| # taz.de -- Elektronikfestival Berlin Atonal: Wesen, durch die Strom fließt | |
| > Beim Musikfestival Berlin Atonal konnte sich das Publikum fünf Tage lang | |
| > für einen Moment mit den Maschinen versöhnen. | |
| Bild: Er ist seine Maschine: Actress und Cyborg (rechts) spielen auf bei Atonal | |
| Ihre Münder bewegen sich im Viervierteltakt, sie schätzen dieselben aus | |
| Fetzen der Vergangenheit zusammengesetzten Rhythmen, und die Rudelbildung | |
| erfolgt über die Marken ihrer Oberbekleidung. Manchmal können wir in | |
| scheinbar unzusammenhängenden Dingen Muster erkennen, die eigentlich gar | |
| nicht da sind. Pareidolie heißt das Phänomen, griechisch für | |
| „Schattenbild“. Und es passt eigentlich weniger auf die Beobachtung der | |
| anwesenden Menschen als auf die Bilder, die an diesem späten | |
| Donnerstagabend auf dem Berliner Atonal-Festival nun schon seit Stunden auf | |
| der Leinwand zu sehen sind. | |
| Ist das nun ein Gesicht oder ein Baum oder ein symbolisches Bild, was sich | |
| da aus diesem amorphen Etwas herausschält? Oder doch ein | |
| computergeneriertes, von menschlichen Belangen eher unbeeinflusstes Bild? | |
| Die dazugehörige Musik verlangt einem nicht weniger ab. Es kostet Energie, | |
| die brutale, gemeinhin als Noise bekannte Materialität des Klangs, die | |
| magenerschütternden Bässe und die nach „Vorschlaghammer schlägt auf Metall… | |
| klingenden Rhythmen in Musik oder, besser, organisierten Lärm umzurechnen. | |
| Dass die auf der Bühne hinter Nebel verschwindenden Silhouetten, die in | |
| kontrollierter Ekstase nach rechts und links waberten, echte Menschen waren | |
| und keine Cyborgs, ließ sich hingegen leicht herausfinden. Es gab genug | |
| Programmhefte. | |
| ## Wie eine Vergrößerung des Selbst | |
| Obwohl das britische Duo Neon Chambers der Technomusiker Kangding Ray und | |
| Sigha sicher nichts dagegen hätte, Mensch-Maschine-Hybride genannt zu | |
| werden. Entlocken sie doch gemäß der inzwischen rund 25-jährigen | |
| Techno-Tradition den Maschinen eine derart kinetische Form von Musik, die | |
| die Körper des Publikums durchdringt. Das versuchte abermals in kollektiver | |
| Ehrfurcht gegen die Soundwand anzutanzen. Oder anzustehen, konnte die alles | |
| vereinnahmende Lautstärke nicht nur zum adrenalinhaften Hochgefühl wie eine | |
| Vergrößerung des Selbst, sondern auch zur Starre führen, ähnlich wie: die | |
| vielen Sterne da oben, ich kleiner Mensch hier unten. | |
| Es war vieles so wie in den letzten Jahren auf dem ursprünglich bereits in | |
| den achtziger Jahren entstandenen Festival für experimentelle elektronische | |
| Musik: Ob die Überwältigung der Sinne mittels Klang und Bild in der | |
| kathedralenhaften Haupthalle, die stilistisch ausgewogene Auswahl der | |
| KünstlerInnen oder das Publikum, das farblich monochrom, aber | |
| soziokulturell ausgewogen war: Es waren avantgardeerprobte Kinnstreichler, | |
| queere Ledermenschen, eitle Cis-Männer mit frisch gewachsten Bärten und | |
| sogar Black-Metal-Fans in diesen immer leicht erschreckend uniformen | |
| Kutten, die hier die neuesten oder auch nostalgischsten Ausprägungen von | |
| Techno, Ambient, Industrial und Cold Wave über sich ergehen ließen. | |
| Besser als bei der Ausgabe im letzten Jahr war, dass auf der Hauptbühne | |
