# taz.de -- Flucht über das Mittelmeer: UNHCR entschuldigt sich | |
> Ein hoher UN-Diplomat hat gefordert, Eltern ertrunkener Migrant*innen | |
> „symbolisch“ zu verfolgen. Angehörige fordern nun seinen Rücktritt. | |
Bild: Taranto, Italien: Rettungsschiffe müssen oft lange auf See warten, ehe s… | |
Ende November 2019 verließen die Brüder Hedi und Mehdi Khenissi, 24 und 22 | |
Jahre, Tunesien mit einem kleinen Fischerboot. Sie wollten in Europa ein | |
neues Leben beginnen, Hedi hatte eine Verlobte in Roubaix, in | |
Nordfrankreich. Doch da kam er nie an. | |
Anfang 2020 werden die Leichen der beiden Brüder an der Küste Siziliens | |
angespült. Die Toten können identifiziert werden. Ihre in Tunesien lebende | |
Mutter Jalila Taamallah entdeckt erst zwei Monate später einen | |
Zeitungsbericht über den Tod ihrer Söhne. Die Überführung der Leichen nach | |
Tunesien soll 12.000 Dollar kosten. Sie startet eine Fundraising-Kampagne, | |
die sie Ende März 2021 abbricht – nur 887 Euro waren zusammengekommen. | |
Ist eine Mutter mit einem solchen Schicksal nicht genug gestraft? Der | |
UNHCR-Sonderbeauftragte für das Mittelmeer, Vincent Cochetel, äußerte sich | |
zu den Müttern der Toten im Mittelmeer auf Twitter – und sieht sich nun mit | |
Rücktrittsforderungen konfrontiert. | |
Jalila Taamallah und andere Angehörige Ertrunkener hatten seit dem | |
vergangenen Wochenende im tunesischen Zarzis eine Gedenkfeier für die | |
Mittelmeertoten abgehalten, zu der auch europäische Aktivist:innen | |
eingeladen waren. Einer von ihnen twitterte ein Bild einer Kundgebung aus | |
Zarzis vom Dienstag. | |
Cochetel kommentierte den Tweet mit folgenden Worten: „Sie trauern um den | |
Verlust. Aber dieselben Mütter hatten kein Problem damit, ihre Kinder zu | |
ermutigen oder ihnen Geld zu geben, um diese gefährlichen Reisen | |
anzutreten. Wie im Senegal könnte die symbolische Verfolgung von Eltern, | |
die ihre Kinder einem Risiko aussetzen, einen ernsthaften Wandel in der | |
Einstellung zu tödlichen Reisen auslösen.“ | |
In diesem Jahr sind im Mittelmeer bislang 1.224 Menschen ertrunken, allein | |
im August waren es 147. Tunesier*innen sind mit rund 20 Prozent nach | |
Ägypter*innen die häufigste Nationalität unter den Ankommenden. | |
[1][Rettungsschiffe müssen oft sehr lange auf See warten], bevor sie | |
Schiffbrüchige an Land bringen können und fallen deshalb für weitere | |
Rettungen aus. Am Mittwoch etwa brachte das Schiff von Ärzte ohne Grenzen, | |
„Geo Barents“, 270 Schiffbrüchige nach ins italienische Taranto. Zuvor | |
hatte die Crew nach eigenen Angaben bei den Behörden Italiens und Maltas 17 | |
Mal erfolglos einen sicheren Hafen angefragt. | |
Cochetels Forderung, Eltern juristisch für den Tod der Kinder auf dem Meer | |
zu verfolgen, löste auch angesichts dieser Umstände heftige Reaktionen aus. | |
Viele wunderten sich auch deshalb, weil Cochetel als integrer und bedachter | |
Diplomat gilt, der das Elend auf den Fluchtrouten keineswegs kleinredet. | |
„Es ist das [2][Visa- und Grenzsystem], das die Migranten in Gefahr | |
gebracht hat, nicht ihre Mütter“, schrieb Jalila Taamallah, die Mutter der | |
beiden toten Tunesier, in einer von der NGO Alarm Phone am Freitag | |
verbreiteten Erklärung. „Es ist die Schuld der Migrationspolitik, die den | |
Tod von Menschen bei der Überfahrt über das Mittelmeer verursacht.“ | |
## „Schlichtweg empörend“ | |
In der Erklärung, in der sieben weitere Angehörige ertrunkener | |
Migrant*innen zu Wort kommen, wird Cochetels Rücktritt gefordert. | |
„Trauernde Mütter, die zum Teil seit mehr als einem Jahrzehnt nach | |
Antworten suchen, zu beschuldigen und sogar ihre Kriminalisierung durch | |
‚symbolische Strafverfolgung‘ zu fordern, ist schlichtweg empörend“, hei… | |
es darin. Die Worte Chochetels seien „auf das Schärfste anzuprangern“. | |
Bereits zuvor hatte Cochetel auf Twitter geschrieben, sein Kommentar sei | |
„unangemessen“ gewesen. „Mein Beileid gilt vor allem den Müttern, die ih… | |
Kinder verloren haben. Meine Frustration über den Verlust so vieler | |
Menschenleben und die Straffreiheit, die die Schmuggler genießen, | |
rechtfertigt meine Worte nicht.“ | |
Auch die UNHCR-Zentrale sieht das so. Sie distanzierte sich für ihre | |
Verhältnisse überraschend deutlich: „Wir entschuldigen uns für die | |
gestrigen Äußerungen unseres Sondergesandten über die Lage im westlichen | |
und zentralen Mittelmeer“, heißt es in einer Erklärung der Organisation. | |
Diese spiegelten „in keiner Weise die Position des UNHCR wider, und wir | |
unterstützen nicht die strafrechtliche Verfolgung von Familienmitgliedern, | |
die ihre Angehörigen verloren haben.“ | |
Cochetel wollte sich gegenüber der taz nicht äußern – er sei dazu „nicht | |
autorisiert“, schrieb er. | |
9 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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