# taz.de -- Einbecker erschießt schlafende Ehefrau: Femizid oder Versehen? | |
> In Göttingen steht ein Mann vor Gericht, der seine Frau erschossen hat. | |
> Die Verteidigung sagt, es sei ein Unfall gewesen. | |
Bild: Beistand für die Familie: Aktion der Initiative „Prozessbegleitung Bes… | |
GÖTTINGEN taz | Besma A. wird erschossen, als sie am 14. April 2020 auf dem | |
Sofa in ihrem Zuhause im niedersächsischen Einbeck liegt. Über Kopfhörer | |
hört sie Musik, dabei schläft sie ein. Der Ehemann der 27-Jährigen, Cemal | |
A., wählt den Notruf. Am Telefon erklärt er, dass er versehentlich seine | |
Frau erschossen habe. | |
Beim Reinigen seiner halbautomatischen Waffe soll sich ein Schuss gelöst | |
haben, der seine Frau mit einem Kopfschuss getötet habe. | |
Ermittler*innen stellten in der Tatnacht fest, dass er alkoholisiert | |
war. Vor Gericht schweigt er. Seine Verteidiger*innen sprechen von | |
einem Unfall. Seit fast zwei Jahren verhandelt das Landgericht Göttingen | |
den Fall. | |
Über WhatsApp pflegte Besma A. Kontakt zu ihrer Mutter und ihrer Schwester, | |
die in den Niederlanden leben. In Chatnachrichten, Audioaufnahmen und | |
Fotos, die zum Verhandlungsgegenstand wurden, soll sie sich ihnen | |
anvertraut haben. Im Gericht war zu hören, wie die junge Frau berichtet: | |
„Wenn er nicht immer bei der Arbeit wäre, hätte er einen von uns schon | |
getötet.“ Und: „Er sagt 'Sei still du schmutzige Hündin’.“ Bei | |
Auseinandersetzungen soll ihre Lippe geplatzt, sie soll getreten und mit | |
Essen beworfen worden sein. | |
Die Verteidigung von Cemal A. zweifelt teilweise an der Echtheit der | |
Aufnahmen. Auf Fotos sei sie nicht eindeutig zu identifizieren. | |
## Verteidigung argumentiert mit Trunkenheit | |
Seit Mai 2021 begleitet die Initiative „Prozessbeobachtung Besma A.“ den | |
Fall. Die Beobachter*innen verstehen sich als Beistand für die | |
Familie, solidarisieren sich in Form von Mahnwachen und fordern Fälle wie | |
diesen als das zu benennen, was sie seien: Femizide. Tötungsdelikte an | |
Frauen, die passieren, weil sie Frauen sind. | |
Eine der Aktivist*innen sagt: „Besma ist so weit entmenschlicht worden, | |
dass selbst ihre Stimme in Frage gestellt wird.“ Die Verteidigung habe | |
daran gezweifelt, dass es Besma war, die die Sprachnachrichten von ihrem | |
eigenen Handy verschickte. | |
Manfred Koch vertritt als Anwalt der Nebenklage die Angehörigen von Besma. | |
Er fällt mit emotionalen, manchmal flapsigen Aussagen auf. Die Argumente | |
der Anwälte Gabriele Heinecke und Florian Melloh findet er „weltfremd“. | |
Diese werfen der Nebenklage Polemik und Stimmungsmache vor. | |
Mehrfach kündigte Richter Jakubetz an, die Beweisaufnahme zu schließen. Im | |
Interesse der Verteidigung schien das aber nicht zu sein: Sie wollte | |
beweisen, dass der Beschuldigte schon vor der Tat betrunken gewesen war. | |
Der Schuss könne aufgrund des Alkohols abgegeben worden sein. | |
Am Tatort fand sich eine leere Glühweinflasche und eine halbleere Flasche | |
Rakı. Zum Zeitpunkt des Notrufs konnte sich Cemal A. aber klar | |
verständigen. Später erbrach er sich mehrfach. Die Verteidigung hält eine | |
kurzfristige „Ernüchterung durch die Tat“ für realistisch; durch den | |
Schock, weshalb er zu diesem nüchtern klingenden Anruf in der Lage gewesen | |
sein soll. | |
Cemal A. zeigte sich zu keinem Zeitpunkt betroffen. Familienangehörige | |
