taz eingeladen, die von Sängerin Nena gegründete Neue Schule in | |
Hamburg-Rahlstedt zu besuchen. Um 13 Uhr im dritten Stock unterm Dach der | |
alten Villa. Ich habe mich verspätet. In der Bibliothek ist ein großer | |
Tisch aufgebaut, an dem schon zwölf Personen sitzen. Phillipp Palm, | |
Schulgründer und Mann von Sängerin Nena Kerner, überreicht ein | |
knall-orangefarbenes Buch. Zwölf Augenpaare richten sich auf mich. | |
Mit so vielen Leuten ein Gespräch zu führen, ist anstrengend. Für einen | |
Artikel reicht die Ausbeute nicht. Ein neuer Termin ist nötig. Dafür soll | |
ich noch mal schriftlich eine Anfrage an das Komitee „Einladen und | |
Kennenlernen“ stellen. | |
Unten im Foyer der weißen Villa wartet schon der Kollege von der | |
Konkurrenz. Er fragt, wie es war. „Viel Glück“, raune ich ihm hinterher. | |
Dann am Eingang die geliehenen Plastik-Crocs zurück ins Regal und | |
Straßenschuhe wieder an, und über eine Wiese zum Auto. Ein paar Schüler | |
kommen mir entgegen, sie waren im Penny auf der andere Seite. | |
„Werden? Ich bin doch schon!“, steht auf dem Titel des knallorangefarbenen | |
Buches, darunter „Neue Schule Hamburg“, so heißt Nenas Schule. Als die vor | |
zehn Jahren eröffnet wurde, war die Villa noch im Umbau, der Hof schwarz | |
vor Journalisten. Ein Jahr gab es später kritische Berichte über chaotische | |
Zustände. „Schule der Pop-Mutti in der Krise“, titelte 2008 der Spiegel. | |
Doch die Schule, die sich am amerikanischen „Sudbury“-Konzept orientiert, | |
hat sich gehalten, sie erhielt die Anerkennung als Ersatzschule. Aber sie | |
wurde zurückhaltend mit der Öffentlichkeitsarbeit. „Wir haben gelernt, dass | |
man so ein Projekt erst mal atmen lassen muss“, sagt Nena Kerner. | |
„Inzwischen ist so viel mehr entwickelt. Wir haben etwas zu erzählen.“ | |
Das orangefarbene Buch hat 335 Seiten, 26 Leute – Schüler, Lehrer, die | |
Gründer, zwei Wissenschaftler – haben was geschrieben. Es ist ein | |
Kaleidoskop von Eindrücken. Durch die vielen Stimmen wolle man die Vielfalt | |
der Schule zum Ausdruck bringen, den Leser auf Entdeckungsreise nehmen, „an | |
deren Ende möglicherweise ein neue Verständnis von Schule und Bildung | |
steht“, schrieben Nena Kern, Phillipp Palm und Sarah Alexi im Vorwort, das | |
irritierend in Großschrift gedruckt ist. | |
Die Neue Schule Hamburg ist demokratisch organisiert. Es gibt keine Noten, | |
keine Tests, keinen Stundenplan, die Kinder werden zu keinem Unterricht | |
gezwungen. Lesen lernen Kinder überall dort, wo Schrift ist. Sie lernen es | |
wie das Laufen nebenbei, einige mit fünf, andere mit sechs, andere mit neun | |
oder zwölf. So hatte es schon Daniel Greenberg 1987 in seinem Buch über die | |
Sudbury Valley School in Massachusetts beschrieben, die er mit anderen 1968 | |
gegründet hatte. | |
## Wer aufgenommen werden will, muss gewählt werden | |
„Und wenn mein Sohn den ganzen Tag nur Fußball spielen möchte, dann spielt | |
er eben nur Fußball“, sagte eine Mutter in der Schulbibliothek. Allerdings | |
gibt es Regeln, die sich die Schulversammlung selbst gibt. Und wer | |
aufgenommen werden möchte, muss gewählt werden. | |
Doch das schreckt offenbar nicht ab. In einem Kapitel beschreibt eine | |
Mutter, wie ihre Tochter zwei Mal nach einer Probezeit abgelehnt wurde, | |
einmal mit fünf, einmal mit sieben. Und nachdem die Eltern mit einer | |
staatlichen Grundschule schlechte Erfahrungen machten, zogen sie mit Kind | |
sogar für kurze Zeit nach Dänemark, um die Schulpflicht zu umgehen. Erst | |
beim dritten Versuch schaffte sie es als Zehnjährige auf die Neue Schule. | |
Auch andere Eltern beschreiben, wie ihre Kinder an der staatlichen Schule | |
die Lust am Lernen verloren. Bewegend ist der Text über Jeans* langen „Weg | |
zu einem Leben ohne Ritalin“, verfasst von Schulmitarbeiterin Anne | |
Romero-Früh. Der Junge geriet als Erstklässler an einer staatlichen Schule | |
mit einer Lehrerin aneinander, weil er auf dem Schulhof Pläne für eine | |
