| # taz.de -- Frühere Chefredakteurin zu „Charlie Hebdo“: „Kein Prozess de… | |
| > Nach dem „Charlie Hebdo“-Anschlag trauerten Millionen Franzosen. Nun | |
| > beginnt der Prozess. Von Einheit sei man weit weg, sagt die frühere | |
| > Chefin der deutschen Ausgabe. | |
| Bild: Nach den Anschlägen auf die Redaktion gingen in Paris 1,5 Millionen Mens… | |
| taz: Frau Straßenburg, am 11. Januar 2015 gingen in Paris 1,5 Millionen | |
| Menschen gegen islamistischen Terror auf die Straße, in ganz Frankreich | |
| waren es 3,7 Millionen. Alle waren „Charlie“. Was ist davon geblieben? | |
| Romy Straßenburg: Wer an diesem „Marsch der Republik“ teilgenommen hat, | |
| erinnert sich sehr gut an die heilende Wirkung dieses Tages, an das Gefühl, | |
| der Angst und Ohnmacht etwas entgegensetzen zu können. Allerdings waren die | |
| Meinungen schon damals differenzierter, als es im Ausland wahrgenommen | |
| wurde. Charlie Hebdo hatte eine kleine Leserschaft, der Humor war nie | |
| massenkompatibel. Trotzdem stand der Name plötzlich für [1][nationale | |
| Einheit, für Solidarität]. Das war jedoch nur eine Momentaufnahme, es fand | |
| kein Prozess der Einigung oder Heilung statt. Im Gegenteil: Der Front | |
| National war weiter stark, Präsident Macron vertiefte nach seiner Wahl die | |
| sozialen Gräben durch neoliberale Politik, und die Polizeigewalt nahm zu. | |
| Warum ist so wenig vom Anfangsgefühl geblieben? | |
| Weil das Jahr 2015 mit seinen großen Fragen zu Identität, Religion und | |
| Terror abgelöst wurde von neuen Fragen, die neue Brüche innerhalb der | |
| Gesellschaft aufgezeigt haben. 2015 sprachen wir von abgehängten jungen | |
| Muslimen in den Vorstädten, die sich radikalisieren und zu Terroristen | |
| werden. Seit Macron sprechen wir wieder mehr von einer weißen, | |
| französischen Unterschicht in den urbanen Randzonen, die keine | |
| Zukunftsperspektive mehr sieht und auch vor Gewalt nicht zurückschreckt. | |
| Daher ist Frankreich von einer sozialen Einheit oder Befriedung wohl noch | |
| weiter entfernt als 2015. | |
| Hat sich die Debatte Laizismus versus Religion in Frankreich verändert? | |
| Die Anschläge auf Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt stellten ja | |
| nicht nur den schmerzhaften Auftakt einer ganzen Reihe von islamistisch | |
| motivierten Verbrechen dar. Sie haben vor allem gezeigt, dass die | |
| französische Gesellschaft nicht ausreichend Integrationskraft besitzt, um | |
| junge Franzosen vor religiöser Radikalisierung zu schützen und dass das zu | |
| einer großen Gefahr werden kann. Das hat den Laizismus ganz entscheidend | |
| infrage gestellt. Wenn durch das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat | |
| alles Religiöse in den Privatbereich verlagert wird, entzieht sich dieses | |
| Feld auch jeder Kontrolle. Für Verteidiger des laizistischen Prinzips waren | |
| die Taten aber genau der Beweis, dass man nur durch republikanische Werte | |
| und Institutionen der Radikalisierung entgegenwirken kann. Im Prinzip haben | |
| sich auf beiden Seiten die Positionen verfestigt. Den Laizismus sehen die | |
| einen als ein Bollwerk, die anderen als ein überbordendes, sogar | |
| gefährliches Prinzip. | |
| Wie wird heute über Pressefreiheit diskutiert? Schließlich gab es nicht | |
| wenige, die „Charlie Hebdo“eine Mitschuld an den Ereignissen gegeben haben | |
| … | |
| Pressefreiheit ist immer wieder ein Thema, klar. Aber auch hier gibt es | |
| keine einhellige Meinung, denn allein das persönliche Level des Zumutbaren | |
| ist ganz unterschiedlich, auch in Humorfragen. Mich hat immer gestört, dass | |
| viele [2][Charlie gleichgesetzt haben mit französischem Humor], dabei | |
| lachen keineswegs alle Franzosen über die Charlie-Karikaturen. Sicher ist | |
| jedoch, dass seit den Anschlägen immer eine besondere Sensibilität | |
| mitschwingt und die Frage, wie blasphemisch man noch sein kann, wenn man | |
| sich damit einer Gefahr aussetzt. | |
| Für wie real halten Sie die Bedrohung durch den radikalen Islamismus für | |
| Frankreich heutzutage? Welche Rolle spielen Frauen hierbei? | |
| Ich glaube, es gibt eine Gefahr, wenngleich die Sicherheitsbehörden in den | |
| letzten Jahren versucht haben, die komplette Szene zu durchleuchten und | |
| Unterstützernetzwerke zu durchbrechen. Der Prozess wird zeigen, dass für | |
| die Logistik der Charlie-Attentate viele Personen nötig waren, wie auch für | |
| die Anschlagsserien am 13. November 2015. Ich hoffe, dass solch eine | |
| Planung heute früher ans Licht käme. Und, ja, Recherchen zeigen, dass | |
| Frauen künftig häufiger terroristische Missionen bekommen könnten, weil sie | |
| weniger im Blickfeld der Sicherheitsbehörden stehen. | |
| Obwohl die Wunden noch immer tief sind, scheint das Interesse an dem | |
| Prozess gering zu sein … | |
| Es mangelt nicht an Interesse. Es gibt nur viele Menschen, die wegen Corona | |
| andere Sorgen und nicht Zeit und Energie haben, sich mit den Ereignissen | |
| von vor fünf Jahren zu beschäftigen. | |
| 2 Sep 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Barbara Oertel | |
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