| # taz.de -- Autobiografie von Jörg Buttgereit: Große Show mit billigen Effekt… | |
| > In den Achtzigern drehte er berüchtigte Splatterfilme. Mit „Nicht | |
| > Jugendfrei!“ hat Jörg Buttgereit jetzt sein „Tagebuch aus Westberlin“ | |
| > veröffentlicht. | |
| Bild: Mit vollem Körpereinsatz: Buttgereit 1985 beim Dreh von „Hot Love“ | |
| Im Alter von 16 Jahren hatte Jörg Buttgereit bereits klar definierte Ziele. | |
| „Ich will ein ‚deutscher [1][John Waters'] werden“, sagte er sich da, | |
| nachdem er den Meilenstein des schlechten Geschmacks „Pink Flamingos“ von | |
| Trash-Papst Waters im Kino gesehen hatte. Sex mit Hühnern, Divine isst | |
| Hundekacke – „ich bin von diesem wirklich schmutzigen Filmwerk gleichzeitig | |
| angeekelt und fasziniert“, so Buttgereits Fazit nach dem Erlebnis im | |
| Lichtspielhaus. Werke, die solche Reaktionen hervorrufen, möchte er selbst | |
| einmal drehen, nimmt er sich vor. Und das hat er dann auch. Den Titel | |
| „Deutscher John Waters“ hat er sich so verdient. Oder wer sonst sollte ihm | |
| den streitig machen? | |
| Buttgereit erzählt in seinem Erinnerungsbuch „Nicht Jugendfrei!“ die ganze | |
| Geschichte, wie aus einem filmbegeisterten Knirps ein Undergroundregisseur | |
| in Westberlin der frühen Achtziger wurde. Und schließlich der Macher | |
| berühmt-berüchtigter Splatter-Werke wie „Nekromantik“ und „Nekromantik … | |
| mit denen er weltweit zumindest ein Nischenpublikum fand. Als | |
| „Splatter-Meister“ aus Deutschland, wie ihn das amerikanische Branchenblatt | |
| Variety einmal nannte. Bei Waters gab es bloß Sex mit Hühnern, Buttgereit | |
| bot sogar den Beischlaf mit Leichen. | |
| Nach diesen Filmen träumte er durchaus vom berühmten Anruf aus Hollywood, | |
| schreibt er nun in seinem Buch. Jener kam allerdings nie. Nach dem Film | |
| „Schramm“ fand die deutsche Filmindustrie, die mit Genre und Horror sowieso | |
| nicht viel anfangen kann, nie wirklich Verwendung für einen wie ihn. Und so | |
| produzierte er fortan vor allem Hörspiele, inszenierte an Theatern, schrieb | |
| Hörspiele und schrieb Bücher. Als wäre er ein echter Künstler. Dabei wollte | |
| er genau das nie werden, wie er nun noch einmal in seinem Buch betont. | |
| Kunstliebhaber, Cineasten und [2][Wim Wenders] waren für ihn die | |
| Schlimmsten. Und jeder japanische Monsterfilm hat für ihn mehr | |
| intellektuellen Tiefgang als „Der Himmel über Berlin“. | |
| Lebensverändernde Filme | |
| „Nicht Jugendfrei“ ist, wie der Untertitel verspricht, als „Tagebuch aus | |
| West-Berlin“ angelegt. Und das mit dem Tagebuch ist unbedingt wörtlich zu | |
| nehmen. Buttgereit kann sich nämlich nicht nur noch vage an einschlägige | |
| autobiografische Erlebnisse erinnern, sondern ziemlich konkret. So weiß er | |
| auch, dass er den für ihn lebensverändernden Film „Pink Flamingos“ am 15. | |
| September 1979 im Kino Steinplatz gesehen hat. Und „Eraserhead“ von David | |
| Lynch am 9. Oktober desselben Jahres im Notausgang Kino. | |
| Die Begleitumstände dieser bahnbrechenden Seherfahrungen werden immer | |
| ähnlich beschrieben. Er, der minderjährige Jörg, möchte unbedingt den | |
| schockierenden Film für Erwachsene sehen. Aber wird es klappen, das | |
| Jugendverbot zu umgehen? So viel sei verraten: Es klappt eigentlich immer. | |
| Diese Tagebuch-Erzählweise, die den Besuch dieses oder jenen Films oder | |
| Konzerts abhandelt, ist streckenweise etwas ermüdend. Aber zur | |
| Entschädigung gibt es viele schöne Fotos, oft von Buttgereit selbst | |
| geschossen. Etwa von ihm und seinem Freund Dirk Felsenheimer, heute bekannt | |
