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# taz.de -- Pionierinnen des Drum'n'Bass: Frauen lassen Bässe rollen
> Die Produzentin Ikonika und DJ Storm aus London bereichern das
> Hardcore-Kontinuum des elektronischen Pop und fördern junge
> Produzentinnen.
Bild: „Drum'n'Bass war immer eine Anti-Establishment-Bewegung“, sagt DJ Sto…
Geschichte wird auch in der Nacht geschrieben. Wie Anfang der neunziger
Jahre, als das elektronische Dancefloor-Genre Drum ’n’ Bass in London
entstand. Von Anfang an wirkten Frauen daran mit. Sie schufen hyperschnelle
Breakbeats, angsteinflößende Bässe und düstere Synthie-Sounds und
kreierten damit ein Hybridwesen, das sich mit der Science-Fiction-Ästhetik
eine neue Welt imaginierte – und in dessen Nerven sich die klanggewordene
Dialektik des Alltags einschrieb. Mithilfe von Time-Stretching, einer
digitalen Technik, Klänge zu dehnen oder zu straffen, wurden Zeit und Raum
neu erlebbar.
Drum ’n’ Bass war wesentlich unaffirmativer und damit wirklichkeitsnaher
als die MDMA-geschwängerte Ecstasy-Euphorie von Acid-House in den späten
Achtzigern und dem zweiten Summer of Love 1987. Drum ’n’ Bass verweigerte
sich bewusst humanistischen Musikidealen wie harmonischer Tonalität und
wurde so zum Wegweiser, um mit dem erhöhten Tempo und den Strapazen des
Alltags zurechtzukommen. Bis heute lässt sich Drum ’n’ Bass als Soundtrack
für reizüberflutete Geschöpfe hören, die ständig erreichbar, immer in
Bewegung, aber auch vereinsamt sind. Jene urbane Einsamkeit lässt sich mit
den intensiven Bässen, die TänzerInnen im Club auf sich selbst
zurückwerfen, auf die Spitze treiben, bis ein fiktionaler Raum entsteht.
Darin können Menschen sein, wer, was oder wie viele sie sein wollen.
Die Londonerin Jayne Conneely alias DJ Storm, die an Drum ’n’ Bass von
Anfang an mitbeteiligt war, ist heute genau da, wo sie sein möchte – und
erinnert sich daran, wie alles begann: „Drum ’n’ Bass war immer eine
Anti-Establishment-Bewegung. Weil es Elemente vieler anderen
Dancefloorstile verknüpfte, vereinte der Sound auch unterschiedliche
Menschen, unabhängig von ihrer Ethnie, Herkunft oder Religion.“ Dass das
bis jetzt so sei, darauf sei sie stolz, erklärt Conneely, die von 1991
zusammen mit ihrer Partnerin, der 1999 bei einem Verkehrsunfall
verunglückten DJ Kemistry (Valerie Olukemi Olusanya) vor allem im Londoner
„Blue Note“-Club auflegte.
Storm bezieht sich explizit auf die Beliebtheit von Drum ’n’ Bass in der
Working Class. Auch hierzulande wurde Drum ’n’ Bass in den Neunzigern im
Mainstream populär, inzwischen fristet er wieder ein Nischendasein in
linken Zentren. Es ist ein inklusiver Musikstil, dem jegliche
Hipster-Coolness fehlt, was auch an der HipHop-artigen Street Credibility
seiner Protagonisten liegt. Conneely legt Wert darauf, dass das, was sie
bewege, nie dem entspreche, was gerade trendy sei, erzählt die
Mittvierzigerin.
## First Lady der Breakbeats
Als sie im April 1999 nach einem Gig mit DJ Kemistry nach Hause fuhr,
krachte ein von einem voranfahrenden Lkw gelöstes Baustellenlicht durch die
Windschutzscheibe ihres Autos und tötete Olusanya sofort. Durch den
tragischen Unfall von Kemistry bekam Storms Karriere einen tiefen Riss.
