# taz.de -- Dokumentarfilm „Das Kino sind wir“: Früher war mehr Politik | |
> Livia Theuers Dokumentarfilm „Das Kino sind wir“ blickt sehr aktuell auf | |
> die Geschichte des alternativen Kinos in Deutschland. Diskutiert wurde | |
> viel. | |
Bild: Der Filmladen Kassel im Jahr 1982 | |
Was Heiner Müller als Gedankenspiel für die Theater mal angeregt hatte, | |
nämlich dass man sie für genau ein Jahr zumachen müsste, um auf die nagende | |
Frage des „Wozu Theater?“ Antwort zu erhalten, das haben die Kinos in den | |
Pandemiejahren tatsächlich ausprobieren müssen. Es war zwar kein ganzes | |
Jahr am Stück, doch waren es genug [1][Schließzeiten und Öffnungen mit | |
Einschränkungen, um die Frage in den gesellschaftlichen Raum zu stellen, ob | |
das Kino vermisst wird], wenn es fehlt. Sagen wir mal so: Antworten gab es | |
viele, aber so ganz eindeutig waren sie nicht. | |
Und obwohl nun seit zweieinhalb Jahren wieder mehr oder weniger | |
Normalbetrieb herrscht, scheint, wie in vielen anderen Bereichen der | |
Gesellschaft auch, im Kino merkwürdig unklar, wie die Zukunft aussehen | |
soll. Man hat das Gefühl, dass es knirscht im Gebälk, dass die Dinge selbst | |
da, wo sie nach Zahlen wieder zurückkehren in den Vor-Corona-Zustand, sich | |
irgendwie verändert haben. | |
Was genau anders ist, das lässt sich gar nicht so leicht konkret benennen: | |
Liegt es an den einzelnen Filmen, die ins Kino kommen, oder ist es die | |
Zusammensetzung der Zuschauer oder ist es irgendwas an der kulturellen | |
Praxis des Kinogehens selbst, das einfach nicht mehr das Gleiche ist wie | |
noch vor ein paar Jahren? | |
Es sind allgemeine Fragen wie diese, die einem beim Anschauen von Livia | |
Theuers Dokumentarfilm „Das Kino sind wir“ durch den Kopf gehen, obwohl der | |
Film zunächst als Porträt eines einzelnen Kinos mit einer sehr speziellen | |
Geschichte daherkommt. Der „Filmladen Kassel“ ist eine der Legenden der | |
deutschen Programmkinolandschaft. Hervorgegangen aus einer studentischen | |
Filminitiative, nahm das Kino 1981 seinen zunächst provisorischen | |
Spielbetrieb in einer umgebauten Lagerhalle auf. | |
Aber es sind nicht die Details dieser für die Alternativkultur der 80er | |
Jahre nicht untypischen Gründung, die Theuers Film so interessant machen, | |
sondern der geradezu chorische Eindruck, den die Berichte der verschiedenen | |
Gründungsmitglieder vor der Kamera hinterlassen. Sie geben auf bedrückend | |
vielstimmige Weise eine Antwort darauf, was das Besondere dieses Filmladens | |
war und immer noch ist – und damit eben auch auf die Frage nach der | |
möglichen Bedeutung von Kino ganz allgemein. | |
## In die gesellschaftliche Diskussion eingreifen | |
Die Idee des Filmladens sei von Anfang an „beseelt von der Idee gewesen, | |
eine politische Filmarbeit zu machen und mit den Filmen in die | |
gesellschaftliche Diskussion einzugreifen“, beschreibt zum Beispiel einer | |
der Gründer. Und später heißt es, dass es doch ohne solche Abspielstätten | |
auch keine neue Generation von deutschen Filmemachern und Filmemacherinnen | |
hätte geben können. | |
Man sieht Bilder dazu aus Thomas Frickels Dokumentarfilm „Keine Startbahn | |
West – Eine Region wehrt sich“ von 1982, und aus dem Off dröhnen die | |
Demo-Motivationszeilen „Wir gehen zusammen, nicht allein“ aus dem Hit der | |
Gruppe Bots, „Was wollen wir trinken“. Open-Air-Konzerte, Anti-AKW- und | |
Friedensbewegung und das unbedingte Vertrauen darin, dass sich durch | |
Diskussionen die Probleme dieser Welt lösen lassen – das waren die 80er. | |
Das Kino dieser Zeit war in zwei Welten aufgeteilt. Auf der einen gab es | |
den Kommerzbetrieb mit den üblichen Kinostarts, und auf der anderen die | |
kommunalen Kinos und Programmkinos wie den Filmladen Kassel, die ein viel | |
ehrgeizigeres Ziel verfolgten. | |
„Gegenöffentlichkeit“ nennt es ein Gründer und schildert, dass es | |
seinerzeit weder für Filmhistorisches, wie Stummfilme, noch für | |
lateinamerikanisches oder afrikanisches Kino irgendwo Platz gab, geschweige | |
denn für Dokumentarfilme. Man muss sich dazu klarmachen, dass Anfang der | |
80er Jahre Videotheken auch noch nicht besonders weit verbreitet waren, und | |
wenn, dann eher dem Kommerzbetrieb zugeordnet wurden. | |
