# taz.de -- Digitaler Wandel im Lokaljournalismus: Im Digital der Ahnungslosen | |
> Im vogtländischen Cossengrün bekommen 300 Abonnenten die „Ostthüringer | |
> Zeitung“ nicht mehr in den Briefkasten – ein unbeliebtes Modellprojekt. | |
Bild: Hier schauen die Lesenden in die Röhre | |
GREIZ taz | Nach dem Abbiegen von der A 72 westlich Richtung Greiz werden | |
die Straßen nicht nur enger und steiler. Ihr Zustand erinnert auch noch | |
sehr an die sprichwörtlichen Straßen des Sozialismus. Als der 1990 | |
überwunden war, entschied man sich im vogtländischen Zipfel um Cossengrün | |
für die Landeszugehörigkeit zu Thüringen. „Wir sind hier Bergkarabach, | |
umgeben von Sachsen“, scherzt die couragierte 79-jährige Renate Jäger aus | |
dem Ortsbeirat noch grimmig. Mit einem bitteren Unterton scheint sie dann | |
aber die damalige Entscheidung zu bedauern: „Die Sachsen haben ihre Zeitung | |
noch!“ | |
Denn an diesem Freitagnachmittag folgen immer mehr Einwohner der | |
350-Seelen-Gemeinde einer Einladung der Ostthüringer Zeitung (OTZ) auf den | |
Platz vor der alten Schule, die ein rühriger Verein zum Gemeindezentrum | |
umgestaltet hat. Es sind überwiegend Seniorinnen und Senioren, einige | |
begleitet von ihren Kindern um die 40 oder 50. Der Aufwand ist | |
beträchtlich. Ein aufgeklappter mittelgroßer Transporter lädt zur | |
Vorführung der Digitalausgabe der Zeitung und zur Hilfe bei der | |
Installation der Apps auf Handy oder Tablet ein. Daneben haben zwei junge | |
Frauen des Thüringer Medienbildungsvereins [1][Mit Medien e. V.] ein Zelt | |
aufgebaut. In einem weiteren Zelt bietet der Cossengrün e. V. gratis | |
Thüringer Rostbratwürste und Getränke an. | |
In knallroten Jacken der OTZ stehen gleich [2][fünf aufgeschlossene | |
Mitarbeiter als Ansprechpartner] zur Verfügung. Auch Chefredakteur Nils R. | |
Kawig ist extra in den etwa 8 Kilometer südlich der Kreisstadt Greiz | |
gelegenen Ortsteil gefahren und hat den Vertriebsleiter gleich mitgebracht. | |
Sie kämpfen nicht nur um 300 bisherige Print-Abonnenten im Südraum Greiz, | |
denen man möglichst schonend eine Umstellung auf ein Digitalabo | |
vermitteln möchte. Cossengrün gilt auch als Pilotprojekt. Der Verlag möchte | |
Erfahrungen sammeln, mit welchen Risiken das Ende der gedruckten Zeitung in | |
den Briefkästen ländlicher Gebiete generell verbunden ist. | |
Davon bekommen der Chefredakteur und sein Team einen gemischten Eindruck. | |
Empörung steht neben schlichter Überforderung und Aufgeschlossenheit. „Das | |
ist net schön, was ihr hier mit uns macht“, sagt Frau Jäger an einem der | |
Stehtische der Redaktionsspitze ins Gesicht. Sie spricht im Namen der | |
älteren Bürger von Cossengrün, „die fix und fertig waren, als sie das | |
gehört haben“. Sie selbst komme ja mit dem Internet zurecht, ihr | |
94-jähriger Nachbar aber nicht mehr. Für die Hochbetagten sei das Studium | |
der Papierzeitung „oft der einzige Lebensinhalt“, jedenfalls der erste | |
Kontakt zur Außenwelt morgens nach dem Aufstehen. Und warum könne dasselbe | |
Auto, das zwischen elf und zwölf die Briefe ausfährt, nicht auch die OTZ | |
mitbringen, wenn der Verlag denn schon Kosten sparen wolle? | |
## Kostenexplosion | |
Chefredakteur Kawig hört geduldig zu, hält auch nicht zuerst mit | |
wirtschaftlichen Argumenten dagegen. In einer Mitteilung hatte die | |
Funke-Mediengruppe Anfang März von einer „Kostenexplosion“ bei Papier, | |
Produktion und Zustellung geschrieben. Besonders ländliche Räume | |
verursachten mit langen Wegen von Briefkasten zu Briefkasten hohe | |
Transportaufwendungen. Deshalb wolle man den kleinen Landkreis Greiz zu | |
einer Modellregion für die Digitalisierung des ländlichen Raumes machen. | |
