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# taz.de -- Dokumentarfilm über Odessa im Krieg: Die Wunden der alten Hafensta…
> „When Lightning Flashes Over the Sea“ ist ein Porträt Odessas zu
> Kriegszeiten. Regisseurin Eva Neymann spürt hinein ins Leben der
> Bewohner:innen.
Bild: Alltag in Odessa: die schwer beschädigte Verklärungskathedrale
Ein Explosionsgeräusch. Dann Geheule, Luftalarm und eine Durchsage: „Bürger
von Odessa, begeben Sie sich unverzüglich in die Schutzräume.“ Flackernde
Lichter spiegeln sich in Fensterscheiben, Hunde bellen. Einer von ihnen,
ein kleiner weißer, huscht verschreckt über den Bürgersteig vor einem
Wohnhaus in Odessa. Es ist Abend oder Nacht, die Gegend ist menschenleer.
Man hört nur die lauten Einschläge aus der Ferne, die Bedrohung wird auf
der Soundebene transportiert.
Minutenlang ist in dieser Passage des Films „When Lightning Flashes Over
the Sea“ der gleiche Ausschnitt zu sehen. Das ist der Stil des
Dokumentarfilms der deutsch-ukrainischen Regisseurin Eva Neymann – oft
verharrt die Kamera in einer Einstellung, sie zeigt Jungs im Alltag auf der
Straße, die fantasieren und mit sich selbst reden, Obdachlose oder
Banksitzer, die über das Leben philosophieren, ältere Menschen in ihren
Wohnungen, die aus ihrer bewegten und bewegenden Biografie berichten.
Immer nimmt sich der Film viel Zeit für seine Motive. Zeit, um sich ein
Bild vom Leben in einer erhabenen, alten Stadt im Krieg zu machen. Zeit,
die Kratzer, die Beschädigungen, die Fleischwunden Odessas in den Blick zu
nehmen.
[1][„When Lightning Flashes Over the Sea“ hat bei der diesjährigen
Berlinale Premiere gefeiert], nun kommt der Film in Deutschland in die
Kinos. Regisseurin Neymann ist in Saporischschja aufgewachsen, kam in den
Neunzigern zum Jurastudium nach Deutschland, lernte später an der Deutschen
Film- und Fernsehakademie Berlin und machte dort 2006 ihren Abschluss. Sie
hat sich bereits in Spielfilmen mit der (jüdisch-)ukrainischen Geschichte
auseinandergesetzt, sie hat zuletzt einen Dokumentarfilm über den großen
Pryvoz-Markt in Odessa vorgelegt („Pryvoz“, 2021).
Hier zeigt Neymann nun sehr viele Facetten der ukrainischen Hafenstadt in
Zeiten des Krieges: Das Meer, die vielen Katzen, Straßenszenen und immer
wieder Luftalarme. Sie erzählt aus dem Alltag der Bewohner:innen, aber
rückt etwa auch die schwer beschädigte Verklärungskathedrale in den Blick,
die Schäden in der historischen Altstadt insgesamt. Der Titel des Films
entstammt dem Mund eines Jungen, den Neymann im Film porträtiert, er sagt
zu seinem Vater: „Wenn es über dem Meer blitzt, werden die Wünsche in
Erfüllung gehen.“
Das beharrliche Hinschauen, Hinhören und Hineinspüren ins Leben Odessas
sind die Stärken dieses Films. Im Alltag einer Stadt ist auch zu
Kriegszeiten alles in Bewegung, Neymann gelingt es durch die langen
Beobachtungen in Zwischenräume zu blicken, Abseitiges zu entdecken und vor
allem zu zeigen, was der Krieg in den Psychen der Bewohner:innen
anrichtet. Was die Kinder spielen und fantasieren, was die Erwachsenen
träumen, welches ihre Ängste sind, interessiert die Regisseurin.
Sie wählt dabei auch die richtigen Protagonist:innen. Eine
Shoah-Überlebende erzählt von ihren Erinnerungen an den Herbst 1941, als in
der Stadt Dubăsari (heute Teil des russisch kontrollierten Gebiets Moldaus)
mehrere tausend Jüdinnen und Juden von deutschen SS-Einsatzgruppen ermordet
wurden. Die alte Frau sitzt sichtlich berührt auf ihrem Sofa, Teppiche und
Decken mit Ornamenten um sie herum, sie wiegt den Körper auf und ab und
spricht über das Glück des Überlebens.
„In Dubăsari hatte man schon eine Grube ausgehoben, dort sollten wir
hineingetrieben und getötet werden“, berichtet sie. Daran zurückzudenken,
sei schmerzhaft. „Ich hatte eine ältere Schwester. Ljuba hieß sie. Sie war
ein hübsches Mädchen. Sie ist gestorben. Ich bin am Leben geblieben“, sagt
die Frau kurz darauf. Die Erzählungen der Frau, ihre schlichten
Schilderungen, auch ihre Auslassungen, zählen zu den eindrücklichsten und
berührendsten Momenten des Films.
Bei den Alten reißt der Krieg Wunden wieder auf, bei den Jungen sorgt er
für große Ungewissheit. So porträtiert Neymann einen jungen Mann, einen
Maler und Zeichner, der eigentlich gegen „den Irrsinn des Kriegs“ ist, aber
nicht weiß, wie man das anstellen soll, wenn die Alternative die
Kapitulation ist. Er soll einberufen werden, soll gegen seinen eigenen
Bruder kämpfen, der in Moskau lebt und auf Seiten der Russen kämpft.
„When Lightning Flashes Over the Sea“ ist ein poetischer Film, auch wegen
eingestreuter inszenierter Sequenzen – in einer tanzt etwa ein Kind mit
einem Baustellen-Absperrband wie bei der rhythmischen Sportgymnastik, in
einer anderen bringen leuchtende Ballons etwas Licht in die dunkle
Umgegend. Und in einer Szene beobachtet die Kamera aus der Ferne von hinten
eine alte Frau und einen alten Mann, die nebeneinander an der
Bushaltestelle sitzen und sich unterhalten. „Wird dieser Krieg irgendwann
vorbei sein?“, fragt die Frau ihn zum Schluss. „Natürlich, natürlich“,
antwortet der.
20 Nov 2025
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## AUTOREN
Jens Uthoff
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Dokumentarfilm
Holocaust
Stadt
Ukraine
Politisches Buch
Roman
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