# taz.de -- Filmemacher John Waters wird 75 Jahre: Der Outsider als Actionfigur | |
> Der Filmemacher John Waters verstörte mit Low-Budget-Satiren Bürgertum | |
> wie Hippies. Heute wird er 75 Jahre alt und ist in der Mitte angekommen. | |
Bild: Am Bleistiftschnurrbart gut zu erkennen: der Regisseur John Waters | |
Ein Verriss war für John Waters schon immer Ansporn. Der US-amerikanische | |
Filmregisseur gilt nicht umsonst seit Trash-Meisterwerken wie „Pink | |
Flamingos“ (1972), in dem sein Star, die voluminöse Dragqueen Divine, vor | |
laufender Kamera einen dampfenden Haufen Hundekot verspeiste, als Meister | |
des schlechten Geschmacks. | |
„Wenn jemand bei meinen Filmen kotzen muss, ist das für mich wie ein | |
stehender Applaus“, erklärte er einmal. Anlass hat es dazu immer wieder | |
gegeben, vor allem Ende der sechziger Jahre, als er mit seiner | |
„Dreamland“-Freaks-Filmfamilie Low-Budget-Satiren wie „Multiple Maniacs“ | |
drehte und damit Bürgertum und Hippies gleichermaßen gegen sich aufbrachte. | |
Dabei ging es ihm nie ums Schockieren als Selbstzweck, er bringt das | |
Publikum mit schrägem Witz über Themen zum Lachen, mit denen es sich sonst | |
nicht auseinandersetzen würde. Wie bei der Komödie „Hairspray“ über | |
„Rassentrennung“ in Amerika und eine schwergewichtige Heldin, mit der er | |
1988 erstmals ein Massenpublikum erreichte. | |
Er erkannte das Filmstarpotenzial eines Fernsehschauspielers namens Johnny | |
Depp und besetzte ihn 1990 als „Cry Baby“ und schickte Oscarpreisträgerin | |
Kathleen Turner als mordlustige Hausfrau in „Serial Mom“ auf einen | |
abgründig-komischen Rachefeldzug. | |
## Geschichtenerzähler und Künstler | |
Sein letzter Kinofilm allerdings, „A Dirty Shame“, ist 17 Jahre her. | |
Seitdem konnte er keine Geldgeber mehr für ein Filmprojekt überzeugen. Aber | |
Waters versteht sich als Geschichtenerzähler, da ist das Medium | |
zweitrangig. Er schreibt Bücher, zuletzt eine Art Memoir, „Mr. | |
Know-It-All“, tourt mit seinem Bühnenprogramm „This Filthy World“ und hat | |
sich in den letzten 30 Jahren einen respektablen Ruf als Visual Artist | |
erarbeitet, auch [1][in Berlin hatte er 2014 eine Soloausstellung]. | |
Derzeit ist eine Retrospektive seiner satirischen Collagen in der | |
Dependance der Berliner Galerie Sprüth Magers in Los Angeles zu sehen, | |
„Hollywood’s Greatest Hits“, pünktlich zur Oscarverleihung am Sonntag. | |
Spätestens seit den nuller Jahren wurde sein früheres Markenzeichen Bad | |
Taste vom Distinktionsmerkmal zum vulgären Ausdruck einer | |
Pöbelmassenkultur, mit Ekel-Komödien wie „American Pie“ und dem Siegeszug | |
des Selbstdarstellungs-Fernsehens neureicher Familienclans. | |
Waters ist dagegen längst anerkannt und hat sich dabei kaum verändert, was | |
nicht nur am stets exakt gezogenen Bleistiftschnurrbart („Maybelline Velvet | |
Black Eyeliner, nichts anderes!“) liegt, sondern vor allem an seinem | |
unverwechselbar schrägen Blick auf die Abscheulichkeiten der Welt, denen er | |
mit analytischem Witz begegnet. | |
## „Borat“ wäre ohne ihn unvorstellbar | |
Für unzählige Independent-Filmer und Generationen von Künstler*innen ist | |
er mit seiner Haltung Vorbild, sein Einfluss auf die Populärkultur kann gar | |
nicht hoch genug eingeschätzt werden. „Jackass“ wäre ohne ihn ebenso | |