In weiteren Gebieten sei das vorerst nicht geplant. Auch ein Versuch der | |
Zeitungszustellung per Drohne im Altenburger Land werde vorerst nicht | |
weiterverfolgt. Die Funke-Mediengruppe mit Sitz in Essen dominiert den | |
Thüringer Markt regionaler Qualitätszeitungen. Neben der Ostthüringer | |
Zeitung gehören auch die Thüringer Allgemeine in der Landeshauptstadt | |
Erfurt und die in Weimar erscheinende Thüringische Landeszeitung zum | |
Konzern. | |
Nils R. Kawig und das Team erklären nicht zuerst | |
Rationalisierungsüberlegungen, sondern werben mit Vorzügen der | |
Digitalausgabe. Ihr Abo kostet als E-Paper mit 29,99 Euro rund 16 Euro | |
weniger im Monat als die Papierzeitung. Die umfangreichere Wochenendausgabe | |
kann man überhaupt nur online lesen. Und die Schriftgröße lässt sich nur am | |
Bildschirm zoomen. Geduldig demonstrieren die Helfer den relativ einfachen | |
Aufruf auf Laptop, Tablet oder dem Mobiltelefon und assistieren beim | |
Ausfüllen des Ummeldeformulars. Auch an der Volkshochschule Greiz kann man | |
einen Kurs belegen. | |
## Das Blatt hieß mal Volkswacht | |
Das Bemühen kann trotzdem ins Leere laufen. „Ich habe ja nichts gegen die | |
Sache, aber ich kapier’s einfach nicht“, zuckt ein älterer Herr die | |
Achseln. Plötzlich kommt daraufhin aus dem Cossengrün e. V. die spontane | |
Idee, im Gemeindezentrum der alten Schule einen Online-Leseplatz | |
einzurichten. Aber es erscheint auch ein Bürger um die 60, der sofort die | |
App auf sein Handy installieren möchte. Und zu den ersten Besuchern des | |
kleinen Zeltdorfes zählt auch die 79-jährige Sabine Schinz, die das Blatt | |
schon abonniert hatte, als es bis 1989 noch Volkswacht hieß. „Es bleibt | |
einem halt nichts anderes übrig, wenn man mit der Zeit gehen will“, sagt | |
sie zwar, fühlt sich aber bestens vorbereitet. Denn sie besitzt zu Hause | |
schon ein Tablet, das der Verlag den Umsteigern sonst für ein Jahr gratis | |
anbietet. | |
Sie bedauert eher, dass auch Supermarktwerbung nicht mehr im Briefkasten | |
landet. Ihre Mitbürgerin Angelika Ose schimpft noch mehr darüber, dass das | |
auch für das Greizer Amtsblatt gilt. „Wir sind halt Papiermenschen“, | |
erklärt sie und fügt bitter hinzu: „Was uns hier im ländlichen Raum an | |
Teilhabemöglichkeiten weggenommen wird, ist nicht mehr tolerierbar!“ Eine | |
Kneipe und eine Kirche gebe es immerhin noch in Cossengrün. | |
Der Verlust der gewohnten Papierzeitung ordnet sich also in Emotionen ein, | |
wie sie häufig in Räumen zu finden sind, die sich abgehängt fühlen. | |
Chefredakteur Kawig weiß das und hört schon beinahe demütig zu. Er schließt | |
nicht aus, dass nach einem Kompromiss gesucht wird. Am Redaktionssitz im | |
großen Gera hingegen gibt es keine Zustellungsprobleme, aber auch eine | |
unbefriedigende Neigung zum Digitalabo, obschon hier mehr jüngere und | |
technisch versierte Abnehmer wohnen. | |
Zum Thema gebe es leider noch wenig empirische Forschung, ist von | |
Medienwissenschaftlerin Ines Engelmann an der Universität Jena zu erfahren. | |
Der Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger BDZV schaut deshalb | |
besonders aufmerksam auf diesen vogtländischen „Weckruf für die gesamte | |
Branche“. | |
In Cossengrün zeigt sich an diesem Freitag nur einer richtig wohlgelaunt. | |
Es ist der jugendliche Bratwurstverkäufer des Ortsvereins, | |
selbstverständlich ein Onliner, zumal der Breitbandausbau am Ort keine | |
Wünsche offenlässt. | |
17 Apr 2023 | |
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[2] https://www.flurfunk-dresden.de/2023/03/09/funke-stellt-otz-verteilung-im-l… | |
## AUTOREN | |
Michael Bartsch | |
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