# taz.de -- Festival für experimentelle Clubmusik und Kunst: Der Sound des Tum… | |
> Aufruhr ist das Thema des diesjährigen CTM-Festivals. Es präsentiert ab | |
> heute zwei Wochen lang unbehagliche Musik für unbehagliche Zeiten. | |
Bild: Das südafrikanische Performance-Kunst-Duo Faka: am 4. 2. im Schwuz. | |
Früher waren Musikszenen mal soziale Räume, in denen andere Welten erprobt | |
wurden – und in denen neue Seinsweisen, neue Erzählungen, neue Technologien | |
und damit verbundene neue Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen, vielleicht | |
sogar neue soziale Bewegungen entstanden sind. | |
Heute sind diese Räume nicht verschwunden. Nein, sie sind überall. Aber | |
weil ihre Fäden vor allem im Internet zusammenlaufen und weil | |
Flexibilisierung und Zeitarbeit unsere Jobs und soziale Medien unsere Ichs | |
radikal individualisieren, sind jene alternativen Welten weitgehend in | |
private Räume abgewandert. Das ist besonders heute, in Zeiten zunehmender | |
gesellschaftlicher Entsolidarisierung und dem neuen Rechtsruck in Europa, | |
bedenklich. | |
Auch deshalb bekommt jede Form der außeralltäglichen Zusammenkunft | |
außerhalb der individuellen Filter-Bubbles heute eine enorme Relevanz. Und | |
weil Politik ja bekanntlich nicht nur darin besteht, über irgendwelche | |
Parteiprogramme zu debattieren, sind entgegen so manchen reaktionären | |
Zeitgenossen, die sich beklagen, das Ästhetische doch bitte freizuhalten | |
vom Politischen, auch Auseinandersetzungen im kulturellen Bereich dringend | |
nötig. | |
Das Berliner [1][CTM-Festival] für experimentelle Clubmusik ist sich dessen | |
bewusst. Seit 1999 schafft es jedes Jahr einen rund zweiwöchigen | |
Ausnahmezustand für ein anderes In-der-Welt-Sein, das über den passiven | |
Musikkonsum hinausgeht und stets auch auf die Störung und Verwirrung | |
routinierter Wahrnehmungsweisen abzielt. | |
## Radikale Dissonanzen | |
„Turmoil“, zu Deutsch Aufruhr, ist das Thema in diesem Jahr. Und in Aufruhr | |
ist derzeit die ganze Welt. Doch was kann ein Musikfestival da ausrichten? | |
Gibt es wirklich einen Sound des Aufruhrs oder gar eine Ästhetik des | |
Tumults? | |
„Unbehagliche Zeiten erfordern unbehagliche Musik“, sagt Jan Rohlf, | |
Mitgründer und künstlerischer Leiter des international renommierten | |
Festivals. Es gehe darum, mit Musik den verwirrenden Gefühlslagen etwas | |
entgegenzusetzen. | |
So sind auch in diesem Jahr wieder viele MusikerInnen aus | |
experimentelleren, extremeren und schrilleren Gefilden eingeladen, von | |
Industrial Techno (Pan Dajing) über Footwork (Jlin), queerem Gqom (Faka) | |
und Post-Dubstep (Ikonika) bis hin zum tot gehofften 90er-Jahre-Rave-Stil | |
Gabber (Marc Acardipane, DJ Panic), der mit seinen rasanten Tempi und | |
hyperschrillen Kaugummi-Melodien in Zeiten der monochromen | |
Techno-Kolonisierung eine Renaissance – und mit neuen Protagonisten wie | |
Haj3000 oder Kilbourne ein zeitgemäßes Update erfährt. | |
Dass diese Musik unsere Unwägbarkeiten und Ängste, aber auch unsere | |
Hoffnungen und Sehnsüchte widerspiegelt, mag außer Frage stehen. Aber ist | |
sie auch in der Lage, wirklich Unbehagen und Protest zu artikulieren? | |
Vielleicht. Denn neben der impliziten körperlichen Vereinnahmung durch | |
radikale Dissonanzen und tiefe Bass-Frequenzen, die die Eingeweide | |
massieren, verfolgen viele KünstlerInnen explizit politische Themen, und | |
das auf eine zeitgenössische unironische Weise, die träumerische | |
Protestmusik vergangener Dekaden lächerlich aussehen lassen. | |
