| # taz.de -- Gedruckte Zeitungen: Tod eines Kulturguts | |
| > Printzeitungen sterben, und der Demokratie geht es auch nicht besonders | |
| > gut. Möglicherweise hat das eine doch etwas mit dem anderen zu tun. | |
| Bild: Telefonierer, Zeitungsleser, Postbote: Um Nostalgie geht’s beim Tod der… | |
| Zeitungen sind unabdingbar für alle Arten von Regierungen in der Neuzeit. | |
| Es sind zunächst Anweisungen der Obrigkeit an die Untertanen. Und Zeitungen | |
| wurden immer mehr auch zu Echokammern. Der Fürst erfährt hier, was das Volk | |
| denkt (jedenfalls solange er die Zeitung nicht verbieten lässt), und das | |
| Volk erfährt hier, was der Fürst denkt (oder jedenfalls was es von den | |
| Gedanken des Fürsten halten soll). Zeitungen wurden zum Instrument der | |
| Unterdrückung und zum Instrument des Widerstandes. Und nicht zuletzt wurden | |
| Zeitungen zu semiotischen Maschinen. Sie berichten und kommentieren nicht | |
| nur, sie erschaffen auch die dafür notwendige Sprache. [1][Wir verlangen | |
| nach Zeitungen,] die sprechen wie wir, und wir sprechen wie unsere | |
| Zeitungen. | |
| Aber Zeitungen sind nicht nur ein Kommunikationsmittel zwischen Regierung | |
| und Gesellschaft, das Mittel, mit dem man sich gnädig belügt und mit dem | |
| schmerzhafte Wahrheiten verbreitet werden. Sie wurden auch zu einer | |
| bedeutenden Kulturtechnik. [2][Während man zeitungsförmig miteinander | |
| kommuniziert, lernt man auch, mit Zeitungen umzugehen.] Kritisch und | |
| alltäglich. Denn im Gegensatz zum Blick auf das Smartphone ist das | |
| öffentliche Zeitunglesen quasi melodramatisch. | |
| Es besetzt einen Teil im öffentlichen Raum, und wie einer faltet und die | |
| andere hinlegt, wie man von hinten nach vorn oder in der Mitte beginnt, wie | |
| man in die Zeitung des Nachbarn schielt oder wie man zur Zweitleserin wird, | |
| all das sind – oder waren – Rituale des Alltagslebens, Charakterstudien, | |
| Schauspiele. Von den Spionen ganz zu schweigen, hinter einem Mobiltelefon | |
| kann man keinen Schlapphut verbergen. | |
| Und dann die Kioske und die Läden, in denen man Zeitungen gekauft hat. | |
| Stapelweise oder aufgehängt; es waren die Kioske, die einst Straßenblocks | |
| strukturierten und an denen herumgestanden wurde. Abends in den Kneipen | |
| konnten sich Leute mit dem Verkauf der gerade frisch gedruckten Zeitungen | |
| etwas Geld verdienen. Schon die Automaten, an denen die Menschen sich mit | |
| gedruckten Nachrichten für die U-Bahn-Fahrt versorgten, waren da ein | |
| Einschnitt in der urbanen Geschichte der Zeitung und des Zeitunglesens. | |
| Machen wir uns nichts vor. Mit dem [3][Verschwinden der gedruckten Zeitung] | |
| wandern nicht einfach nur die Nachrichten von einem Medium ins andere, sie | |
| verändern ihr Wesen, und das meint nicht nur die wachsenden | |
| Schwierigkeiten, diese gottverdammten Werbungen zwischen den Absätzen | |
| wegzuklicken. Es verschwindet auch eine Art, mit Nachrichten öffentlich | |
| umzugehen, und es verschwindet eine Art, wie Nachrichten im öffentlichen | |
| Raum unterwegs sind. Die Nachrichten sind jetzt noch mehr Privatsache | |
| geworden, und noch weniger gehören sie zu einer mehr oder weniger fixen | |
| Position im endlosen Dialog zwischen der Regierung und den Regierten. | |
| ## Eine Zeitung übte auf haptische Weise Macht aus | |
| Es gab Zeitungen, die ließen ihre Leserinnen und Leser spüren, was das | |
| bedeutet, dass wir, die Leute, der eigentliche Souverän sind in einem | |
| demokratischen Staat. Eine Zeitung schien etwas, das auf eine haptische, | |
| materielle und so oder so moralische Weise die Macht ausdrückte. Und den | |
| Kampf um sie. | |
| Als Element von Kritik und Kontrolle waren Zeitungen ein wichtiger | |
| Bestandteil der Gewaltenteilung in der Demokratie. Allerdings | |
| funktionierte das nie so, wie man es sich als aufklärerisches Ideal | |
| vorstellen konnte. Denn im mehr oder weniger goldenen Westen musste die | |
| Presse im Allgemeinen, die Zeitung im Besonderen immer auch einen weiteren | |
