# taz.de -- Gehörlose Geflüchtete aus der Ukraine: Endlich dürfen sie bleiben | |
> Die wochenlange Ungewissheit hat ein Ende: Die Gruppe von 180 gehörlosen | |
> Flüchtlingen wird in Berlin unterkommen. Ihre Behandlung war skandalös. | |
Bild: Einige der 180 Geflüchteten bei einem Termin beim Sozialamt Pankow | |
BERLIN taz | Auf dem Zettel ist ein Piktogramm mit einem Koffer, einer | |
Gruppe Menschen und einem Pfeil, der auf einen Bus zeigt, zu sehen. Darüber | |
steht „Auszug aus der Aufnahmeeinrichtung Groscurthstr.“ und das Datum von | |
diesem Freitag, 13 Uhr. Mehr Informationen gibt es nicht. Als die Gruppe | |
gehörloser ukrainischer Kriegsflüchtlinge die Nachricht am Donnerstag | |
erhält, ist die Panik groß. Wohin sollen sie am nächsten Tag gebracht | |
werden, werden sie nun doch getrennt und müssen weg aus Berlin? | |
Die 35 Geflüchteten in der Containerunterkunft in Buch sind Teil der | |
[1][ursprünglich aus 180 Personen bestehenden Gruppe Gehörloser,] die Ende | |
Februar aus der Ukraine nach Berlin geflohen sind. Zunächst wurden sie in | |
einem Hotel untergebracht; Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska | |
Giffey (SPD) versprach, dass sie als Gruppe gemeinsam in Berlin bleiben | |
dürfen, weil es hier bundesweit die besten Strukturen für Gehörlose gebe. | |
Für die Kinder gab es schon Zusagen für eine Gehörlosenschule im Westend, | |
einige Erwachsene hatten Arbeitsplätze in Aussicht. | |
Dann kam Ende März der Schock: Ein Mitarbeiter des Landesamts für | |
Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) eröffnet ihnen, dass sie nicht in Berlin | |
bleiben, sondern nach Köln weiterreisen sollen. Auch dort gebe es | |
Gehörlosen-Kitas und -Schulen und einen Verband, der sich kümmern würde, | |
hieß es. | |
Einen Gebärdendolmetscher gab es laut Clara Belz, Flüchtlingsbeauftragte | |
des Gehörlosenverbands Berlin, der sich um die Menschen kümmert, nicht. Die | |
Menschen seien verängstigt gewesen, es habe keine Zusage gegeben, dass sie | |
zusammen bleiben können. Wegen der russischen Gebärdensprache, die niemand | |
sonst hier spreche, ist die Gruppe laut Belz jedoch aufeinander angewiesen. | |
Ein Großteil weigerte sich, zu gehen, nur 18 Personen fuhren nach Köln. 85 | |
Gehörlose wurden daraufhin im Containerdorf in Buch untergebracht, der Rest | |
kam laut Berliner Flüchtlingsrat privat unter. Auf einer | |
Informationsveranstaltung an diesem Montag wurde den Geflüchteten dann | |
mitgeteilt, dass nur diejenigen, die eine Zusage für eine Wohnung für | |
mindestens 6 Monate, eine Arbeit oder Verwandte in der Stadt haben oder | |
einen medizinischen Notfall nachweisen können, in Berlin bleiben dürfen. | |
Rund 50 der gehörlosen Geflüchteten registrierten sich daraufhin im Laufe | |
dieser Woche in Tegel und erfüllten die Voraussetzungen. Sie wurden | |
anschließend in einer anderen Unterkunft untergebracht, „mit besserem | |
Brandschutz und eigenen Kochmöglichkeiten“, wie die Senatsverwaltung für | |
Integration mitteilt. Die verbliebenen 35 blieben in Buch und erhielten den | |
Zettel mit dem Piktogramm mit dem Koffer und dem Bus. | |
Am Freitag, anderthalb Stunden vor dem angekündigten Auszug, erhält die | |
Heimleitung dann eine Mail von der Senatsverwaltung, die sie in der | |
Unterkunft aushängen soll. Darin heißt es: „Die Mehrheit von Ihrer Gruppe | |
hat die Bleibekriterien erfüllt. Um das Ihnen gegebene Versprechen, | |
zusammenbleiben zu können, einzuhalten, hat Senatorin Katja Kipping | |
entschieden, dass die anderen 35 Personen ebenfalls auf Berlin zugewiesen | |
werden. Sie können also alle in Berlin bleiben.“ | |
„Uns alle hat in den letzten Wochen das Schicksal der Gruppe der gehörlosen | |
Geflüchteten aus der Ukraine beschäftigt“, teilt Sozialsenatorin Kipping | |
(Linke) kurz darauf mit. „Bei der Suche nach einer Lösung befanden wir uns | |
die ganze Zeit in einem Spannungsfeld zwischen verschiedenen Anforderungen: | |
