# taz.de -- Gewalt in Syrien: „Wir wollen keine Rache“ | |
> Seit dem Machtwechsel in Syrien marschieren israelische Truppen durchs | |
> Grenzgebiet. Eine Begegnung mit Verwundeten, Verwaisten und | |
> Verzweifelten. | |
Bild: Aza Hani Mohammad hat bei einem israelischen Angriff ihr Bein verloren | |
Als Aza Hani Mohammad das Dröhnen der Kampfjets und den dumpfen Schlag der | |
Explosionen hörte, richtete sie ihren Blick gen Himmel. Und rannte. Raus | |
aus dem Haus, in dem sie gerade saß. Um 8 Uhr morgens war das, die Kinder | |
waren bereits in der Schule. So rannte Mohammad mit drei weiteren Frauen | |
und einem Kind, die sich gerade mit ihr im Gebäude befanden. Und dann kam | |
der Knall. | |
Als Aza Hani Mohammad wieder zu sich kam, lag sie in einem Krankenhausbett | |
– ohne ihren rechten Fuß, ihr rechtes Bein nur noch ein Stumpf. Die Drohne, | |
die ihr Viertel im Dorf Kuwaya nahe der syrisch-jordanischen Grenze am 25. | |
März ins Visier nahm und Mohammads Fuß und Lebensfreude zerstörte, gehörte | |
zur israelischen Armee. Die sagt, sie habe geschossen, nachdem „Terroristen | |
das Feuer gegen uns im Süden Syriens eröffnet hatten“. | |
Aza Hani Mohammad liegt jetzt, einen Monat und neun Tage später, in einem | |
bedrückenden Raum im Haus von Verwandten im Nachbardorf. Der Putz an den | |
Wänden ist abgeblättert, die Holztür zersplittert. Ihr eigenes Haus ist | |
beschädigt und ihre Angst groß, es könnte in Kuwaya weitere Angriffe geben. | |
Warum gerade ihr Wohnort zum Ziel wurde? „Sie sagten, es seien bewaffnete | |
Männer auf der Hügelspitze gewesen, und genau dort liegt mein Haus“, sagt | |
Mohammad. | |
## Mindestens 548 Luftschläge auf Syrien verübt | |
Seit dem 8. Dezember 2024, seit dem [1][Sturz von Syriens Ex-Diktator | |
Baschar al-Assad] und der Machtübernahme durch eine islamistisch-geführte | |
Rebellenkoalition, hat Israel mehrere Gebiete in seinem Nachbarland | |
besetzt, jenseits der umstrittenen Golanhöhen. Mal hat Israel dies mit dem | |
eigenen Schutz vor terroristischen Bedrohungen begründet, mal mit dem | |
Schutz der religiösen Minderheit der Drus*innen, die vorwiegend in | |
Südsyrien lebt. Dabei hat die israelische Luftwaffe der Syrischen | |
Beobachtungsstelle für Menschenrechte zufolge mindestens 548 Luftschläge | |
verübt. | |
Die 40-jährige Aza Hani Mohammad liegt in schwarzem Langkleid und Kopftuch | |
in einem Bett unter einer Decke mit Blumenmuster, neben ihr ein Nachttisch | |
mit zwölf Medikamentenschachteln. Ihr Blick wirkt traurig, aber gefasst, | |
ihre Haut fahl. Nicht nur der Körper trägt Wunden, auch Mohammads Seele. | |
„Wie soll sich jemand in meiner Lage fühlen? Eine gesunde Frau, die in | |
ihrem Haus arbeiten möchte, sich um ihre Kinder kümmern möchte – wie soll | |
sie sich fühlen?“ Ein Junge im Grundschulalter sitzt an der Bettkante. | |
Sechs Kinder hat Aza Hani Mohammad, drei Söhne und drei Töchter. | |
## Tageslohn von nicht mal drei Euro | |
Gehen könne sie derzeit nur, wenn zwei Menschen sie auf beiden Seiten | |
stützen. Sonst müsse sie sitzen. Rund um die Uhr sitzt eine | |
Krankenschwester neben Mohammads Bett. Die Gesamtkosten ihrer Behandlung | |
belaufen sich auf 60 Millionen syrische Pfund, umgerechnet 4.084 Euro. | |
Mohammads Ehemann zeigt die Rechnung für nur einen der Arztbesuche: 204 | |
Euro. Der schmächtige Mann mittleren Alters mit Schnurrbart und sanftem | |
Blick arbeitet als Tagelöhner. An manchen Tagen verdient er 2,40 Euro, an | |
anderen 2,75. An wieder anderen gar nichts. Staatliche Hilfen gibt es | |
