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# taz.de -- Kolumne Air de Paris: So gut schreiben, dass es wehtut
> Philippe Lancon hat ein Buch über den Tag des Attentats auf Charlie Hebdo
> geschrieben. Er saß damals im Konferenzraum.
Bild: Demonstration gegen Terrorismus in Paris im Januar 2015, nach dem Anschla…
Vor etwa zwei Wochen saß ich mit einer Freundin, einer algerischen Autorin,
zusammen und sprach mit ihr über die neue rentrée. Ich habe schon einmal
über dieses sehr französische Phänomen geschrieben, über den Wahnsinn, der
das lesende Volk befällt; darüber, wie schön es ist, dass man Menschen, die
schreiben und versuchen, Dinge zu verstehen und anderen verständlich zu
machen, wirklich ernst zu nehmen scheint, als hätten sie eine uns
verborgene Wahrheit zu verkünden.
Meine Freundin gehört zu diesen schreibenden Menschen. Sie ist eine, an
deren Bücher man sich wendet, wenn man etwas über Algerien und Frankreich
und das Selbstverständnis einer jungen Frau aus Algier, die in Paris lebt,
erfahren will. Aber um sie ging es jetzt nicht, sondern um die neue
rentrée. Normalerweise läuft die rentrée des Frühlings wesentlich weniger
hysterisch ab als die im Herbst, einfach weil es keine Preise zu gewinnen
gibt. In diesem Jahr macht sie mehr Krach als sonst, was vor allem an einem
Autor liegt.
Eigentlich an zweien. Der zweite wäre Édouard Louis, der Emmanuel Macron
letztens im Radio als Mörder beschimpfte, aber über ihn will ich nicht
sprechen. Der, den ich meine, heißt Philippe Lançon, sein Buch heißt „Le
Lambeau“, übersetzt „Der Fetzen“. Lançon, selbst Journalist, saß bei d…
Anschlags auf Charlie Hebdo am 7. Januar 2015 in jenem Konferenzraum, in
dem die Karikaturisten Cabu, Charb, Wolinski von den Kouachi-Brüdern
erschossen wurden, er verlor dort seinen Unterkiefer.
## Das Buch moralisiert nicht
Heute, drei Jahre und 16 Gesichtsoperationen später, hat er alles
aufgeschrieben. Die Tage davor, in denen er rückwirkend Vorzeichen zu
erkennen versucht, den Anschlag selbst, den er fast unerträglich präzise
beschreibt, das Leben danach. Es ist ein hartes Buch, ein schönes Buch,
eines, über das ich sagen würde, man muss es lesen, weil es anders ist als
all die anderen Bücher, die bisher von Angehörigen und Opfern des
Terrorjahrs 2015 geschrieben wurden. Weil es null moralisiert. Weil es
tiefer geht.
Meine Freundin fand genau das nicht. Sie sagte dann etwas, was mir in
Deutschland nach diesen Anschlägen viele gesagt hatten, nämlich: „Kann man
nicht endlich aufhören, darüber zu reden und zu schreiben? Jetzt reicht’s
doch auch!“
Es mag sein, dass ich etwas verpasst habe, doch wirklich viele Bücher, also
richtige Bücher, nicht nur Plädoyers für ein besseres Zusammenleben und
keinen Hass, sind mir nicht untergekommen. Davon einmal abgesehen fragte
ich mich, fragte ich auch sie: Weshalb sollte man über Ereignisse, die
dermaßen erschütternd waren, die in unseren Köpfen und Gesellschaften Dinge
verschoben haben, deren Nachwehen wir erst viel später begreifen werden,
nicht möglichst viel schreiben?
Also gut und tief schreiben, so, dass es wehtut, so wie Lançon das macht,
in der Hoffnung, vielleicht irgendwann ein bisschen besser zu verstehen?
Weil man sich nicht in seinem Schmerz suhlen soll, sagte sie, weil das
nichts bringt. Das stimmt. Nur würde das ja das Sprechen und Schreiben über
sehr vieles ausschließen. So wie viele es lächerlich fanden, dass man in
Cannes während der Filmfestspiele „schon wieder“ über dieses nervige
Frauenthema sprach.
## Macron ist schuld
Und dann dachte ich: Am Ende ist Macron schuld. Er hat es geschafft, dass
innerhalb eines Jahres all die Tragik der letzten drei fantastisch
erfolgreich verdrängt wurde. Dass sich keiner mehr daran erinnert, wie
sagenhaft schlecht es Frankreich ging, wie depressiv und schwer die
Stimmung über den Straßen von Paris hing, wie dramatisch die Wahl hätte
ausgehen können.
Er hat den Leuten mit seinem
Ich-führe-Frankreich-mit-starker-Hand-in-die-Zukunft-Aktivismus die
Illusion geschenkt, all dieses lähmende, beängstigende, schmerzhafte
„Davor“ sei nun schlagartig beendet.
Philippe Lançon beweist, dass dieses „Gestern“ im „Heute“ ganz lebendig
weiterlebt und seine unsichtbaren Bahnen zieht. Manche, wie meine Freundin,
stört das. Andere stellen erfreut fest, dass man diese Wahrheit ertragen
kann, ohne wieder in Schockstarre zu verfallen. Das ist eine Entwicklung,
das ist schön. In diesem Sinne: Lesen Sie dieses Buch!
29 May 2018
## AUTOREN
Annabelle Hirsch
## TAGS
Schwerpunkt Emmanuel Macron
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Charlie Hebdo
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Schwerpunkt Islamistischer Terror
Charlie Hebdo
Yves Saint Laurent
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Lesestück Recherche und Reportage
Je suis Charlie
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