einerseits den klaren Kriterien für die Verteilung nach Berlin, | |
andererseits der aus guten Grund gegenüber der Gruppe gemachten Zusage, | |
dass sie zusammenbleiben können.“ | |
## Kein Präzedenzfall, stellt die Senatorin klar | |
Nun, da 60 Prozent der Gruppe die Bleibekriterien erfülle, habe sie | |
entschieden, dass die übrigen ebenfalls in Berlin bleiben können. Das gilt | |
allerdings nicht für alle gehörlosen Geflüchteten: „Diese Entscheidung | |
betrifft ausdrücklich die noch verbliebenen 35 Mitglieder der Gruppe in der | |
Unterkunft Großcurthstraße. Es handelt sich nicht um eine | |
Präzedenzentscheidung für weitere gehörlose Geflüchtete“, stellt Kipping | |
klar. | |
Georg Classen vom Flüchtlingsrat Berlin sieht darin eine strukturelle | |
Diskriminierung von behinderten Geflüchteten. „Es wird überhaupt keine | |
Rücksicht genommen auf die Bedarfe, sie werden einfach in den Bus gesetzt | |
und irgendwohin gebracht, ohne zu berücksichtigen, ob dort Strukturen für | |
Behinderte existieren“, kritisiert er. | |
So seien vier weitere in Berlin angekommene gehörlose Kriegsflüchtlinge aus | |
der Ukraine in ein Dorf in der Nähe von Celle weiterverteilt wurden, wo sie | |
sich zu viert ein winziges Zimmer teilen müssten, völlig abgeschnitten von | |
der Außenwelt. Auch die Geflüchteten in Köln seien bislang weder | |
registriert worden, noch hätten sie Zugang zu | |
Gebärdensprachdolmetscher*innen. Classen fordert, dass besonders | |
schutzbedürftige Geflüchtete wie Behinderte aus dem Verteilsystem | |
ausgenommen werden. | |
Clara Belz vom Gehörlosenverband begrüßt die Entscheidung, hält diese | |
allerdings für längst überfällig. „Es hätte nicht sein sollen, dass die | |
gehörlosen Geflüchteten so zermürbt werden.“ | |
Unter den gehörlosen Geflüchteten selbst ist die Freude am Freitag groß, | |
die Unsicherheit aber auch. Niemand weiß, wohin der Bus sie bringen wird. | |
Dennoch haben sie ihre Sachen gepackt und warten mit Koffern vor der | |
Unterkunft was jetzt passiert. Weder vom LAF noch von der Senatsverwaltung | |
ist jemand erschienen, Dolmetscher*innen gibt es auch keine. | |
Helfer*innen versuchen hektisch, an Informationen zu gelangen. | |
Die Geflüchteten scheinen vor allem froh zu sein, aus der Unterkunft | |
ausziehen zu können. Georg Classen berichtet der taz, dass dort die Küchen | |
abgeschlossen und Herde, Kühlschränke und Spülbecken demontiert worden | |
seien. Die gehörlosen Bewohner*innen müssten Trinkwasser aus dem | |
Nachbarhaus holen und die Gläser auf der Toilette reinigen. | |
## Schikanen durch Security | |
Zudem soll es Schikanen durch Security-Mitarbeitende gegeben haben. Laut | |
Classen hätten sich die Sicherheitsmitarbeiter geweigert, für eine Frau mit | |
Bauchschmerzen einen Rettungswagen zu rufen. Auch sollen sie ohne Erlaubnis | |
in ein Zimmer eingedrungen sein, dort gefilmt und die Bewohner*innen | |
durch Gesten zum Packen und Abreisen aufgefordert haben. | |
Um halb zwei kommt dann ein großer weißer Bus und bringt die verbliebenen | |
gehörlosen Geflüchteten zum Ankunftszentrum nach Tegel. Georg Classen und | |
Clara Belz begleiten sie. „Die Mitarbeiter des LAF wussten von nichts, es | |
gab nur einen ehrenamtlichen Dolmetscher“, berichtet Classen kurz darauf. | |
Den Geflüchteten sei gesagt worden, dass sie nun erst einmal in Tegel | |
bleiben und auf die Zuweisung in andere Unterkünfte warten müssten. | |
Wie lange ist unklar. „Die zuständigen Mitarbeiter seien schon im | |
Wochenende, hieß es“, so Classen. Dabei sei Tegel für die Unterbringung der | |
gehörlosen Geflüchteten denkbar ungeeignet. „Es gibt keine Spinde für ihr | |
Gepäck und keine Türen, die man hinter sich schließen kann. Dabei werden | |
gehörlose Frauen zehn mal häufiger Opfer von sexueller Gewalt.“ | |
29 Apr 2022 | |
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## AUTOREN | |
Marie Frank | |
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