# taz.de -- Gewalt gegen werdende Mütter: Das Kind ist da. Es schreit nicht | |
> Schwangere, die bei der Geburt eine missbräuchliche Behandlung erleben, | |
> werden beschwichtigt: „Dem Kind geht's doch gut?“ Doch was, wenn nicht? | |
Bild: Mit den Füßen zuerst auf die Welt – wie es der Mutter dabei geht, ist… | |
Für einen kurzen Moment ruht unsere Tochter schlaff auf seinen Händen. Sie | |
schreit nicht. Sie zuckt nicht. Nicht mal ein bisschen. Der ganze Körper | |
ist blau. Die Augen geschlossen. Dann dreht der Oberarzt sich um. | |
„6.17 Uhr: Sofortige Abnabelung des Neugeborenen. Erstversorgung durch die | |
diensthabenden Ärzte und Anästhesisten“ (aus der Krankheitsgeschichte) | |
Ich weiß nicht, wo unsere Tochter jetzt ist. Ich weiß nicht, ob 6.17 Uhr | |
sowohl ihren Geburts- als auch ihren Todeszeitpunkt bestimmt. | |
Der Morgen davor: Um sieben Uhr kamen wir in die Klinik. Unsere Tochter war | |
überfällig, nun sollte die Geburt eingeleitet werden. Zuvor war ich in der | |
Beckenendlagensprechstunde bei dem uns empfohlenen Oberarzt gewesen. Er | |
bestärkte uns in unserem Vorhaben trotz der Steißlage zunächst eine | |
natürliche Geburt zu versuchen, es sei sein Spezialgebiet. Er versprach | |
mir, dass wir uns bis zur Geburt in regelmäßigen Abständen sehen würden und | |
dass er die Geburt begleiten würde. Dann streikten die Ärzte. Die folgenden | |
Termine wurden von wechselnden Assistenzärztinnen übernommen. Ob ich denn | |
den Oberarzt noch mal sehen könne? „Warum? Das können hier alle gleich | |
gut.“ | |
6.19 Uhr: Keine Herzfrequenz, keine Atmung, kein Tonus, keine Reflexe (aus | |
dem Erstversorgungsprotokoll) | |
Am Tag der Einleitung sahen wir ihn wieder. Er steckte morgens seinen Kopf | |
durch die Tür und wünschte uns viel Glück, ansonsten blieben wir allein im | |
Kreißsaal. Alle paar Stunden kamen wechselnde Hebammen und verabreichten | |
mir Einleitungstabletten und schnallten mich ans CTG. 20 Minuten sollte das | |
ungemütliche Prozedere in Seitenlage jeweils dauern. Jedes Mal wurde ich | |
vergessen, und erst nach anderthalb Stunden erbarmte sich jemand, und ich | |
durfte endlich wieder aufstehen. Es gab keine Untersuchung, kein Gespräch | |
über das weitere Vorgehen, und auch der Arzt kam nicht wieder, bis er zum | |
Feierabend ein weiteres Mal den Kopf durch die Tür steckte, um sich zu | |
verabschieden. Gegen 22 Uhr kam eine Hebamme: „Sie waren ja heute unser | |
Lieblingspaar, um sie mussten wir uns gar nicht kümmern.“ | |
6.22 Uhr: Keine Herzfrequenz, keine Atmung, kein Tonus, keine Reflexe | |
Trotz der geplanten Einleitung hatte man kein Zimmer für uns. Wir kamen in | |
ein Vorwehenzimmer ohne Fenster. Es war heiß, an Schlaf war nicht zu | |
denken. Als meine Fruchtblase platzte, lief ich zum Empfang, um mich zu | |
entschuldigen und zu sagen, dass ich da eine ziemliche Sauerei veranstaltet | |
hätte. | |
Die Medikamente taten ihren Dienst nun mit ungeheurer Wucht. In nur | |
anderthalb Stunden war der Muttermund zehn Zentimeter geöffnet. Das stellte | |
allerdings weder ein Arzt noch eine Hebamme fest, sondern der inzwischen | |
anwesende Anästhesist, der gerade dabei war, mir eine PDA zu legen. | |
„Untersucht die mal, so wie die atmet, geht’s gleich los.“ Die ebenfalls | |
anwesende Assistenzärztin lehnte ab. „Mach du mal“, sagte sie zu der | |
Hebamme. Da war ein Fuß unserer Tochter schon deutlich zu spüren. Wir | |
blieben wieder allein im Kreißsaal. Ab und an schaute die Hebamme nach uns, | |
die gleichzeitig noch weitere Geburten zu betreuen hatte. | |
6.23 Uhr: Keine Herzfrequenz, keine Atmung, kein Tonus, keine Reflexe | |
Dann sollte ich mich in den Vierfüßlerstand begeben. Der Fuß war jetzt | |
sichtbar. Die Assistenzärztin, die mich vorher nicht hatte untersuchen | |
wollen, wurde hinzugerufen und wollte den Raum gleich wieder verlassen. Die | |
Hebamme hinderte sie daran: „Sie gehen jetzt nirgendwo mehr hin!“ Ein | |
weiterer Arzt kam hinzu. Er blieb mit verschränkten Armen in der Tür | |
stehen. Die Wehentätigkeit ließ nach, obwohl der Wehentropf stetig | |
hochgeregelt wurde. Auf den Monitoren suchten sie immer verzweifelter nach | |
Herztönen. Eine zweite Hebamme kam. | |
Hebammen und Ärztin waren uneins über das weitere Vorgehen, so viel bekam | |
ich mit. Aber was passierte hier gerade? Was sollte ich tun? Warum redete | |
keiner mit mir? Ich hielt mich an meinen Freund, wir atmeten gemeinsam, ich | |