nicht, Hilfsorganisationen gibt es hier kaum. | |
Ob Aza Hani Mohammad je wieder ohne fremde Hilfe laufen wird, das ist | |
unklar. Zunächst muss sie sich einer weiteren Operation unterziehen. Ein | |
Hautfetzen soll aus der Hüfte entfernt und über den Stumpf gezogen werden. | |
Dann wird man weiterschauen. „Wir wollen keine Rache. Wir wollen wieder in | |
unser Haus zurück und in Sicherheit leben“, sagt die Frau und blickt | |
resigniert. Außerhalb des Hauses erstrecken sich Felder mit roter Erde und | |
grünen Pflanzen, trockenen Erdschollen und dürren Bäumen. Vögel zwitschern | |
in den Zweigen. | |
In Kuwaya, sieben Kilometer weiter, zeigt ein junger Mann auf eine kleine | |
Lichtung zwischen den Olivenbäumen am Berghang. „Hier waren die Männer, als | |
die Drohne schoss“, sagt er. Zwei Baumstümpfe ragen aus dem Boden. Einer | |
der sechs Menschen, die an dem Tag starben, war Amin Salem Suleiman. | |
Suleimans Bruder Muflah sitzt auf dem Teppich in seinem Wohnzimmer und | |
nippt an einem Glas süßen Schwarztee. Er macht kein Hehl daraus, dass sein | |
37-jähriger Bruder eine Waffe trug, als er starb. Eine Waffe, die er gegen | |
die israelischen Truppen richten wollte. „Es ist nicht möglich, die | |
Israelis zu akzeptieren. Weil sie Angreifer sind. Sie haben ein Stück von | |
unserem Land genommen und überlegen gerade, sich noch mehr einzuverleiben.“ | |
Dorfbewohner*innen hätten am 25. März von israelischen Soldat*innen | |
gehört, die durch das Tal in Richtung der Bauernhöfe marschierten. Männer | |
und Frauen, teils mit Gewehren bewaffnet, verließen ihre Häuser, um sich | |
ihnen entgegenzustellen. Die israelischen Soldaten hätten die Bewaffneten | |
mit Scharfschützen, Artillerie und Drohnen angegriffen, die | |
Dorfbewohner*innen seien geflohen. 24 Stunden konnten sie nicht | |
zurück. | |
Fragt man Suleimans Bruder, wieso die Israelis kamen, antwortet er: „Weil | |
sie sich ausbreiten und uns besetzen wollen.“ Drei Töchter und einen Sohn | |
hinterlässt sein Bruder, anderthalb bis sechs Jahre alt. | |
Kuwaya liegt etwa einen Kilometer entfernt von der jordanischen Grenze und | |
fast vier in Luftlinie von den von Israel besetzten Golanhöhen. Immer | |
wieder gab es in der Region in den vergangenen Monaten Streifzüge der | |
israelischen Kräfte. Es ist aber nicht offiziell bestätigt, dass sich die | |
Truppen am 25. März bereits auf syrischem Boden befanden. | |
Das israelische Militär schrieb in einer Stellungnahme, dass in den | |
vergangenen Wochen Truppen an verschiedenen Orten in Syrien aktiv waren, um | |
Waffen zu vernichten, und in den Gebieten bleiben werden, um Israels | |
Bürger*innen zu schützen. Doch in Syrien denken Anwohner*innen, dass | |
Israel kommt, um ihr Land zu stehlen. Und sie wehren sich. | |
Gut 75 Prozent seiner Ernte hat Suleimans Bruder, ein Landwirt, durch die | |
Aktionen des Militärs eingebüßt. So schätzt er. Kaum traut er sich noch auf | |
die Felder, um sie zu wässern oder zu ernten. Der Mann mit den weißen | |
Haaren und dem grauen Schnurrbart hat Angst: Jetzt wisse Israel, dass es im | |
Dorf Menschen gibt, die bereit sind zu kämpfen. | |
## Besetzung Israels bedeute „harb“ also Krieg | |
„Wir haben uns die Befreiung unseres Landes vorgenommen und hoffen, dass | |
sie vollendet wird. Wir sind gerade im Aufbau und wollen in Frieden mit | |
allen Nachbarn leben“, sagt Muflah mit ruhiger Stimme. „Wenn unsere | |
Regierung ein Abkommen mit Jordanien und Israel schließt, sollten wir es | |
akzeptieren.“ | |
Doch nicht wenige glauben, dass eine israelische Besatzung zu einem | |
