# taz.de -- Geflüchtete an EU-Außengrenze: „Vermummte schlagen auf Leute ei… | |
> Der Europaabgeordnete Erik Marquardt ist auf der griechischen Insel | |
> Lesbos. Er erzählt, dass Rechtsextreme Checkpoints errichtet hätten. | |
Bild: Drei Geflüchtete an einem Strand von Lesbos am 2. März | |
taz: Herr Marquardt, [1][Sie haben mir am Sonntag dramatische Szenen mit | |
Geflüchteten auf Lesbos geschildert.] Jetzt ist ein Tag vergangen. Wie hat | |
sich die Lage verändert? | |
Erik Marquardt: Die Lage auf Lesbos spitzt sich zu, ich kann es nicht | |
anders sagen. Am Montagmorgen ist vor der Insel ein Kind ertrunken, weil 48 | |
Geflüchtete auf einem Boot in Seenot gerieten. Das hat die griechische | |
Küstenwache bestätigt. Es wird aber zunehmend schwieriger, an Informationen | |
zu kommen. | |
Warum ist das so? | |
Rechtsextreme haben auf der ganzen Insel Checkpoints errichtet. Sie greifen | |
JournalistInnen und MitarbeiterInnen von Hilfsorganisationen an – und auch | |
Geflüchtete. Ich habe von Vermummten gehört, die mit Stahlketten auf Leute | |
einschlagen. Entsprechend telefoniere ich hier schon den ganzen Vormittag | |
herum: Wo kann man noch entlang fahren? Wo ist es gefährlich? Welche | |
Gegenden sollte ich besser meiden? | |
Welche Schlüsse ziehen Sie daraus? | |
Unser Bewegungsspielraum ist sehr eingeschränkt. Man kommt hier schnell in | |
gefährliche Situationen. Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen | |
trauen sich nicht mehr, Interviews zu geben, weil sie Angst haben, nachts | |
Besuch zu bekommen. Dabei wären geprüfte Informationen von JournalistInnen | |
wichtiger denn je: Sowohl die türkische als auch die griechische Seite | |
machen ja im Moment Propaganda. | |
Was heißt das für die Geflüchteten? | |
Ihre Lage wird noch unsicherer, als sie eh schon ist. Ein Beispiel: | |
[2][Camp Moria ist das zentrale Aufnahmelager auf Lesbos]. Hier leben | |
20.000 Menschen unter schlimmsten Bedingungen. Sie saßen heute ohne Hilfe | |
da, weil sich MitarbeiterInnen der Hilfsorganisationen nicht mehr raus | |
trauten und lieber zu Hause blieben. Auch die Straßen von und nach Moria | |
sind blockiert. | |
Wie verhält sich die Polizei? | |
Sie lässt die Geflüchteten mit den rechten Mobs allein. Und sie sorgt nicht | |
dafür, dass die Pressefreiheit gewahrt bleibt. Die Polizei sieht oft | |
tatenlos zu, ist aber auch heillos überfordert. Es sind ja nicht nur | |
Rechtsextreme unterwegs. Auch normale Leute schließen sich den Protesten | |
an. Ich kann die Wut der Menschen auch verstehen. Die EU hat die Inseln | |
jahrelang mit der Situation allein gelassen, das war unverantwortlich. Aber | |
das darf natürlich keine Legitimation für Gewalt sein. | |
Sind Sie persönlich in brenzlige Situationen geraten? | |
Am Sonntag gab es eine heikle Szene. Wir wurden von Anwohnern angerempelt | |
und beschimpft, weil wir Fotos von einem Flüchtlingsboot gemacht hatten. | |
Die Polizei nahm daraufhin uns mit auf die Wache, nicht die aggressiven | |
Rempler – und wies uns an, nicht mehr an die Strände zu gehen. Ein Freund | |
von mir, der freie Journalist Michael Trammer, ist von Rechten | |
zusammengeschlagen worden. Er wird die Insel nun verlassen, weil er nicht | |
mehr sicher ist – und Drohungen über Twitter erhalten hat. | |
Warum wollen Sie vorerst bleiben? | |
Ich habe das Gefühl, hier etwas bewirken zu können. Es ist wichtig, den | |
Kontakt zu Behörden nicht abreißen zu lassen. Ich möchte zum Beispiel den | |
Polizeichef von Lesbos treffen. Neutrale Beobachter sind in solchen | |
Situationen wichtig. Ich achte aber darauf, mich nicht in Gefahr zu | |
begeben. Heute habe ich zum Beispiel ein TV-Interview im Norden der Insel | |
abgesagt, weil mir die Fahrt zu unsicher war. | |
Wie bewerten Sie das Verhalten der griechischen Regierung? | |
Die griechische Regierung eskaliert die Situation auf eine | |
unverantwortliche Art und Weise. Sie tut so, als befinde sie sich im | |
Kriegszustand. Man sieht im Fernsehen, wie das Militär Truppenübungen an | |
der Grenze abhält. Panzer fahren, Landungsboote rutschen auf den Strand, | |
Soldaten werfen sich mit Maschinengewehren in den Dreck. Türkische Behörden | |
haben Sky-News ein Video zugespielt, dass das gewalttätige Vorgehen der | |
griechischen Küstenwache gegen Geflüchtete zeigen soll. Ein Schiff rauscht | |
darauf gefährlich nah an einem voll besetzten Schlauchboot vorbei. Leider | |
ist zu befürchten, dass es kein Fake ist. | |
Griechenlands Regierung hat erklärt, dass Asylrecht einen Monat lang | |
auszusetzen. Was halten Sie davon? | |
Das ist eine Bankrotterklärung. Um zu prüfen, ob jemand ein Recht auf Asyl | |
hat oder nicht, gibt es geordnete Verfahren. Die Regierung behauptet nun | |
einfach pauschal, dass alle Geflüchteten keinen Schutz brauchen. Das ist | |
eine Argumentationslinie der extremen Rechten. | |
Juristisch ist diese Position sowieso fragwürdig, oder? Die Genfer | |
Flüchtlingskonvention gilt – unabhängig von Aussagen einer Regierung. | |
Ja, die Aussetzung des Asylrechts ist rechtswidrig. Davon können sich aber | |
die Menschen, um die es gerade geht, nichts kaufen. Sie brauchen jetzt | |
Hilfe und haben wenig davon, wenn Gerichte in ferner Zukunft die | |
griechische Regierung widerlegen. | |
Wie geht die EU aus Ihrer Sicht mit der Krise um? | |
Die RegierungschefInnen der EU agieren naiv. Es war das Ziel von Erdogan, | |
eine krisenhafte Stimmung zu erzeugen. Die EU tut ihm den Gefallen, genau | |
das zuzulassen. Ich habe das Gefühl, die Staats- und Regierungschefs | |
schliddern gerade in eine Situation hinein, in der sie das Leben vieler | |
Menschen aufs Spiel setzen. Wir brauchen rechtsstaatliche Verfahren und | |
einen europäischen Verteilmechanismus für Geflüchtete. Die EU-Staaten, die | |
helfen wollen, müssen vorangehen. | |
2 Mar 2020 | |
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[1] /Gefluechtete-an-EU-Aussengrenze/!5668063 | |
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## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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