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# taz.de -- Sexuelle Gewalt gegen Transfrauen: Trans-Morde sind politische Morde
> Transfrauen in der Türkei sterben durch die Hand transphober Männer.
> Schuld hat auch ein System, das ausschließt und stigmatisiert.
Bild: Bei Tageslicht konnten LGBT 2011 auf der Pride in Istanbul noch feiern, b…
Letztes Jahr, am ersten Tag des Opferfests, griffen uns 40 Männer mit
Säbeln, Stöcken und Messern in unserer Wohnung im Istanbuler Stadtteil
Avcılar an. Sie wollten uns töten. Wir, fünf Transfrauen, haben versucht,
uns, so gut es ging, zu wehren. Genau 53 Minuten später traf ein Wagen der
Istanbuler Polizei am Tatort ein. Mithilfe der Polizisten konnten wir in
letzter Minute aus der Wohnung entkommen. Die Polizei nahm die Angreifer
fest, aber als wir in der Dienststelle ankamen, um auszusagen, waren nur
noch drei von ihnen da. Die männlichen Polizisten des männlichen Staates
hatten die Täter, die uns mit Säbeln bedroht hatten, einfach wieder
entlassen.
Später sollte ich im Gesprächsprotokoll der Polizei lesen, dass ich und
meine Freundinnen die Angreifer ihrer Freiheit beraubt, sie körperlich
angegriffen und ihnen mit Mord gedroht hätten. Am Ende waren wir es, die
angeklagt wurden.
Die meisten Transfrauen in der Türkei leben in Istanbul und den anderen
Großstädten, man trifft sie jedoch in nahezu jeder Stadt des Landes. Aber
im Gegensatz etwa zu Nordamerika oder Großbritannien werden Transmenschen
in der Türkei nicht geschützt. Ihre Existenz wird ihnen abgesprochen, ihre
Lebenswirklichkeit bleibt in grundlegenden Bereichen wie Bildung,
ärztlicher Versorgung, Arbeit- und Wohnrecht und dem Zugang zu sozialen
Rechten unerwähnt.
Transfrauen sind auch innerhalb der LGBTI-Bewegung diejenigen, die am
meisten mit Ausgrenzung und Diskriminierung zu kämpfen haben. Viele von
ihnen müssen als Sexarbeiterinnen arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu
verdienen. Auf den Straßen, im Internet, in den Clubs, in Bruchbuden an
abgelegenen Straßen müssen sie leben und arbeiten. Sicher gibt es auch
Frauen, die mitten im Leben stehen und Karriere machen. Das ist aber eher
die Ausnahme als die Regel.
Dazu kommt die ständige Gefahr, ermordet zu werden. Trans-Morde sind kein
Zufall, sie sind systematische, politische Morde. 2011 legten Faschisten in
Avcılar, im selben Ort, in dem auch wir überfallen wurden, einen Brand in
einem Hochhaus. In diesem Haus lebten 36 Transfrauen. Auch wenn es
Ermittlungen gegen die Angreifer gab – es gab nie eine Anklage.
## Wer auf der Straße lebt, stirbt schnell
Während eines Aufruhrs am Rande dieses Vorfalls versiegelten die Behörden
in dem Viertel monatelang die Wohnungen von mehreren Transfrauen, die
Bewohnerinnen wurden obdachlos. Die offizielle Begründung: Sie machen
Sexarbeit. Einige dieser Frauen zogen innerhalb Istanbuls um oder gleich in
andere Städte. Vier von ihnen aber lebten und arbeiteten von da an auf der
Straße. Diese vier Frauen wurden später von Männern umgebracht.
Was dieses Beispiel zeigt, ist das Zusammenspiel zwischen transphoben
Männern, die angreifen, und dem Staat, der diese Frauen nicht beschützt,
sondern sie aus ihren Wohnungen wirft.
Leider sind nicht nur Trans-Morde selbst, sondern auch die
Berichterstattung darüber in der Türkei ein Problem. Worauf sich die
regierungsnahen und die oppositionellen Medien einigen können, ist ihre
Transphobie. Egal wie sozialistisch, kommunistisch und intellektuell die
Journalist*innen auch sind, Transphobie ist in den Medien weit verbreitet.
Auch wenn die rechte Zeitung Yeni Akit einer der Hauptverantwortlichen für
transphobe Berichte sein mag – auch die prestigeträchtigste Zeitung unter
den oppositionellen Medien, die Cumhuriyet, druckt transphobe Headlines. So
berichtete die Zeitung in diesem Jahr über den Tod eines Freiers in der
Wohnung einer Transfrau. Der verstorbene war ein Cis-Mann; er
identifizierte sich also mit dem männlichen Geschlecht, das ihm bei der
Geburt zugeschrieben wurde. Der Reporter schrieb: „Gegen Geld war er mit
einem Transvestiten zusammen und starb. Die Polizei konnte die Familie des
Opfers nicht benachrichtigen.“ Die Sexarbeiterin wird hier zu einem
Transvestiten erklärt, ihre Identität als Transfrau wird verleugnet und zum
Lifestyle herabgestuft. Und offenbar war der sexuelle Kontakt des Toten zu
dieser Frau so schmutzig und schambehaftet, dass man die Familie
keinesfalls darüber informieren konnte.