unterstützten ihn von der Besucher*innentribüne aus. Zu Beginn jedes | |
Verhandlungstages nickte er zurückhaltend in ihre Richtung, deutete | |
manchmal Luftküsse an. | |
Es bleiben die wohl einzigen Gefühlsregungen bei 45 Prozessterminen. Anwalt | |
Koch wirft ihm vor, sich auffallend empathielos zu verhalten. Dafür, dass | |
er „seine geliebte Frau versehentlich getötet haben soll“. Seine | |
Verteidigung hält dagegen. Vom „Monster-Narrativ“ halte man nichts. | |
Heinecke und Melloh wollten beweisen, dass die Eheleute einen harmonischen | |
Umgang pflegten, einen Grund für Mord habe es sichtbar nicht gegeben. | |
Private Foto- und Videoaufnahmen, die zu Anlässen wie Familienfeiern | |
entstanden sind, sollten zeigen, dass Besma eine „moderne, gut gekleidete“ | |
und keine „entrechtete Frau“ gewesen sei. In den Clips ist die Getötete in | |
ausgelassener Stimmung, lächelnd, mit ihren drei Kindern und | |
Familienangehörigen zu sehen. | |
Mithilfe einer Übersetzerin sagt Suad Ismail, Besmas Schwester, der taz per | |
Videoanruf, dass die Aufnahme das einzige Material dieser Art sei und die | |
Realität verzerre. Es sei üblich, dass eheliche Probleme nicht nach außen | |
getragen würden – vor allem nicht, wenn ältere Personen und Kinder dabei | |
seien. Weiter sagt sie: „Man konnte in diesen Szenen sehen, dass er nicht | |
ein einziges Mal Besma angeguckt hat.“ | |
In einer Sprachnachricht sagt die Getötete: „Es gibt nichts, was er mir | |
nicht angetan hat.“ Ismail berichtet, dass Besma wusste, dass eine Waffe im | |
Haus war. Aus Angst vor ihrem Mann habe sie sich nicht getraut, Hilfe zu | |
suchen. Mit einer Petition fordert sie die Anerkennung des Todes ihrer | |
Schwester als [1][Femizid]. | |
## Staatsanwaltschaft plädiert auf vorsätzliche Tötung | |
Mitte November hat das Gericht die Beweisaufnahme geschlossen. Die | |
Staatsanwaltschaft plädiert auf vorsätzliche Tötung. Zweifellos sei die Ehe | |
konfliktreich gewesen. Möglicherweise wegen einer befürchteten Trennung | |
habe Cemal A. die Situation genutzt, in der seine Frau wehrlos auf der | |
Couch gelegen habe. Nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft habe er den | |
Großteil des Alkohols nach der Tat getrunken, um den Unfall vorzutäuschen. | |
Für Mord und illegalen Waffenbesitz beantragte die Staatsanwaltschaft | |
lebenslange Haft. | |
Koch stellte in seinem Plädoyer heraus: „Wir haben das Opfer als Zeuge.“ | |
Die von Besma berichteten Erniedrigungen zu relativieren, sei fragwürdig. | |
Er habe den Eindruck, dass die Verteidigung des Angeklagten so tue, als ob | |
Besma die Vorwürfe gegen ihren Ehemann selbst konstruiert habe. Er sei der | |
Auffassung, dass die junge Frau aus Şengal im Irak einem Femizid zum Opfer | |
gefallen sei. Es war das erste Mal, dass der Begriff im Gerichtssaal fiel. | |
Die abschließenden Plädoyers werden am kommenden 12. Dezember gehalten. | |
Wenn es in Deutschland [2][Frauenrechte] gebe, sagt Ismail, dann werde das | |
Recht im Fall ihrer Schwester auf ihrer Seite stehen. [3][Gerechtigkeit] | |
sei ohnehin nicht durch die Verurteilung von Cemal A. erreicht. Sie sagt: | |
„Gerechtigkeit für Besma bedeutet, dass nie wieder eine Frau durch ihren | |
Mann sterben muss.“ | |
1 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Katja Spigiel | |
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