| als Bela B von den Ärzten. Oder von ihm und [3][dem heutigen Mutter-Sänger | |
| Max Müller] beim Luftgitarrespielen auf einer Aufnahme aus dem Jahr 1982. | |
| Das Kino und Videotheken haben Buttgereit zu dem gemacht, der er dann | |
| wurde, das soll diesen Erlebnisberichten eines Filmfreaks wohl entnommen | |
| werden. Das waren seine Ausbildungsstätten für den späteren Job als | |
| Filmemacher, ähnlich wie bei Quentin Tarantino. Den Buttgereit übrigens für | |
| überschätzt hält, wie er schreibt. | |
| Wichtig war auch die Musik. Hauptsächlich Punk – von den Dead Kennedys bis | |
| Suicide hat Buttgereit alle in den frühen Achtzigern live gesehen. Kiss | |
| fand er auch super. Große Show mit billigen Effekten – in gewisser Weise | |
| strebte er das ja auch mit seinen Filmen an. | |
| Taekwondo und Godzilla | |
| Buttgereit ist gelernter Schauwerbegestalter, machte Taekwondo und kam mit | |
| seinem Vater nur mäßig klar. Auch so etwas erfährt man in seinem Buch. | |
| Sogar wechselnde Freundinnen hatte er, was vielleicht wirklich | |
| bemerkenswert ist, da wahrscheinlich auch schon in den frühen Achtzigern | |
| Frauen eher skeptisch gegenüber Typen waren, die Godzilla-Figuren sammelten | |
| und „Ein Zombie hing am Glockenseil“ bereits fünfmal gesehen haben. | |
| Im Oktober 1986 begannen dann die Vorbereitungen für seinen ersten Langfilm | |
| „Nekromantik“. Und zwar mit dem Kauf eines gebrauchten Plastikskeletts für | |
| 250 D-Mark. Das wurde dann in liebevoller Handarbeit zu einer halb frischen | |
| Leiche samt frisch vom Schlachter geholten Schweineaugen zurechtgebastelt, | |
| der Hauptdarstellerin seines Films. | |
| Die beiden 1988 und 1991 entstandenen „Nekromantik“-Filme wurden zu | |
| Klassikern des Splatter-Genres und Buttgereit zu einem der wenigen | |
| deutschen Regisseure, die man überhaupt im Ausland wahrnahm. Was auch an | |
| deren Rezeptionsgeschichte lag, die in „Nicht Jugendfrei!“ noch einmal | |
| ausführlich behandelt wird. Buttgereit wurde Gewaltverherrlichung | |
| vorgeworfen, seine Filme wurden verboten, es gab ein Ermittlungsverfahren. | |
| Bis dann vor Gericht ein Filmwissenschaftler seinen Machwerken in einem | |
| Gutachten attestierte, große Kunst zu sein, die nicht verboten gehöre. | |
| Schlimmer ging's ja wohl nicht, damit hatte er es jetzt auch schriftlich: | |
| Er ist Künstler. Wie Wim Wenders. | |
| 25 Jul 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Filmemacher-John-Waters-wird-75-Jahre/!5762375 | |
| [2] /Filmfestspiele-Cannes-2023/!5936656 | |
| [3] /Mutter-Musiker-Max-Mueller-ueber-Soloalbum/!5937913 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Hartmann | |
| ## TAGS | |
| Regisseur | |
| Autobiografie | |
| Horror | |
| Westberlin | |
| Atombombe | |
| Krautrock | |
| Geburtstag | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Christopher Nolans Film „Oppenheimer“: Waffe für den Frieden | |
| Im epischen Blockbuster „Oppenheimer“ hadert der berühmte Physiker mit den | |
| Konsequenzen seiner Erfindung. Der Film suhlt sich in Geniekult. | |
| Mutter-Musiker Max Müller über Soloalbum: „Lieber was Nettes singen“ | |
| Der Berliner Mutter-Sänger Max Müller über die wunderschöne Donau, | |
| privilegiertes Motzen und weshalb ihm die Musik von Herbert Grönemeyer | |
| Stress bereitet. | |
| Filmemacher John Waters wird 75 Jahre: Der Outsider als Actionfigur | |
| Der Filmemacher John Waters verstörte mit Low-Budget-Satiren Bürgertum wie | |
| Hippies. Heute wird er 75 Jahre alt und ist in der Mitte angekommen. |