2012 schrieb der Autor Soner Kocaer in der Cumhuriyet: „In der vergangenen
Nacht wurde die Transvestitin Serap, mit bürgerlichem Namen Mustafa Serkan
Güneşer, beim Trampen durch einen Stich ins Herz getötet.“ Neben dem
weiblichen Namen der Transfrau nannte Kocaer den männlichen Geburtsnamen –
und betonte dadurch, dass das Opfer eigentlich ein Mann sei. Ein weit
verbreiteter Gedanke, der Transfrauen ihre Identität abspricht. Statt als
Frauen werden sie als gestörte Männer betrachtet.
Doch es sind nicht nur die klassischen Medien – auch Diffamierungen in
sozialen Netzwerken befördern Straftaten, deren Motiv Hass ist.
Auf ihrem Instagram-Account etwa postete eine Nutzerin 2015 ein selbst
gedrehtes Video einer Transfrau, die sich auf der bekannten Promenade
Bağdat Caddesi in Istanbul prostituierte, und zwar ohne deren Einwilligung.
Kurz danach wurde an der gleichen Stelle eine andere Transfrau angegriffen.
Sie musste schwerverletzt ins Krankenhaus.
## Geringe Strafen für Chauvinisten
Manchmal werden die Mörder von Transmenschen verhaftet, vor Gericht
gestellt und bestraft. Allerdings erhalten sie in den meisten Fällen das
niedrigste Strafmaß. Vor Gericht ziehen sie ihre besten Anzüge an und
verkünden: „Sehr verehrter Herr Gerichtsvorsitzender, ich bin Türke, Muslim
und ein Enkel der Osmanen. Mir ist das alles ganz fremd, ich dachte zuerst,
es sei eine Frau“. Für ihre chauvinistische und Männer verherrlichende Art
werden sie mit einer geringen Strafe belohnt.
Doch selbst innerhalb der aktivistischen Szene gibt es Probleme. Von der
Lebenskraft, der Solidarität und dem Organisationsvermögen der
Frauenbewegung etwa ist in der Aktivismusszene der LGBTI nichts zu ahnen.
In den LGBTI-Vereinen und Organisationen drehen sich die Diskussionen
hauptsächlich um die Betroffenheiten und Probleme schwuler Männer.
Transgender- und Intersexpersonen haben mit männlicher Dominanz und mit
einem problematischen Klassenverständnis zu kämpfen: Viele der schwulen
Männer in der Szene haben einen höheren Bildungsstand. Ihre besseren
Chancen auf dem Arbeitsmarkt liegen aber auch an den Privilegien, die sie
als Cis-Männer genießen: Wenn schon keine Heteros, sind sie doch immer noch
Männer. In der Gesellschaft werden sie eher toleriert als Trans- und
Intersexpersonen.
Ich glaube, dass der Kampf für die Freiheit auf der Straße gekämpft wird
und nicht in den Veranstaltungsräumen von Fünfsternehotels. Das
Aktivismusverständnis der Bourgeoisie ist nichts für mich.
Als 40-jährige Transfrau habe ich gelernt, dass die Moral und der Anstand
einer Gesellschaft nach Einbruch der Dunkelheit nichts mehr zählen. Wenn
auf den Straßen weniger los ist, verstecken sich die Sünden im Schutz der
Dunkelheit, bis die Sonne wieder aufgeht. Aber wenn ihr fragen würdet, dann
sind natürlich die schlimmsten und unmoralischsten Mitglieder der
Gesellschaft die Transfrauen.
Emma Sinclair Webb, die Türkei-Direktorin von Human Rights Watch, verfasst
regelmäßig Berichte. Darin geht es um die Rechtsverletzungen gegen die
kurdische Bewegung, gegen oppositionelle Kräfte und Medien.
Und ich habe Hoffnung. Denn wenn es irgendwann mal in Istanbul rote Rosen
regnen sollte, wird Webb die Diskriminierung, der Transgenderpersonen
ausgesetzt sind, in ihre Berichte aufnehmen – und auch die Trans-Morde.
Übersetzung: Ebru Taşdemir
22 Nov 2017
## AUTOREN
Michelle Demishevich
## TAGS
Türkei
taz-Serie Sexuelle Gewalt
Transgender
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