# taz.de -- Forderung von Aktivist*innen: Für eine Politik der Gerechtigkeit | |
> Hier veröffentlicht die taz die „Kölner Erklärung für eine Politik der | |
> Gerechtigkeit und der Menschlichkeit“ eines Künstler*innen und | |
> Aktivist*innenkollektivs. | |
Bild: Stacheldrahtzaun an einem Lager für Geflüchtete auf Lesbos | |
Kölner Erklärung für eine Politik der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit | |
Initiiert von #LeaveNoOneBehind, Milo Rau und seinem Theaterprojekt | |
„International Institute of Political Murder“ (IIPM) sowie den | |
Menschenrechtsorganisationen Sea-Watch, Seebrücke, ECCHR, Equal Rights | |
Beyond Borders, medico international, School of Political Hope. Die | |
Kampagne ist keine Aktion der taz. | |
In Afghanistan kann man in den letzten Wochen im Brennglas sehen, was sich | |
seit Jahren an den europäischen Außengrenzen manifestiert: für die deutsche | |
Politik zählen bürokratische Prozeduren mehr als Menschenleben. Das Mantra | |
lautet: „2015 darf sich nicht wiederholen“; Grenzzäune und Abschottung | |
stehen über Menschenrechten. | |
Jahr für Jahr verschlimmert sich die Lage an den EU-Außengrenzen. Mit allen | |
Mitteln wer- den Geflüchtete an der Ankunft in Europa gehindert: durch | |
unterlassene Hilfeleistung und das bewusste Ertrinkenlassen, durch illegale | |
Push-Backs, durch Folter und Gewalt. Ohne Zugang zu medizinischer | |
Versorgung, Bildung, sauberem Wasser und Nahrung sterben Zehntausende an | |
den europäischen Außengrenzen. Jene, die es schaffen, europäischen Boden zu | |
betreten, werden all ihrer Grundrechte beraubt und teilweise jahrelang in | |
Lager gesperrt, Asylanträge werden systematisch und illegal abgelehnt. | |
Im Juni 2021 etwa erklärte Griechenland die Türkei zu einem sicheren | |
Drittstaat für Menschen aus Syrien, Afghanistan, Somalia, Bangladesch und | |
Pakistan, was de facto dazu führt, dass 70% der Asylanträge in Griechenland | |
in Zukunft direkt abgelehnt werden. So werden Millionen Menschen in die | |
Illegalität getrieben und zur Verfügungsmasse einer kriminellen Wirtschaft | |
– aufgrund der Dublin-Verordnung unfähig, ihren Wohnort zu wechseln oder in | |
ihre Länder zurückzukehren. | |
Allein in Italien werden 500.000 illegalisierte Menschen von der Mafia auf | |
Monokulturen zur Produktion von Billiglebensmitteln ausgenutzt, in der | |
gesamten EU schätzt man die Zahl dieser modernen Sklav*innen auf über 3 | |
Millionen. Eine nicht nur entwürdigende, sondern tödliche Situation, wie | |
zuletzt der Hungerstreik der „Sans-Papiers“ in Belgien gezeigt hat. | |
Jahrelang wurde der Öffentlichkeit weisgemacht, dieser tausendfache Tod und | |
diese millionenfache Erniedrigung sei ein tragisches Ereignis, eine Art | |
Naturkatastrophe. Was aber – seit der Machtübernahme der Taliban in | |
Afghanistan noch einmal verschärft – vor unseren Augen passiert, sind nicht | |
nur zufällige Menschenrechtsverletzungen, es sind geplante und strukturell | |
in der europäischen Politik verankerte Verbrechen. Es ist keine Tragödie, | |
sondern ein vorsätzlich entworfener und umgesetzter politischer und | |
verwaltungstechnischer Angriff auf die Menschlichkeit. | |
Dabei spielen die Parlamente und Regierungen der EU und der Mit- | |
gliedstaaten eine zentrale Rolle. Allein im deutschen Bundestag wurde in | |
zahlreichen Abstimmungen und Beschlüssen jede Möglichkeit, die Situation an | |
den Grenzen zu verbessern, verhindert. Menschenleben und Menschenwürde sind | |
längst zum Verhandlungsgegenstand der Politik geworden, parteien- und | |
länderübergreifend. | |
Wenn aber Verbrechen zu Recht, wenn der Tod und menschliches Leid zu | |
politisch kalkulierter Normalität werden, bleiben uns nur zwei | |
Möglichkeiten: die stumme Akzeptanz der neuen Barbarei oder politischer | |
Widerstand. Als starke Zivilgesellschaft, als Zusammenschluss aus | |
Organisationen, Menschenrechtsanwält*innen, Geflüchteten und | |
Künstler*innen verschließen wir nicht länger die Augen und stellen uns | |
der Aushöhlung der Menschenrechte entschlossen entgegen. | |
Die Beweislast ist erdrückend, die Verbindungen von Frontex in die | |
europäische und insbesondere deutsche Politik nicht zu leugnen. Die Liste | |
von Folter und Push-Backs, von Grundrechtsbrüchen in den Lagern, von | |
unterlassener Hilfeleistung und der Kriminalisierung der Seenotrettung, von | |