unvorstellbar wie [2][„Borat“]. Es ist nicht der Outsider, der in der Mitte | |
angekommen ist. Der Mainstream hat endlich zu John Waters aufgeschlossen. | |
Er selbst nennt sich inzwischen selbstironisch „Filth Elder“, was übersetzt | |
irgendwo zwischen „Stammesältester des Schmutzes“ und „Alter Drecksack“ | |
changiert. Am heutigen Donnerstag wird er nun 75 und bleibt | |
charmant-subversiver Aufwiegler. Zur Ruhe setzen wird er sich nie, betont | |
er beim Zoom-Chat am vergangenen Wochenende, aber er plant vor. Seine | |
Kunstsammlung hat er kürzlich dem renommierten Baltimore Museum vermacht. | |
Einzige Bedingung: Die Toiletten sollen seinen Namen tragen. | |
Und auch für die ewige Ruhe überlässt der Ex-Katholik nichts dem Zufall. Er | |
und seine engste Dreamland-Clique haben sich längst auf dem Friedhof in | |
Baltimore Plätze neben dem Grab von Divine gesichert. „Es wird unser | |
Disgraceland.“ | |
Bis dahin hat er noch viel vor, Pandemie hin oder her. Gerade letzte Woche | |
habe er seinen ersten Roman beendet, der im nächsten Jahr erscheinen soll, | |
„Lügenmaul“, über eine Frau, die am Flughafen Koffer klaut, er nennt es | |
eine „Feel-Bad-Romance“. Und auch mit seinem Spielfilmprojekt „Fruitcake�… | |
das er seit mehr als zehn Jahren versucht zu realisieren, ist er nun wieder | |
in Verhandlungen, dem Hunger der Streamingdienste nach frischen Inhalten | |
sei Dank. | |
Im Februar zierte er das Cover der italienischen Modebibel L’Uomo Vogue als | |
eines der ältesten Models in der Geschichte des Magazins. Und im Juni | |
erscheint bei Funko eine John-Waters-Actionfigur aus Vinyl, unverkennbar | |
mit Strichbärtchen und Pink Flamingo auf dem Arm. Eine Ehre, die sonst nur | |
Pop-Ikonen wie Batman oder Marvel-Charakteren zukommt. „Ich sehe eh aus wie | |
ein Cartoon, warum also nicht?“, grinst er. | |
22 Apr 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Trash-Papst-John-Waters/!5049235 | |
[2] /Comeback-von-Sacha-Baron-Cohen/!5523842 | |
## AUTOREN | |
Thomas Abeltshauser | |
## TAGS | |
Geburtstag | |
Filmemacher | |
Trash | |
Independent | |
John Waters | |
Regisseur | |
Schwerpunkt #metoo | |
John Waters | |
Comedian | |
Spoken Word | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Autobiografie von Jörg Buttgereit: Große Show mit billigen Effekten | |
In den Achtzigern drehte er berüchtigte Splatterfilme. Mit „Nicht | |
Jugendfrei!“ hat Jörg Buttgereit jetzt sein „Tagebuch aus Westberlin“ | |
veröffentlicht. | |
MeToo-Thriller „Promising Young Woman“: Das Problem hockt da drin | |
Der Kino-Thriller „Promising Young Woman“ erzählt von sexueller Gewalt | |
gegen Frauen. Hauptdarstellerin Carey Mulligan gibt eine souveräne | |
Rächerin. | |
Kinoempfehlung für Berlin: Säulenheiliger der Subkultur | |
Die subversive Kraft des schlechten Geschmacks: Die „Bahnhofskino“-Reihe im | |
Filmrauschpalast Moabit widmet John Waters ein Special. | |
Comeback von Sacha Baron Cohen: Für ihn ziehen Politiker blank | |
Der Comedian Sacha Baron Cohen knöpft sich in „Who Is America?“ die | |
US-amerikanische Politik vor. Und entlarvt den Rassismus eines | |
Republikaners. | |
Trash-Papst John Waters: „Hacker haben nie Sex“ | |
Der Kultregisseur kommt nach Deutschland. Die taz spricht mit John Waters | |
über ekligen Geschmack und den Orgasmus beim Kampf gegen die Mächtigen. |