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# taz.de -- Kolumne American Pie: Das Monster im Arztkittel
> Sexuelle Übergriffe im Turnen, Volleyball und Schwimmen: Wie der US-Sport
> von einem weiteren Missbrauchsskandal erschüttert wird.
Bild: Die Final-Five-Turnerinnen beim Feiern. Auch in ihren Kreisen gab es sexu…
Alle vier Jahre wieder verlieben sich die Amerikaner ins Frauenturnen.
Dann, wenn Olympische Sommerspiele anstehen, schreiben die Turnerinnen die
schönsten, die rührseligsten Geschichten. Bei den Schwimmern und in der
Leichtathletik mögen mehr Medaillen klimpern, aber die kleinen, scheinbar
zerbrechlichen Athletinnen, die sich durch Schmerzen kämpfen, um
atemberaubende Kunststücke vorzuführen, rühren das Herz des amerikanischen
Fernsehzuschauers. Umso bewegter ist die Öffentlichkeit, dass ausgerechnet
ihr geliebtes Turnen seit Monaten von einem Missbrauchsskandal erschüttert
wird.
Am 22. November soll nun endlich der Prozess gegen Larry Nassar beginnen,
der im Zentrum des Skandals steht. Der 54-Jährige soll in seinen
langjährigen Tätigkeiten als Arzt an der Universität von Michigan State und
als Team-Doktor der US-Riege nicht nur Turnerinnen sexuell belästigt und
missbraucht haben. Mehr als 130 Frauen haben mittlerweile Klage gegen
Nassar eingereicht, die meisten waren minderjährig, als sie missbraucht
wurden. Während seiner sogenannten Massagen penetrierte der Arzt die
Turnerinnen vaginal und anal mit der Hand, viele Opfer hielten die sexuelle
Gewalt für Teil der medizinischen Behandlung. Tatsächlich hat Nassar in
Vernehmungen zugegeben, Tausende solcher Behandlungen durchgeführt zu haben
– zur Entspannung des Beckenbodens. In einem separaten Prozess, für den das
Urteil am 7. Dezember erwartet wird, hat Nassar bereits den Besitz von
Kinderpornografie gestanden.
Unter den Opfern, die bislang an die Öffentlichkeit gingen, sind viele
Medaillengewinnerinnen und mit Aly Raisman und McKayla Maroney auch zwei
Mitglieder der legendären „Fierce Five“, die 2012 in London Teamgold
gewannen. „Die Olympischen Spiele waren mein Traum“, sagt die mittlerweile
21-jährige Maroney, „aber um dorthin zu kommen, musste ich Dinge ertragen,
die unnötig und widerlich waren.“ Raisman, Kapitänin der siegreichen Riegen
von London und Rio de Janeiro 2016, bezeichnete Nassar als „Monster“. Die
23-Jährige stellt die entscheidende Frage: Wie konnte es passieren, dass
der Teamarzt jahrzehntelang sein Unwesen treiben konnte?
Tatsächlich haben die Recherchen von Medien ergeben, dass Nassar nicht der
einzige Sexualtäter war, der im amerikanischen Turnsport sein Unwesen
trieb. Deborah Daniels, die eine Untersuchung des Skandals im US-Verband
leitete, sagte im Juni: „Das Klima in einem olympischen Hochleistungssport
sorgt dafür, dass unangemessenes Verhalten nicht gemeldet wird.“
Tatsächlich sagt Raisman, sie hätte Nassars Übergriffe bereits direkt nach
den Spielen 2016 beim Verband angezeigt – passiert aber ist monatelang
nichts. Schon 2014 wurde die Anzeige einer Michigan-State-Studentin
abgeschmettert: Das Gericht meinte, Nassars Übergriff sei „medizinisch
legitimiert“ gewesen.
## Kultur des Wegschauens
Sexueller Missbrauch ist offensichtlich nicht nur im Turnen ein Problem.
Auch Volleyball und [1][Schwimmen] wurden in den vergangenen Jahren von
Skandalen erschüttert. [2][Die Washington Post] recherchierte in
Gerichtsdokumenten, Medienberichten und schwarzen Listen von Sportverbänden
– und trug zusammen, dass seit 1982 mehr als 290 Trainer und Funktionäre
aus 15 olympischen Sportarten in den USA öffentlich des sexuellen
Missbrauchs beschuldigt wurden.
Außerdem stellte die Zeitung fest, dass es in den Sportverbänden nicht nur
eine weit verbreitete Kultur des Wegschauens und der Vertuschung gibt,
sondern bis vor Kurzem schlicht auch die institutionellen Werkzeuge
fehlten, solche Verbrechen zu verhindern oder wenigstens melden und
aufdecken zu können. Erst in diesem Jahr hat das USOC, das Olympische
Komitee der USA, einer unabhängigen Institution die Aufklärung von
sexuellem Missbrauch überlassen. Auch Präventionsmaßnahmen hat das USOC
verpflichtend erst 2014 eingeführt. Ebenso wie die Vorschrift, dass bei
Neueinstellungen von Trainern ein polizeiliches Führungszeugnis eingeholt
werden muss. Bis dahin hatten die meisten Verbände mit dem Argument, man
könne sich die 20 Dollar pro Zeugnis nicht leisten, darauf verzichtet.
Immerhin: Dass Nassar verurteilt werden wird, dürfte klar sein. Fraglich
ist wohl nur, wie hoch seine Strafe ausfällt. Möglich ist sogar ein
lebenslanger Freiheitsentzug. Spannend wird aber vor allem, ob in dem
Prozess auch die Vertuschung und die tatsächlichen Ausmaße des Skandals
thematisiert werden. War der Missbrauch strukturell begründet? Ist es wahr,
dass auffällig gewordene Trainer einfach versetzt wurden und an anderer
Stelle weiter missbrauchen durften? Wird womöglich auch die Rolle von
hochrangigen Funktionären wie Steve Penny, bis zu seinem Rücktritt im März
Präsident des Turnverbands, durchleuchtet?
21 Nov 2017
## LINKS
[1] /Sexueller-Missbrauch-im-US-Schwimmen/!5028164
[2] https://www.washingtonpost.com/sports/every-six-weeks-for-more-than-36-year…
## AUTOREN
Thomas Winkler
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