## Fragen nach sozialen Missständen | |
Die US-amerikanische Musikerin und No Wave-Ikone [2][Lydia Lunch] etwa, die | |
mit ihrem Trio Medusa’s Bed eingeladen ist, knöpft sich mit ihrem keifenden | |
Gesangsstil stets die politischen Missstände in Trumpland vor. „Ich bin die | |
Leber Amerikas. Ich nehme den ganzen Dreck und mache künstlerisch etwas | |
daraus“, sagte sie vor Kurzem mal in einem Interview. | |
Neben der französischen Ambientmusikerin [3][Colleen], die mit ihrem | |
aktuellen Album „A Flame My Love, A Frequency“ das terroristische Attentat | |
im Bataclan in Paris reflektiert hat, wird Antye Greie-Ripatti aka AGF auf | |
dem „Persist“-Event im Berghain ihre interaktive Performance vorstellen, | |
die auf dem Album „Solidicity“ basiert. | |
Darin thematisiert die Feministin, die mit dem Kollektiv „female pressure“ | |
2016 einen Sampler mit Originalstimmen von kurdischen Soldatinnen aus dem | |
nordsyrischen Rojava veröffentlicht hat, Fragen der sozialen Gerechtigkeit | |
und der Flüchtlingskrise. | |
Weniger unmittelbar existenziell, aber aktuell sind jene thematischen | |
Schwerpunkte, die sich mit digitaler Technologie befassen. Die sind ja in | |
Zeiten der kommerziellen Aufmerksamkeitskolonisierung nicht mehr nur | |
emanzipatorisch, sondern längst auch unterdrückerisch. | |
## Konsumwelten sezieren | |
So setzen sich die elektronische Musikerin [4][Holly Herndon] und ihr | |
langjähriger Kollaborationspartner, der Künstler Mat Dryhurst, aber auch | |
der New Yorker Musiker [5][James Ferraro] mit den vermeintlichen Gefahren | |
künstlicher Intelligenz auseinander. | |
Ferraro, der schon seit einigen Jahren mit zynischem Blick unsere | |
durchdesignten digitalen Konsumwelten seziert, wird mit seiner Performance | |
„Plague“ auftreten, das von der eher diskurslastigen CTM-Schwester | |
„[6][transmediale]“ produziert wurde. | |
Das multimediale Stück entstand in Zusammenarbeit mit dem Künstler Nate | |
Boyce, dem Chor Phønix16 und dem Schauspieler Christoph Schüchner. Es | |
handelt von einer nahen Zukunft, in der eine künstliche Intelligenz die | |
Bedürfnisse der Menschen akribisch scannt und analysiert, um den | |
ultimativen Konsumartikel zu schaffen. | |
Statt Konsum, der uns einsam macht, soll auch bei der diesjährigen | |
Festivalausgabe das kollektive Aufeinandertreffen möglichst vieler Menschen | |
im Vordergrund stehen. Immerhin reisen jedes Jahr 60 Prozent der | |
BesucherInnen aus anderen Ländern an. | |
„Es geht darum, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammenkommen und | |
sich austauschen“, sagt Rohlf. „Unsere Überzeugung ist, dass wir in diesen | |
Krisenzeiten vor allem eine Sache versuchen sollten und das ist, sich | |
einander besser und gewissenhafter zuzuhören.“ | |
Das Unbehagliche in und an der Musik ist hier also nicht unbedingt der | |
Lärm, der die Ohren betäubt. Sondern die Herausforderung, die Musik und die | |
dahinterstehenden Absichten zu reflektieren. Und ein Bewusstsein für | |
unserer Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten zu schaffen. | |
Dieser Text erscheint im taz.plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg | |
immer Donnerstags in der Printausgabe der taz | |
26 Jan 2018 | |
## LINKS | |
[1] http://www.ctm-festival.de/index.php?id=76 | |
[2] http://www.lydia-lunch.net/ | |
[3] https://colleenplays.org/ | |
[4] http://hollyherndon.com/ | |
[5] https://jjamesferraro.bandcamp.com/ | |
[6] https://2018.transmediale.de/ | |
## AUTOREN | |
Philipp Rhensius | |
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