| Widerspruch ausdrücken, nämlich den zwischen Demokratie und Kapitalismus. | |
| Die Nachricht war immer zugleich Botschaft und Ware. [4][Und eine Zeitung | |
| war immer auch eine soziale Waffe.] Man konnte Kriege und Bürgerkriege | |
| damit anzetteln, Stimmungen mehr in die fortschrittliche oder in die | |
| konservative Richtung lenken oder einfach bösartigen Blödsinn verbreiten. | |
| Es kommt auf den Markt an, und mehr noch kommt es auf die Macht an, die | |
| sich ein paar Leute auf ihm erobert haben. Vor der Pressekonzentration | |
| wurde einst gewarnt; heute kann man sich allenfalls fragen, ob es eine | |
| besonders gute Idee für die Demokratie ist, die Information der Bevölkerung | |
| ein paar Superreichen und Konzernen zu überlassen, die an Profiten so viel | |
| Interesse haben wie an Propaganda für Verhältnisse, die sie reich und | |
| mächtig gemacht haben. | |
| Notgedrungen drückten Zeitungen schließlich neben dem Widerspruch zwischen | |
| Regierung und Regierten und dem zwischen Demokratie und Kapitalismus auch | |
| den Widerspruch zwischen demokratischer und populistischer Teilhabe aus. | |
| Lange bevor es den rechtspopulistischen und rechtsextremen Bewegungen und | |
| Parteien gelang, in die Vorhöfe der Macht vorzudringen, hatten die | |
| Zeitungen – oder ein Typus von Zeitung immerhin, so zwischen Bild und The | |
| Sun – verstanden, ein Drama der Konkurrenz zwischen den liberalen „Eliten“ | |
| und der „Stimme des Volkes“ zu entwickeln. Und auch da hatten Zeitungen als | |
| Schöpfer von Sprache und Begriffen gewirkt. Die Sprache der AfD, nur als | |
| Beispiel, ist ohne die Sprache der Bild-Zeitung nicht vorstellbar. | |
| ## Akzelerierter Strukturwandel | |
| Um Nostalgie geht’s beim Tod der Zeitungen also eher weniger. Was das | |
| anbelangt, werden wir uns alte Filme mit warmem Behagen anschauen, in denen | |
| Leute sich Zeitungen am Kiosk kaufen oder hastig durch eine Zeitung | |
| blättern, auf der Suche nach der alles entscheidenden Nachricht. Oder der | |
| hyperbedeutsamen Kritik, so wie wir heute alte Filme lieben, in denen | |
| Kriminalkommissare im Straßeneinsatz zum Telefonieren in eine Bar gehen | |
| mussten. | |
| Es geht um die Erkenntnis, dass wir es womöglich nicht bloß mit einem | |
| Medienwechsel (wie von einer VHS-Kassette zum Streaming) zu tun haben (was | |
| kulturell auch nicht unerheblich ist), sondern um einen akzelerierten | |
| Strukturwandel der Nachricht in Demokratie und Kapitalismus. Die Zeitungen | |
| sterben, der Demokratie geht es auch nicht besonders. Vielleicht hat das | |
| eine doch etwas mit dem anderen zu tun. | |
| 9 Oct 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Happy-Midlife-Crisis--45-Jahre-taz/!6001773 | |
| [2] /Fotoserie-Zeitungsleserinnen/!6028532 | |
| [3] /taz-Genossen-stimmen-Seitenwende-zu/!6036349 | |
| [4] /Gedruckte-Zeitungen/!6033925 | |
| ## AUTOREN | |
| Georg Seeßlen | |
| ## TAGS | |
| Zeitung | |
| Online | |
| Lesen | |
| Demokratie | |
| Social-Auswahl | |
| Schlagloch | |
| Schwerpunkt Zeitungskrise | |
| taz in der Midlife-Crisis? | |
| Schwerpunkt Zeitungskrise | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Unbequeme Kleidung: Die Macht der Hosen | |
| Politik und Wirtschaft sind von unbequemen Hosen geprägt. Das muss sich | |
| ändern. Eine neue Hosenkultur könnte viele globale Probleme lösen. | |
| taz-Genossen stimmen „Seitenwende“ zu: Bloß nicht in Schönheit sterben | |
| Als erste überregionale Tageszeitung beendet die taz unter der Woche das | |
| Drucken. Die Versammlung der taz-Genoss:innen akzeptierte den Schritt nach | |
| lebhafter Aussprache. | |
| Happy Midlife-Crisis – 45 Jahre taz: Was ist nur aus der taz geworden? | |
| Die taz wollte immer anders sein als andere Zeitungen. Was ist 45 Jahre | |
| nach der Gründung aus dem Schwung der Anfangsjahre geworden? | |
| Ende der Sonntagszeitungen: Nur noch am Tablet | |
| An Ostern gibt es die Wochenendausgaben von gleich zwei Berliner Zeitungen | |
| zum letzten Mal: Tagesspiegel und Morgenpost. Sonntagszeitungen sind out. |