Turnhalle zeichnete und die Lehrerin in dem Bleistift nur eine Gefährdung | |
sah. „Für ihn war es schwierig, dass so viele Kinder in der Klasse waren | |
und dass er fünf Stunden lang ruhig sitzen musste“, schreibt die | |
Mitarbeiterin, die den Jungen betreut. | |
Nach einigen Umwegen kam Jean mit neun Jahren zur Neuen Schule Hamburg und | |
durchlebte dort den Entzug der Medikamente. „Die ersten Wochen waren weder | |
für Jean* noch für die Schulgemeinschaft leicht“, schreibt Romero-Früh. | |
Doch inzwischen habe er „möglicherweise einen für sich guten Ort gefunden�… | |
Die Neue Schule lehnt Ritalin ab. Sie bezieht sich auf den Neurobiologen | |
Gerald Hüther, der es nicht für belegt hält, dass ADHS eine genetisch | |
bedingte Stoffwechselstörung ist. | |
Das Komitee „Einladen und Kennenlernen“ meldet sich zurück. Sie wollen mich | |
noch einmal einladen und wünschen sich ein paar Fragen schriftlich. Das | |
Komitee ist für den Kontakt nach außen zuständig und neben „Putzkomitee“, | |
„Wahlkomitee“ und „Lösungskomitee“ eines von vielen. Schulgründer Palm | |
erklärt den Sinn so: An der Neuen Schule übernehme die Schulgemeinschaft | |
auf demokratische Weise die Verantwortung für den Betrieb. Durch die | |
täglichen Anforderungen an die Selbstverantwortung entstünden „reale | |
Aufgaben und Probleme“. Die Schule nutze die tägliche Verwaltung als | |
„authentisches Arbeitsfeld, das unzählige Lernanlässe bietet“. | |
Nun ist also mein Besuch ein Lernanlass. 13 Fragen gehen nach Lektüre des | |
Buches an das Komitee. Der Termin für den zweiten Besuch fällt auf einen | |
verregneten Novembertag. „Die erwarten dich schon“, sagt ein Schüler vor | |
der Tür. Zwei Mädchen bringen mich ins Gremienzimmer im ersten Stock. Zwei | |
Schüler und drei Mitarbeiter sitzen bei Kaffee, Keksen und Obst. | |
## Jeder ist mal Lehrer, mal Lernender | |
Schülerin Lilly Bekesch hat sogar die ausgedruckten Fragen vor sich, | |
Mitarbeiter Markus Kröger das Regelbuch dabei. Wie kommen die verschiedenen | |
Altersgruppen zurecht? „Das ist unsere Geheimwaffe“, erzählt Lilly. Jeder | |
ist mal Lehrer, mal Lernender. Sogar der Begriff „Lehrer“ ist deshalb durch | |
„Mitarbeiter“ ersetzt. 85 Schüler gibt es, in jedem Jahrgang 6 bis 11 | |
Leute. Die Jüngste ist fünf und hat gerade mit Mitarbeiterin Anne ein „LK“ | |
geschrieben, weil sie sich ungerecht behandelt fühlte. | |
LK, so nennt man einen Zettel mit Kritik, der im täglich tagenden | |
„Lösungskomitee“ besprochen wird. Dort werden Konflikte geklärt und | |
Regelverstöße geahndet. „Hier können auch mal Tränen fließen“, sagt Sa… | |
Alexi, die pädagogische Leiterin. | |
Als die Schule vor zehn Jahren in einem Farmsener Jugendzentrum die Arbeit | |
aufnahm, gab es so gut wie keine Regeln, berichtet Corvin Busch. „Ich kann | |
verstehen, wenn man es in den ersten Monaten nicht gemocht hat, weil es | |
superchaotisch war.“ Er ist heute 17 und war damals als Sechsjähriger | |
dabei. Früher gab es auch eine höhere Fluktuation. Manche der 172 | |
ehemaligen Schüler waren nur ein oder zwei Jahre an der Schule. „Seit sechs | |
Jahren sind wir stabiler“, sagt Sarah Alexi. | |
Heute gibt es das Regelbuch mit 150 Einträgen. Ich darf reingucken, aber | |
nichts mitnehmen, die Regeln können sich ändern. Wenn einer zum Beispiel | |
vergisst zu putzen, ist er in der nächsten Woche zwei Mal mit Putzen dran. | |
Die Schüler dürfen das Gelände verlassen und zum Penny gehen. „Dort findet | |
praktischer Matheunterricht statt“, sagt Sarah Alexi. Doch jeder muss ich | |
dafür auf einer Liste am Eingang aus- und wieder eintragen. Und wer das | |
vergisst, hat zwei Wochen Penny-Verbot. „Auch ich hatte das gerade, weil | |
ich vergaß, mich einzutragen“, berichtet die Pädagogin. | |
## Klavierspielen nur mit „Führerschein“ | |
Ähnliches gilt für die Klavier-Regeln. Wer den roten Flügel im Erdgeschoss | |
nutzen will, muss einen „Klavierführerschein“ haben. Auch dafür gibt es e… | |