illegalen Rückführungen und abgelehnten Asylanträgen ist schier unendlich. | |
Wir fordern das neu gewählte deutsche Parlament auf, zu einer Politik des | |
Rechts und der Menschlichkeit zurückzukehren und dem System der | |
Entmenschlichung, Illegalisierung und Ausbeutung von Geflüchteten ein Ende | |
zu setzen. | |
Wir brauchen einen Diskurs über die Grenzen und die Erosion des aktuellen | |
Rechtssystems, wir brauchen Politiker*innen und Expert*innen, die | |
gemeinsam die Grundpfeiler für ein System schaffen, das wirklich auf der | |
Idee von Menschenrechten für alle basiert und uns die Möglichkeiten gibt, | |
jene einzuklagen. | |
Wir fordern: | |
- Flucht nach Europa darf nicht kriminalisiert werden. Allen Geflüchteten | |
ist das Recht auf Rechte zu gewähren. | |
- Das Bundesinnenministerium muss die Liste gefährdeter Personen aus | |
Afghanistan für die Evakuierungen wieder öffnen. Den teils hoch gefährdeten | |
Personen aus der Zivilgesellschaft darf nicht weiter durch bürokratische | |
Hürden eine Flucht verunmöglicht werden. | |
- Europa darf sich nicht weiter abschotten und muss den Staaten, die auf | |
den Fluchtrouten aus Afghanistan liegen, signalisieren, dass es bereit ist, | |
Verantwortung zu übernehmen und das individuelle Recht auf Asyl | |
gewährleisten. | |
- Die sofortige Evakuierung aller Lager an den EU-Außengrenzen und die | |
Schaffung legislativer Grundlagen zur selbstbestimmten Aufnahme von | |
Kommunen und Ländern. | |
- Das Ende deutscher Beteiligung an allen Frontex- und EUNAVFOR | |
MED-Einsätzen. | |
- Staatlich organisierte Seenotrettung und ein Ende der Kriminalisierung | |
ziviler Seenotrettung. | |
Unterzeichner*innen: | |
Tareq Alaows, Jurist und Aktivist; Maya Alban-Zapata, Schauspielerin; | |
Verena Altenberger, Schauspielerin; Parwana Amiri, Aktivistin und Autorin; | |
Jasna Fritzi Bauer, Schauspielerin; Mark Benecke, Wissenschaftler und | |
Autor; Sibylle Berg, Autorin; Luise Befort, Schauspielerin; Arne | |
Birkenstock, Regisseur und Produzent; Thelma Buabeng, Schauspielerin; Ali | |
Can, Sozialaktivist und Initiator #MeTwo; Stefanie Carp, Dramaturgin; Max | |
Czollek, Autor; Fatih Çevikkollu, Comedian; Amelie Deuflhard, Intendantin | |
Kampnagel Hamburg; Katja Diefenbach, Kulturwissenschaftlerin, | |
Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder); Yilmaz Dziewior, Direktor | |
Museum Ludwig; Maria Ehrich, Schauspielerin; Mohammad Murtaza Farooqi, | |
Aktivist, Münchner Flüchtlingsrat; Pegah Ferydoni, Schauspielerin; | |
Luisa-Céline Gaffron, Schauspielerin; Ulrike Guérot, Gründerin European | |
Democracy Lab, Berlin; Kübra Gümüşay, Autorin; Annie Hoffmann, Moderatorin; | |
Rahel Jaeggi, Philosophin, Humboldt Universität Berlin; Elfriede Jelinek, | |
Autorin; Wolfgang Kaleck, Generalsekretär ECCHR; Jasmina Kuhnke, Autorin; | |
Şeyda Kurt, Autorin; Shermin Langhoff, Intendantin Maxim-Gorki-Theater; | |
Stephan Lessenich, Soziologe, Direktor des Instituts für Sozialforschung, | |
Goethe Universität Frankfurt; Igor Levit, Pianist; Matthias Lilienthal, | |
Dramaturg; Boniface Mabanza, Philosoph und Kulturwissenschaftler; Robert | |
Menasse, Autor; Robert Misik, Journalist und Autor; Ersan Mondtag, | |
Regisseur; Hans Mörtter, Pfarrer; Maximilian Mundt, Schauspieler; | |
Maximilian Pichl, Universität Frankfurt/Main; Thomas Oberender, Autor und | |
Intendant der Berliner Festspiele; Thomas Ostermeier, Regisseur und | |
Intendant Schaubühne Berlin; René Pollesch, Regisseur und Intendant | |
Volksbühne Berlin; Carola Rackete, Aktivistin und Kapitänin; Milo Rau, | |
Regisseur und künstlerischer Leiter IIPM und NTGent; Angela Richter, | |
Regisseurin; Merlin Rose, Schauspieler; Kathrin Röggla, Schriftstellerin; | |
Thomas Rudhof-Seibert, Philosoph, medico international; Mithu Sanyal, | |
Autorin; Stefanie Sargnagel, Autorin; Kais Setti, Schauspieler; Omer Shatz, | |
Anwalt; Saša Stanišić, Autor; Joulia Strauß, Künstlerin und Gründerin | |
Avtonomi Akadimia; Corinna Ujkaševic, Anwältin; Andres Veiel, Regisseur; | |
Julia von Heinz, Regisseurin; Harald Welzer, Soziologe und Publizist; | |
Hengameh Yaghoobifarah, Journalist_in & Schriftsteller_in; Andrea | |
Ypsilanti, Vorstandssprecherin des Instituts Solidarische Moderne; Anbid | |
Zaman, Menschenrechtsaktivist und Künstler; Jean Ziegler, Soziologe und | |
UN-Sonderberichterstatter | |
23 Sep 2021 | |
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