## Protestfilme in der örtlichen Kneipe vorführen | |
Aber „Gegenöffentlichkeit“ bedeutet gleichzeitig mehr als nur Filme, die es | |
anderswo nicht zu sehen gibt, abzuspielen. Wichtig war für die Kinos nach | |
Art des „Filmladens“ deshalb der „Kontext“, hergestellt durch Diskussio… | |
und Publikumsgespräche, die dort stattfanden. „Ich nannte das die | |
Fortsetzung des Films mit anderen Mitteln“, sagt ein schelmischer | |
[2][Thomas Frickel, Regisseur des Films über den Widerstand gegen die | |
Starbahn West]. | |
Besonders die Dokumentarfilme sollten nicht nur der Kontemplation oder der | |
Unterhaltung dienen, sondern unmittelbar eingreifen in die Wirklichkeit. | |
Auch Regisseur Andres Veiel erzählt als Zeitzeuge vom erreichten Ideal der | |
Dokumentarfilmarbeit, wenn man den eben gedrehten Film über den Protest | |
gegen die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen auf der Schwäbischen | |
Alb in der örtlichen Kneipe vorführte und sich dort der Diskussion stellte. | |
Theuer trägt in „Das Kino sind wir“ noch viele weitere solcher Impressionen | |
über den Konnex von Filmemachen und Filmevorführen bei. Regisseur:innen | |
wie Gertrud Pinkus, [3][Ulrike Ottinger] und Monika Treut beschreiben, wie | |
viel Ärger ihre Filme auch erregt haben – nicht nur in Zeitungskritiken, | |
sondern konkret vor Ort bei der Vorführung, wo es zu lautstarken | |
Auseinandersetzungen kam, wenn nicht sogar Prügel angedroht wurden. | |
Die kulturelle Bedeutung des Kinogehens scheint in diesen Anekdoten in | |
faszinierender Ambivalenz durch: Auf der einen Seite waren die alternativen | |
Kinos ein Treffpunkt der disparaten, ausgegrenzten Communities, die sich | |
hier unter Gleichgesinnten wohl fühlen wollten. Andererseits waren sie Orte | |
der Konfrontation, des Streits, der gesuchten Provokation. Filme durften | |
sperrig sein. „Wir haben unseren Zuschauern etwas abverlangt“, benennt es | |
eine „Filmladen“-Gründerin. | |
## Der Luxus einer Ära ohne Internet | |
Mit längeren Ausschnitten aus den Filmen Treuts, Ottingers und Veiel kommt | |
Theuer nur scheinbar ab vom Weg ihrer „Filmladen“-Dokumentation. Nicht nur, | |
dass die Filme Lust auf Wiederentdeckung machen, sie bezeugen auf ihre | |
Weise das andere Filmverständnis ihrer Zeit: Umgeben vom Luxus einer Ära | |
noch ohne Internet und ohne permanente Konkurrenz um Aufmerksamkeit, | |
forderten sie von ihrem Publikum vor allem viel Geduld. Die billigsten | |
Filme von heute mögen „besser“ aussehen, aber trauen sie sich noch so viel? | |
Der „Filmladen Kassel“, das erzählt Theuer mehr nebenbei, durchlief in der | |
Folge die übliche Entwicklung von Professionalisierung und | |
Kommerzialisierung, wie sie die meisten Alternativprojekte der 80er | |
mitmachten. „Die Einführung des Werbeblocks wurde heiß diskutiert“. Aber | |
die Zeiten änderten sich eben. Irgendwann stehen in „Das Kino sind wir“ | |
jüngere Leute vor der Kamera und erzählen mit Humor, dass das Kernpublikum | |
des „Filmladens“ inzwischen die Ü-50-Kundschaft ist. Und natürlich macht | |
man sich über die Konkurrenz von Netflix und Co Gedanken. | |
Auch gen Ende besticht Theuers Dokumentarfilm wieder mit seiner | |
Vielstimmigkeit: Was verändert sich, wenn Filme nun mehrheitlich allein im | |
heimischen Wohnzimmer geguckt werden statt draußen in der Gemeinschaft | |
eines öffentlichen Raums, fragt Gertrud Pinkus, ohne vorschnell urteilen zu | |
wollen. Eine jüngere Filmemacherin gesteht, dass sie natürlich ihren Film | |
so dreht, als ob er nur im Kino laufen könne. Aber es wäre doch furchtbar, | |
wenn er danach total verschwinden würde? Nicht nur über die anderen | |
Filmverwertungswege macht man sich Gedanken. | |
Früher sei das Kino viel politischer gewesen, heißt es pauschal. Aber | |
stimmt das? Vielleicht sind die Konflikte und Tabus heute nicht mehr so, | |
dass sich Leute daran abarbeiten wollen, stellt jemand anders in den Raum. | |
Der gesellschaftliche Platz des Kinos und die Praxis des Kinogehens, sie | |
haben sich verändert. Doch solange noch diskutiert wird, ist das Kino so | |
lebendig wie eh und je. | |
24 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Schweizerhof | |
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