Team. Sie habe bei Schülern den Klavierführerschein gemacht, berichtet die | |
pädagogische Leiterin. Und weil ein Besucher von ihr sich ohne Führerschein | |
ans Instrument setzte, bekam sie als „Konsequenz“ eine Woche Klavierverbot. | |
Auch die E-Gitarren und Keyboards im Musikraum dürfen nur mit speziellem | |
Führerschein genutzt werden, den ein Team vergibt. Es gibt sogar eine Regel | |
zum Umgang mit Spielwaffen. Und als ein Schüler oft ausrutschte, setze er | |
eine Regel durch, dass Klamotten nicht auf dem Boden liegen dürfen. | |
Nach Zeitungsartikeln über die Schule fragen besorgte LeserInnen schon mal, | |
was aus den Kindern werden soll. „Auch Eltern haben einen Leidensdruck und | |
fragen, was macht mein Kind, fängt es an zu lesen?“, berichtet Alexi. Doch | |
die Schule vertraut darauf, dass die Kinder lernen. | |
Die Struktur ist ganz einfach: Es herrscht Anwesenheitspflicht in | |
Gleitzeit. Von acht bis 17 Uhr, freitags 14 Uhr, ist das Haus geöffnet. | |
Grundschüler müssen 31 Stunden die Woche da sein, ab der fünften Klasse | |
sind es 35 Stunden, dokumentiert mit Fingerabdruckleser am Eingang. Schüler | |
können Überstunden sammeln und diese später ausgleichen. Bei Corvin waren | |
es einmal 122. | |
Innerhalb dieser Zeit gibt es Kurse, Teamtreffen, Essenszeit, Putzzeit. Es | |
gibt ein Sprachlabor, einen Raum für Lesen, Schreiben, Rechnen, ein Labor | |
für naturwissenschaftliche Versuche und ganz oben noch Arbeitsraum und | |
Bibliothek, die derzeit von den Prüfgruppen in Beschlag genommen ist. | |
## Abschluss als Projekt | |
„Abschluss ist bei uns auch ein Projekt“, erklärt Sarah Alexi. Zurzeit | |
bereiten sich acht Schüler für den Ersten Schulabschluss und acht für den | |
Mittleren Abschluss vor. Seit 2012 haben 59 den ersten und 17 den mittleren | |
Abschluss gemacht, die Zahlen hat sie herausgesucht. Die meisten machen | |
also schon einen Abschluss. Aber es ist eine externe Prüfung, die nicht die | |
ganze Schulzeit dominiert. Schon in Jahrgang acht nehmen die Schüler am | |
„Kermit“-Test der Schulbehörde teil. „Wir liegen etwa gleichauf mit den | |
Stadtteilschulen“, sagt Alexi. | |
Einige gehen danach auf eine Stadtteilschule und machen dort Abitur, andere | |
wählen andere Wege oder bleiben auch noch, so wie Lilly und Corvin. Sie | |
wollen jetzt den mittleren Abschluss machen. Danach plant Corvin zwei | |
Praktika, um mit 18 ins Ausland zu gehen. „Ich will rausfinden, was mich | |
wirklich interessiert“, sagt er. Er war schon öfter in Uni-Seminaren für | |
Lehramtsstudenten dabei. „Die konnten nicht sagen, warum sie Lehrer werden | |
wollen. Das fand ich erschreckend.“ | |
An der Neuen Schule ist das anders. Hier stehen auch die Mitarbeiter einmal | |
im Jahr neu zur Wahl. Stimmberechtigt sind alle 85 Schüler, die beiden | |
Schulgründer und die 13 Mitarbeiter. „Ich bin letztes Mal mit sieben | |
Gegenstimmen gewählt worden“, erzählt Leiterin Alexi. Ein paar gaben das | |
Feedback, dass sie zu viel auf einmal macht. „Damit konnte ich was | |
anfangen.“ | |
Die Schule sei gefragt. Für sieben freie Plätze in neuen Anfängerjahr gibt | |
es 15 Bewerbungen. Die Kleinen machen auch eine Probezeit mit: Jede Woche | |
gibt es ein Feedback, nach zwei Wochen entscheidet die Schulversammlung, ob | |
das Kind aufgenommen wird. | |
Zum Schluss eine Führung durchs Haus: Der Schultag ist zu Ende, es wuselt | |
auf den Gängen. Ein Kind, das abgeholt wird, wird von einem anderen per | |
Lautsprecher ausgerufen, Kleine sitzen bei Großen auf dem Schoß. Im | |
Souterrain ist der Essraum weihnachtlich geschmückt. Im Getränkeregal steht | |
Mondquelle-Wasser. | |
*Name geändert | |
Den ganzen Schwerpunkt zu selbstbestimmten Lernkonzepten lesen Sie in der | |
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20 Jan 2018 | |
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Kaija Kutter | |
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