| diesmal weniger auf Monumentalität gesetzt wurde. Besonders die Visuals | |
| waren angenehm ausgeglichen, changierten zwischen abstrakt und konkret, | |
| zwischen humorlosem Ernst von Schwarz-Weiß-Gerausche wie beim italienischen | |
| EBM-Helden Alessandro Adriani oder überslicker, aber bald langweilig | |
| werdender 8bit-Ästhetik wie beim enigmatischen Abstract Londoner | |
| Techno-Künstler Actress. Oder augenzwinkend wie bei Neon Chambers, bei | |
| denen eine Abfolge von Instagram-Videos zu sehen war, auf denen eine Hand | |
| eine rosa Masse knetet. | |
| ## Von ultrahellen Stroboskopblitzen erleuchtet | |
| Während das Visuelle hier dominierte, überzeugte das anschließende Live-Set | |
| des schottischen Talents Lanark Artefax mit dialektischer Finesse. Statt | |
| der Leinwand stand ein kleinerer, anderthalb Menschen hoher Bildschirm auf | |
| der Bühne, während er sich selbst in einer Art Käfig versteckt hielt, der | |
| ab und zu von ultrahellen Stroboskopblitzen erleuchtet wurde. Etwa, wenn | |
| seine sich immer wieder selbst überschlagenden Breakbeats gelegentlich eine | |
| klare Betonung erhielten, worauf das Publikum wie im Jazz mit Szeneapplaus | |
| reagierte. | |
| Wem die Halle zu sehr Olymp war, konnte sich an den fünf Tagen immer auch | |
| in die Höhlen verziehen. Die angeschlossenen Clubs Tresor und Ohm boten | |
| jene Intimität, die oben abhandenkam. Waren die BesucherInnen in der Halle | |
| so was wie Avatare, konnten sie hier wieder Mensch sein – und die neuesten | |
| Tanzschritte ausprobieren. | |
| Auch wenn es einem auch hier nicht einfach gemacht wurde: So überzeugten | |
| die kongenialen Live-Sets der Bristoler Produzentin Sophia Loizou mit ihrem | |
| abgehackten Neo-Jungle, des wild herumspringenden Mun Sing und der | |
| Londonerin Object Blue mit verspieltem Maschinen-Techno, aber auch die | |
| DJ-Sets von Batu oder des DJs Yousuke Yukimatsu aus dem japanischen Osaka | |
| mit gebrochenen Rhythmen. Diese in Bewegungsenergie zu verwandeln | |
| erforderte abermals die hohe Kunst der Musterkennung. War das einmal | |
| geschafft, wurde es belohnt mit einem selbstvergessenen Dialog des eigenen | |
| Körpers mit der Musik. | |
| ## Entfremdung von der Umwelt | |
| Wenn eine derart radikale Musik, auch wenn sie wegen des schlauen | |
| Marketings ein bisschen von ihrer einstmaligen subkulturellen Wucht | |
| eingebüßt hat, Tausende Menschen begeistert, muss gefragt werden, warum: | |
| Vielleicht, weil sie unserer Entfremdung von der Umwelt ein ästhetisches | |
| Äquivalent bietet. Sie bietet Katharsis und das Angebot, sich mit den | |
| Maschinen für einen Moment zu versöhnen und nachzuspüren, wie das ist, ein | |
| Wesen zu sein, durch das Strom fließt. | |
| Bei diesen positiven Aspekten ließ sich über die sozialen Kollateralschäden | |
| der smartphonifizierten Gesellschaft hinwegsehen, die immer mehr über | |
| Visuelles und immer weniger über Ideen kommuniziert. So herrschte im | |
| Publikum eine außerordentliche Unwilligkeit zu spontanen Unterhaltungen. | |
| Aber vielleicht ist das wieder eines dieser Muster, die eigentlich ein | |
| Trugschluss sind. Es wäre zu wünschen. Bei solch herausfordernder Kunst | |
| gibt es keinen Grund zum Kulturpessimismus. | |
| 27 Aug 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Philipp Rhensius | |
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