| # taz.de -- Freunde, Familie und Bekanntschaften: Vom Gehen und Bleiben | |
| > Hier kommen Freunde dazu, dort verlässt man die Clique. Ständig kommen | |
| > und treten Menschen aus unserem Leben. Richtige Abschiede gibt es selten. | |
| Bild: Raus, tschau, bye-bye | |
| Ein*e Künstler*in aus dem erweiterten Bekanntenkreis hat mir neulich mit | |
| ein paar Zeilen Spoken Word das Herz rausgerissen. They sprach auf einer | |
| Kleinkunstbühne, einer dieser Bühnen, auf denen Leute vor allem ihr | |
| Berlinleben verarbeiten. Und they las ein Gedicht über Herzschmerz. | |
| Herzschmerz, der kommt, wenn eine geliebte Mitbewohner*in ausgezogen | |
| ist. Wenn man sich kannte, wie kaum sonst sich Leute kennen – und wenn | |
| trotzdem nur ein Karton mit gerade noch haltbarer Milch zurückbleibt. | |
| Und in dem Loch, wo vorher mein Herz war, haben their Worte ein Räumchen | |
| geöffnet. Für all die atypischen Beziehungen in meinem Leben, die | |
| irgendwann ganz typisch geendet sind. Und über deren Ende ich jahrelang | |
| vergessen habe, traurig zu sein. Die WGs und die Affären und die losen | |
| Gruppenbekanntschaften und Dancefloorfreundschaften. | |
| Das sind Beziehungen, die keine Kinder kriegen und keine Häuser bauen und | |
| keine Steuern sparen und die wir deshalb oft ernst zu nehmen vergessen. Die | |
| wir steril den „erweiterten Bekanntenkreis“ nennen. Dabei sind sie es | |
| manchmal, die unserem Ich die Bodenhaftung geben. Aber die erweiterten | |
| Bekannten sind eben nicht here to stay. Sie waren es nie. | |
| [1][Viele sind gegangen]. Sie riefen nicht mehr an oder gingen nicht mehr | |
| ran, sie kamen eines Tages nicht mehr zum verabredeten Ort. Sie sagten | |
| einmal zu oft: „Nächsten Monat wird’s bei mir ruhiger.“ Sie zogen weg, g… | |
| schnell, hatten plötzlich ein Leben in Kisten verpackt. Sie folgten einer | |
| Karriere oder einer großen Liebe – oder dem Versprechen einer Karriere und | |
| dem Versprechen der großen Liebe. | |
| ## Raus, ciao, bye-bye | |
| Oft genug bin auch ich gegangen: weiter, zurück oder einfach weg. Nicht | |
| immer in Frieden. Oder ich habe nicht mehr angerufen, und ziemlich oft | |
| geschah das nicht aus Versehen. Manchmal konnte ich es kaum erwarten, | |
| Menschen zurückzulassen. Aber ich vermisse sie alle. Für so viel | |
| heartbreak, wie man im Laufe eines Lebens Menschen verliert oder verlässt, | |
| bin ich, glaube ich, gar nicht stark genug. Würde ich jedes Mal angemessen | |
| trauern, könnte ich nicht mehr zur Arbeit gehen. Also vergesse ich. Und ich | |
| klopfe denen, die gehen, dreimal auf den Rücken und wünsche eine gute Zeit. | |
| Und ich lösche Handynummern und zucke mit den Schultern. | |
| Vielleicht ist Einsamkeit nicht das Fehlen von Nähe. Sondern das Fehlen von | |
| Erinnerung. Das Schöne ist, dass so viele geblieben sind. Nicht alle | |
| greifbar nah, viele folgen ihren Karrieren, ihren großen Lieben, kriegen | |
| Kinder, sparen Steuern, und ein bisschen ist das ja auch in Ordnung, ein | |
| bisschen tu ich das ja ebenfalls. Und schließlich sind sie doch nah genug, | |
| um nicht weg zu sein. Ich liebe das. Und ich hoffe sehr, dass auch ich | |
| gerade here to stay bin. | |
| Aber die Mehrheit ist irgendwann wirklich weg wie die Mitbewohner*in | |
| aus dem Gedicht. Oder wie die, die bei Ihnen und mir verschwunden sind. | |
| Raus, ciao, bye-bye. Vielleicht sehen wir uns ja irgendwann wieder. | |
| 1 Oct 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Kolumne-Der-Rote-Faden/!5660310 | |
| ## AUTOREN | |
| Peter Weissenburger | |
| ## TAGS | |
| Kolumne Unisex | |
| Abschied | |
| Freunde | |
| Liebe | |
| Kolumne Unisex | |
| Mittelmeer | |
| Mitte | |
| Kolumne Krank und Schein | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Widersprüche im Feminismus: Der Stammtisch | |
| Eigentlich kann der Feminismus gar nicht genug Wellen haben. Auch wenn das | |
| bedeutet, dass grundlegende Fragen dauernd aufs Neue ungeklärt erscheinen. | |
| Hotspot der Klimakrise: Mach's gut, Mittelmeer | |
| Laut Uno-Bericht ist der Mittelmeerraum Hotspot des Klimawandels. | |
| Waldbrände, Hitze und Dürre nehmen zu. Abschied von einem Sehnsuchtsort. | |
| Die Wahrheit: Abschied von Mitte | |
| Niemals geht man so ganz: Was von meinen Jahren in der Hauptstadt übrig | |
| bleibt. Ein sentimentaler Blick zurück ohne Zorn. | |
| Todesfälle in der Familie: Trauern aus der Ferne | |
| Nicht nur wegen der Coronapandemie können Familienangehörige bei | |
| Todesfällen nicht persönlich Abschied nehmen. Oft geht es nur im Videochat. |