# taz.de -- Eugen Ruges Zukunftsroman „Follower“: Durchdrehen in HTUA-China | |
> Gehirnimplantate, Konzerne statt Staaten, aber die taz gibt es 2055 noch. | |
> „Follower“ ist ein großartiger Roman über 14 Milliarden Jahre. | |
Bild: Autor Eugen Ruge, 2011 in Frankfurt | |
Beim Lesen fallen einem spontan etliche neue Akronyme ein – zusätzlich zu | |
jenen, von denen es im Buch selbst schon wimmelt. Eines könnte lauten: IPC, | |
Internal Personal Computer. Zumindest eine Vorstufe solcher utopisch | |
anmutenden Technologie ist in Eugen Ruges Roman „Follower“ das | |
Gehirnimplantat, das die „freundliche Aufwachstimmung“ erzeugt, die den | |
Helden als Weckimpuls frühmorgens am Ende des Schlaftunnels erwartet. | |
Unheimlich praktisch, weil unmittelbar organisch, gewissermaßen in Fleisch | |
und Blut übergegangen. | |
Nach solch wohligem Erwachen loggt sich Nio Schulz gern mittels | |
Fingerprintsensor in seine Glass ein, eine polyfunktionale Datenbrille mit | |
Onlinezugang, deren Gläser gleichzeitig als transparentes Display dienen. | |
Um – wie an diesem Morgen – vor dem Frühstück noch schnell die aktuellen | |
Messwerte der residenten Gesundheits-App zu checken und die neuesten Tweets | |
abzurufen: Tote im subsaharischen Wasserkrieg, das Computersystem der | |
Weltbank von einem Virus befallen, der Kommissar der E.ON/SBI-Zone (heißt | |
so die Nachfolgeinstitution der EU?) zurückgetreten; Luzia, auch das noch, | |
lässt die Welt wissen, dass sie einen Kokos-Bounty-Geburtstagskuchen | |
gebacken hat. Fast bis zum Ende des Romans bleibt Schulz auf diese Weise | |
visuell online. | |
In diesem Buch haben wir es mit einem großartigen und in vieler Hinsicht | |
außergewöhnlichen Roman zu tun – schon der ziemlich ausgedehnten Erzählzeit | |
wegen: rund 14 Milliarden Jahre, vom Urknall bis in den Spätsommer 2055. | |
In diesem Spätsommer erwacht Nio Schulz an seinem39. Geburtstag etwas | |
desorientiert in seinem Hotelzimmer im 14. Stock in der chinesischen | |
Metropole Wu Cheng (übersetzt etwa: „Keine Stadt“) in HTUA-China, einem der | |
kommerziellen Sektoren, in die die inzwischen führende Wirtschaftsnation | |
aufgeteilt ist. Als Associate Agent für CETECH soll er in dem Land die | |
neueste Kreation des Unternehmens promoten. | |
## Zurück in die Vorzeit | |
Gewissermaßen in Echtzeit begleitet das Buch den Helden durch den Tag, in | |
dessen Verlauf er einen tiefgreifenden inneren Wandel durchläuft: Nio lässt | |
seinen Geschäftstermin platzen und erkundet stattdessen Hotel und Stadt, um | |
nach einer Art innerseelischem Amoklauf durch Lobbys, Frühstückssaal und | |
Shoppingmalls zuletzt völlig aus der Bahn seines bisherigen Lebens | |
auszuscheren. Als Durchschnittsexistenz war er stets ängstlich darauf | |
bedacht, den gesellschaftlichen Erwartungen und Anforderungen einer | |
durchgetakteten (und -digitalisierten) Realität zu genügen. | |
Sein Medikamentenkonsum wie die unbefriedigende, von Ängsten grundierte | |
Beziehung zu Sabena künden vom geringen Erfolg dieser Anstrengung. Am Ende | |
bricht Schulz aus dem digital-mental-gesellschaftlichen Käfig aus. Um wie | |
durch ein Zeitloch in die analoge Vorzeit zurückzufallen, aus der ihn von | |
Kindheitstagen her noch schwach ferne Glückserinnerung anwehte. Ob eine | |
derartige Existenz trägt? Es ist nicht mehr das Thema des Romans. | |
Bei aller Fremdartigkeit enthält die futuristische Welt des Buchs durchaus | |
Einsprengsel des Vertrauten. Man kennt noch Instagram und taz, Eis von | |
Häagen Dazs oder JOOOP! (mit drei O!) – gleichzeitig jedoch ein | |
UN-Klimaprogramm, das durch Zünden von Wasserstoffbomben und die damit | |
erzeugte Staubdichte mit der Intensität der Sonneneinstrahlung die | |
tropischen Erdtemperaturen senkt. Arbeitsverhältnisse und Einkommen selbst | |
von Durchschnittsverdienern wie Nio sind prekär; für das Kind, das sie von | |
ihm möchte, müsste sich Sabena einen Zweitjob suchen. | |
Passend zur allgemeinen Heuchelei – die Political Correctness feiert | |
Triumphe – ist die Welt zu einer nahezu lückenlosen digitalen Simulation | |
zusammengeschnurrt: die Realität ein „gigantisches Filmset“ mit den | |
Menschen als Statisten ihres eigenen Lebens, selbst der Himmel eine | |
digitale „Fälschung“. Das Individuum: ein total vernetztes Datenbündel, d… | |
nichts mehr fürchten muss als den digitalen Super-GAU. Der Verlust des | |
Passworts der Glass, die seine gesamte digitale Existenz enthält, käme für | |
Nio einer Amputation gleich. | |
So ist „Follower“ düstere Zukunftsvision, scharfe Gegenwartsanalyse und | |
köstliche Zeitsatire, bei der uns freilich nicht nur in der beiläufigen | |
Erwähnung der „Vorsitzenden der Großen Mitte-Links-Rechts-Partei“ das | |
Lachen im Halse stecken bleibt. Ruges geschmeidig-präzise, nahezu klinisch | |
cleane Prosa nimmt im zweiten Teil des Buchs einen geradezu szientifischen | |
Duktus an, wenn das Buch in einem Parforceritt durch die (Natur-)Geschichte | |
die Erzählung historisch grundiert und die Ahnengalerie des Helden bis zum | |
Urknall ausdehnt. | |
Nach „Follower“ darf Eugen Ruge als einer der scharfsichtigsten Analytiker | |
der Gegenwart gelten. | |
9 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Hans-Dieter Fronz | |
## TAGS | |
Dystopie | |
Satire | |
Science-Fiction | |
Feminismus | |
Michel Houellebecq | |
Roman | |
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