presste auch ohne Wehen. Der Unterkörper meiner Tochter wurde geboren. Ihre | |
Beine baumelten zwischen meinen Schenkeln hin und her, und der unglaubliche | |
Schmerz, den jede ihrer Bewegungen verursachte, wurde nur von meiner Angst | |
betäubt. Ich presste und presste. Doch es ging nicht weiter. „Sie müssen | |
jetzt schon mal ein bisschen helfen,“ rief mir die Assistenzärztin vom | |
Fußende zu. „Sie helfen der Mutter nicht“, fauchte die Hebamme sie an. | |
6.26 Uhr: Keine Herzfrequenz, keine Atmung, kein Tonus, keine Reflexe | |
„Also wenn Sie nicht wollen, dass Ihr Kind stirbt, dann drehen sie sich | |
jetzt auf den Rücken“, sagte der Oberarzt aus der zweiten Reihe, kam aufs | |
Bett zu und krempelte die Ärmel hoch. „Wie denn?“, fragte ich verzweifelt. | |
Wie sollte ich es anstellen, mit all der Verkabelung aus dem | |
Vierfüßlerstand auf den Rücken zu gelangen, ohne das Kind zu zerdrücken? | |
Doch kein Wort der Anleitung oder Beruhigung. Irgendwie schaffte ich es, | |
und der Oberarzt legte sich auf meinen Bauch und drückte. Endlich folgten | |
Oberkörper und Kopf. Dann Stille. | |
6.31 Uhr: Herzfrequenz: 130, keine Atmung, kein Tonus, keine Reflexe. | |
Alles, was ich zurückbehalte, ist ein Streifen Käseschmiere auf meinem | |
Oberschenkel. Niemand informiert uns in der kommenden Stunde, ob dieses | |
kleine blaue Wesen, das so kurz meinen Schenkel berührt hat, lebt. | |
Die Hebamme, die bei mir ist, als ich die Plazenta herauspresse, weiß so | |
wenig wie wir. Irgendwann hilft sie mir behutsam auf die Beine und schiebt | |
das blutüberströmte Bett aus dem Raum. | |
Auf dem Gang rollt gerade der Inkubator mit meiner nackten, auf einer | |
Kühldecke gelagerten Tochter vorbei, die in ein anderes Krankenhaus | |
gebracht werden soll. Sie hat zwei Schläuche in der Nase. Ihre Augen sind | |
immer noch geschlossen. | |
7.00 Uhr: Herzfrequenz: 135, Atmung: 1, Tonus: 1, Reflexe: 0 | |
„Reden Sie mit ihr“, sagt die Hebamme und blickt auf unsere Tochter. In | |
diesem Moment kommt mein Freund herein. Er war draußen, hatte es nicht | |
mehr ausgehalten in dem kleinen Kreißsaal. Später erzählt er, dass es | |
unwirklich schön gewesen sei am frühen Morgen in der warmen Sonne draußen | |
am Kanal. Wie gerne würde ich meiner Tochter etwas sagen, aber ich stehe da | |
in einer Pfütze aus meinem eigenen Blut, und mir fällt nichts ein. | |
Ich sehe mich von oben. Alle schauen mich an. Die Stille ist schwer zu | |
ertragen. Endlich sagt mein Freund laut und deutlich ihren Vornamen. Sie | |
sollte nicht anonym ins andere Krankenhaus verlegt werden, sagt er mir | |
später, sie sollte nicht anonym sterben. | |
Wir dürfen unsere Tochter nicht begleiten. Mein Freund bekommt einen rosa | |
Post-it mit der Adresse der Klinik, in die sie verlegt wird. Da stehen wir, | |
ohne unsere Tochter, aber mit einem Post-it. „Ruhen Sie sich erst mal aus, | |
in zwei Stunden rufen wir da an und fragen, ob die ein Zimmer für Sie | |
haben. Sieht aber momentan nicht danach aus.“ Wir entlassen uns selbst und | |
fahren hinterher. | |
Zwei Tage später sitzen wir am Bett unserer auf 33 Grad heruntergekühlten | |
Tochter und halten ihre Füße. Streicheln oder hochnehmen dürfen wir sie | |
nicht. Zwischendurch gehe ich in unser Zimmer (das erstaunlich schnell frei | |
war, als wir sagten, dass wir den Einzelzimmerzuschlag zahlen würden), um | |
abzupumpen. Meine Tochter bekommt Muttermilch über eine Magensonde. | |
Plötzlich wird die Tür aufgerissen, und das Ärzteteam der Klinik, in der | |
unsere Tochter geboren wurde, steht vor mir. Vielleicht sind sie da, um | |
sich zu entschuldigen. Sie sagen es nicht. | |
Stattdessen: „Das ist alles sehr unglücklich gelaufen.“ | |
Und wieder stehen sie über mir. Sie blicken auf mich und meine Milchpumpe | |
herab: der Oberarzt, der nicht da war, und die Assistenzärztin, die im | |
entscheidenden Moment weglaufen wollte. „Wir waren gerade bei ihrer | |
Tochter, sie scheint ja jetzt recht stabil.“ | |
Alles, was ich in diesem Moment denke, ist: Wer hat euch eigentlich | |
hereingebeten? Wer hat euch eigentlich erlaubt, sie zu sehen? Warum hat | |
mich keiner gefragt, ob ich damit einverstanden bin? | |
Aber das sage ich nicht. Ich bleibe höflich. Ich schüttele Hände. „Wir | |
sollten in Kontakt bleiben“, sagt der Oberarzt noch. | |
Wir haben uns nie wieder bei ihm gemeldet. | |
25 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Imke Ankersen | |
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