erneuten Konflikt führen könnte. | |
„Harb“, Krieg, antwortet Maher Mohammad al-Hussein auf die Frage, was | |
passieren würde, sollten die israelischen Soldaten das Gebiet weiterhin | |
besetzen. „Menschen werden wieder sterben“, gewiss sei er besorgt. | |
Al-Hussein lebt in einem kleinen Dorf etwa zehn Kilometer von der | |
Pufferzone entfernt und war am 20. Dezember auf einer Demonstration gegen | |
die israelische Besatzung im Dorf Maariyah, einem 1.000-Seelen-Ort, ein | |
paar Kilometer von der Grenzlinie zu den Golanhöhen, in dem sich | |
israelische Einheiten niedergelassen hatten. | |
Ein Freitag war es und Maher al-Hussein und seine Mitstreiter*innen | |
sangen Parolen vor und gegen die Soldat*innen. „Syrien ist frei, frei, und | |
der Angreifer muss weg.“ – „Tod vor Beleidigung“, schrien sie und | |
schwenkten Flaggen. Dann begannen die Soldat*innen zu schießen. | |
Al-Hussein spürte einen scharfen Schmerz im Oberschenkel, erinnert sich an | |
die Hände der Männer, die ihn aus der Menge trugen. Etwa zehn Minuten | |
später fiel er in Ohnmacht. | |
So erzählt der 21-Jährige heute den Augenblick, der sein Leben verändert | |
hat. Seine Geschichte deckt sich mit Medienberichten. Das israelische | |
Militär schreibt, die Truppen hätten „eine Bedrohung erkannt“. | |
Die Kugel hat einen Nerv in al-Husseins Bein durchtrennt und einen Knochen | |
gebrochen, seitdem kann er ohne Unterstützung nicht mehr laufen. Maher | |
al-Hussein sitzt in einem Zimmer aus nackten, grauen Ziegeln, im | |
Halbdunkeln. Im Raum wabert der Geruch von Medikamenten, neben dem Bett | |
stehen zwei Krücken an die Wand gelehnt. | |
Al-Hussein trägt Sportjacke und Bart, die Beine sind unter einer blauen | |
Decke versteckt. Vor dem Unfall war er Student der Sozialwissenschaften. | |
Jetzt liegt er meistens nur. Alle seien wütend, sagt ein Freund, der gerade | |
zu Besuch ist. Al-Hussein lächelt, etwas wehmütig. Noch hat er Hoffnung. Er | |
will irgendwann wieder laufen. Und studieren. Aber es wird Zeit brauchen. | |
Das hätten die Ärzte gesagt. | |
Draußen holpern Autos über die Landstraßen, einige abgemagerte Kühe weiden | |
auf den Feldern. Kinder laufen hin und her, ohne Erwachsene in Sicht. Im | |
Tal schlängelt sich der Fluss Yarmouk, an manchen Stellen ist er fast nicht | |
zu erkennen. Auf der jordanischen Seite bilden kahle, wellenförmige Berge | |
eine raue, fast schluchtartige Kulisse. Die Landschaft von einer schroffen | |
Schönheit. Vor drei Wochen hatte [2][das israelische Militär in die | |
besetzten Gebiete Touristentouren organisiert], die für Kontroversen | |
gesorgt haben. | |
Israels Verteidigungsminister Israel Katz hat angekündigt, die Armee werde | |
„auf unbestimmte Zeit“ im syrischen Gebiet bleiben. Und nach den | |
[3][Gefechten zwischen islamistischen Sunniten und Drus]en der vergangenen | |
Tage hat Israel erneut Ziele in Damaskus und im Süden Syriens aus der Luft | |
angegriffen. Die Regierung in Damaskus hat mehrfach betont, sie wolle | |
keinen Krieg mit Israel. | |
Aza Hani Mohammads und Maher al-Husseins Wunden sind noch nicht verheilt. | |
Und auch die Wunden des einstigen Bürgerkriegslands Syrien liegen noch | |
offen. | |
12 May 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Syrien-nach-dem-Sturz-von-Assad/!6074900 | |
[2] https://www.theguardian.com/world/2025/apr/11/israeli-military-organises-to… | |
[3] /Ethnische-Konflikte-in-Syrien/!6082274 | |
## AUTOREN | |
Serena Bilanceri | |
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