Heute erzählt sie vom gemeinsamen Vermächtnis von Kemistry und sich selbst
als Vorreiterinnen in einer männerdominierten Szene. DJ Storm gilt zu Recht
als „First Lady der Breakbeats“. Olusanya und sie selbst haben damals
bewusst geschlechtsneutrale Künstlernamen gewählt, aber bis auf
abschätziges Lächeln einiger Promoter hätten sie als Frauen nie Probleme
gehabt. Dennoch sei ihr bewusst, dass es für Frauen auch heute noch
schwierig ist, sich in der Szene zu etablieren. Deshalb unterstützt DJ
Storm junge Produzentinnen, wo sie kann.
Für Gleichheit in der Clubszene engagiert sich auch die Londoner
Produzentin und DJ Ikonika, die musikalisch ebenfalls auf der Linie des
Hardcore-Kontinuums liegt. Also auf jener historischen Entwicklung
basslastiger britischer Clubmusik, die bei Jungle und Drum ’n’ Bass begann,
in den späten Neunzigern zu 2 Step Garage mutierte und bis Ende der
Nullerjahre im Dubstep, Grime sowie UK Funky kulminierte. Als Protagonistin
zwischen Post-Dubstep und besagtem UK-Funky gehört Sara Chen aka Ikonika
zur dritten Generation der Szene um DJ Storm. Mit dem Programm
„Producergirls“, das sie zusammen mit befreundeten
Bass-Music-Produzentinnen wie E.M.M.A, Dexplicit und P Jam gestartet hat,
reist Ikonika durch England, um jungen Frauen in einer „lockeren und
sicheren Umgebung“ Grundlagen der digitalen Musikproduktion beizubringen.
Neben aktivem Empowerment von Frauen teilen Chen und Conneely auch eine
Vorliebe für magenerschütternde Bässe, die im Dubstep Anfang der
Nullerjahre wiederkehrten. Wobei Ikonika, die ihre Musik vorwiegend auf dem
renommierten Londoner Label Hyperdub veröffentlicht, schon immer auf eher
warme, neonfarbene Sounds setzte und ihren eigenen, funkigeren Hybrid
zwischen Breakbeat und House geschaffen hat. Auf ihrem jüngsten Album
„Distractions“ kommt auch eine Prise Trap hinzu. Die Energie der Tracks ist
auf einen Autounfall zurückzuführen, bei dem sie sich schwer verletzte. „So
musste ich erfahren, wie sich physischer Schmerz anfühlt und realisiert,
wie fragil mein Körper ist. Ich konnte mich kaum bewegen. Erst nach ein
Monaten schaffte ich es wieder ins Studio und dann hatte ich viele gute
Arrangementideen.“
## Dystopische Stadt
Größte Inspiration für die Mitzwanzigjährige ist ihr Wohnort London, jene
von der Finanzindustrie charakterisierte Metropole, in der der Alltag nicht
nur ökonomische, sondern auch ästhetische Armut produziert. „Ich habe in
dieser dystopischen Stadt mein ganzes Leben verbracht. Wir Londoner sind
anpassungsfähig, weil es hier so teuer ist.“ Doch gäbe es immer noch genug
Leute, die Raves in Kellern organisieren. Außerdem florieren die
Musikszenen gerade, die sich im ganzen Land stets am Underground
orientieren. Mit Grime und Drill habe Großbritannien endlich eine
ernstzunehmende Rap- und eine eigene Afrobeat-Szene, die inzwischen immer
öfter große Chart-Hits feiern und damit Teil des Mainstreams werden, wie
einst Drum ’n’ Bass in den Neunzigern.
Chen braucht Musik, um sich „von all dem Scheiß abzulenken“, der sich auf
politischer Ebene auch in London zeigt. Was die Zukunft Englands mit dem
Brexit anbelangt, sei sie ein bisschen pessimistisch, weshalb sie sich vor
allem darauf konzentriere, was ihr Spaß macht. Für die Zukunft hofft sie
aber, dass die Welt ein egalitärer und sicherer Ort wird. Drum ’n’ Bass und
seine ebenfalls stetig in die Zukunft gerichteten Schwester-Stile sind
hierfür womöglich keine schlechten Vektoren.
2 Feb 2018
## AUTOREN
Philipp Rhensius
## TAGS
Clubmusik
Festival Berlin Atonal
Musikfestival
Spotify
elektronische Musik
Dubstep
Südafrika
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